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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 11.06.2015 - C?554/13 (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 348 ff.) - asyl.net: M22973
https://www.asyl.net/rsdb/M22973
Leitsatz:

1. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie), dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde.

2. Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien wie die Art und die Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde, im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können. Im Rahmen dieser Beurteilung ist gegebenenfalls auch jedes Kriterium maßgeblich, das die Stichhaltigkeit des Verdachts der dem betreffenden Drittstaatsangehörigen vorgeworfenen Straftat betrifft.

3. Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, keine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen. Jede Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats in diesem Bereich muss jedoch gewährleisten, dass im Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer Frist für die freiwillige Ausreise mit den Grundrechten dieses Drittstaatsangehörigen vereinbar ist.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Rückführungsrichtlinie, freiwillige Ausreise, unerlaubter Aufenthalt, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Gefahr für die öffentliche Ordnung, öffentliche Ordnung, Ausreisefrist, unerlaubte Einreise, Dokumentenfälschung, Straftat, Drittstaatsangehörige, Verdacht,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 7 Abs. 4, RL 2008/115/EG Art.6 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Zur ersten Frage

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht strafbaren Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde. Für den Fall, dass eine strafrechtliche Verurteilung erforderlich ist, möchte es zudem wissen, ob sie rechtskräftig sein muss.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den von der niederländischen Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgelegten Informationen, dass die Praxis des Staatssekretärs zur Zeit des für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Sachverhalts darin bestand, dem Ansatz zu folgen, der nunmehr im Wesentlichen im Ausländer-Runderlass dargestellt ist, der vorsieht, wie sich aus Rn. 17 des vorliegenden Urteils ergibt, dass jeder vom Leiter der Polizeibehörde bestätigte Verdacht oder jede Verurteilung im Zusammenhang mit einer nach nationalem Recht strafbaren Handlung als Gefahr für die öffentliche Ordnung anzusehen ist.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass der Begriff "Gefahr für die öffentliche Ordnung" weder in den in Art. 3 der Richtlinie 2008/115 genannten noch in den anderen Bestimmungen dieser Richtlinie auftaucht.

Nach ständiger Rechtsprechung sind Bedeutung und Tragweite von Begriffen, die das Unionsrecht nicht definiert, entsprechend ihrem Sinn nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch und unter Berücksichtigung des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der mit der Regelung, zu der sie gehören, verfolgten Ziele zu bestimmen. Stehen diese Begriffe in einer Bestimmung, die eine Ausnahme von einem Grundsatz darstellt, so sind sie außerdem eng auszulegen. Zudem können die Erwägungsgründe eines Unionsrechtsakts seinen Inhalt präzisieren (vgl. in diesem Sinne Urteil Wallentin-Hermann, C-549/07, EU:C:2008:771, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).

So ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die Richtlinie 2008/115 in Kapitel II mit der Überschrift "Beendigung des illegalen Aufenthalts" die Voraussetzungen festlegt, unter denen der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen, die sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten, endet. Die Bestimmungen über die freiwillige Ausreise dieser Drittstaatsangehörigen in Art. 7 dieser Richtlinie folgen unmittelbar auf diejenigen über die Rückkehrentscheidung in Art. 6.

Wie sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115 ergibt, hat, von Ausnahmen abgesehen, die freiwillige Erfüllung der aus der Rückkehrentscheidung resultierenden Pflicht Vorrang; dazu heißt es in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie, dass diese Entscheidung eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vorsieht (vgl. Urteil El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 36).

Nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2008/115 verlängern die Mitgliedstaaten – soweit erforderlich – die Frist für die freiwillige Ausreise unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls – wie etwa Aufenthaltsdauer, Vorhandensein schulpflichtiger Kinder und das Bestehen anderer familiärer und sozialer Bindungen – um einen angemessenen Zeitraum.

Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten nur unter besonderen Umständen, etwa wenn eine Gefahr für die öffentliche Ordnung besteht, eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen oder gar keine solche Frist vorsehen können (vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 37). Wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, muss ein Mitgliedstaat, um sich auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme wegen des Bestehens einer Gefahr für die öffentliche Ordnung berufen zu können, darlegen können, dass die betreffende Person tatsächlich eine solche Gefahr darstellt.

Ferner bezweckt Art. 7 der Richtlinie 2008/115 dadurch, dass in ihm vorgesehen ist, dass die Mitgliedstaaten im Grundsatz gehalten sind, den illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, insbesondere die Achtung der Grundrechte dieser Drittstaatsangehörigen bei der Vornahme einer Rückkehrentscheidung im Sinne von Art. 6 dieser Richtlinie zu gewährleisten. Es ist nämlich im Einklang mit Art. 79 Abs. 2 AEUV das Ziel der Richtlinie, wie sich aus deren Erwägungsgründen 2 und 11 ergibt, eine wirksame Rückkehr- und Rückübernahmepolitik festzulegen, die auf gemeinsamen Normen und rechtlichen Garantien beruht, die gewährleisten, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden (vgl. Urteil Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 38).

Daraus folgt, dass es zwar den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert, dass jedoch diese Anforderungen im Kontext der Union, insbesondere wenn sie als Rechtfertigung einer Ausnahme von einer Verpflichtung geschaffen wurden, um die Achtung der Grundrechte von Drittstaatsangehörigen bei ihrer Ausweisung aus der Union sicherzustellen, eng zu verstehen sind, so dass ihre Tragweite nicht von jedem Mitgliedstaat einseitig ohne Kontrolle durch die Organe der Union bestimmt werden kann (vgl. entsprechend Urteil Gaydarov, C-430/10, EU:C:2011:749, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Schließlich heißt es im sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2008/115, dass die Mitgliedstaaten gewährleisten sollten, dass der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen im Wege eines fairen und transparenten Verfahrens beendet wird. Ebenfalls nach diesem Erwägungsgrund und im Einklang mit allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts sollten Entscheidungen gemäß dieser Richtlinie auf der Grundlage des Einzelfalls und anhand objektiver Kriterien getroffen werden, was bedeutet, dass die Erwägungen über den bloßen Tatbestand des illegalen Aufenthalts hinausreichen sollten (vgl. Urteil Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 40). Insbesondere ist, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei allen Schritten des durch die Richtlinie geschaffenen Rückführungsverfahrens, darunter der Schritt zur Rückführungsentscheidung, in deren Rahmen sich der betreffende Mitgliedstaat zur Setzung einer Frist für die freiwillige Ausreise im Sinne von Art. 7 der Richtlinie äußern muss, zu wahren (vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:68, Rn. 41).

Damit ist festzustellen, dass ein Mitgliedstaat gehalten ist, den Begriff "Gefahr für die öffentliche Ordnung" im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 im Einzelfall zu beurteilen, um zu prüfen, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Stützt sich ein Mitgliedstaat auf eine allgemeine Praxis oder irgendeine Vermutung, um eine solche Gefahr festzustellen, ohne dass das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen und die Gefahr, die dieses Verhalten für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden, verkennt er die Anforderungen an eine individuelle Prüfung des in Rede stehenden Falles und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Daraus folgt, dass der Umstand, dass ein Drittstaatsangehöriger verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, allein nicht rechtfertigen kann, dass dieser Drittstaatsangehörige als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 anzusehen ist.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass ein Mitgliedstaat das Bestehen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Fall einer strafrechtlichen Verurteilung – auch wenn sie noch nicht rechtskräftig ist – feststellen kann, wenn diese Verurteilung zusammen mit anderen Umständen in Bezug auf die Situation der betreffenden Person eine solche Feststellung rechtfertigt. Der Umstand, dass eine strafrechtliche Verurteilung nicht rechtskräftig ist, hindert einen Mitgliedstaat daher nicht daran, sich auf die in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 vorgesehene Ausnahme zu berufen. Wie die Generalanwältin nämlich in Nr. 65 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, findet eine solche Voraussetzung im Wortlaut dieser Richtlinie keine Stütze und liefe dem mit Art. 7 der Richtlinie verfolgten Ziel, eine konkrete Frist für die freiwillige Ausreise festzulegen, zuwider, da die zu diesem Zweck vorgesehene Frist in vielen Fällen durch die Dauer nationaler gerichtlicher Verfahren überschritten werden könnte.

Zudem kann der bloße Verdacht, dass ein Drittstaatsangehöriger eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen hat, zusammen mit anderen Umständen des Einzelfalls die Feststellung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 stützen, da, wie sich aus Rn. 48 des vorliegenden Urteils ergibt, es den Mitgliedstaaten im Wesentlichen weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert, und weder Art. 7 noch eine andere Bestimmung der Richtlinie die Feststellung erlauben, dass insoweit eine strafrechtliche Verurteilung erforderlich ist.

Somit ist es im vorliegenden Fall Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob, wie sich aus den Unterlagen zu ergeben scheint, die dem Gerichtshof vorliegen, die Beurteilung des Staatssekretärs in den Fällen von Herrn Zh. und Herrn O., dass die beiden jeweils eine Gefahr für die öffentliche Ordnung der Niederlande darstellten, im Fall von Herrn Zh. allein darauf gestützt wurde, dass er wegen einer nach niederländischem Recht strafbaren Handlung verurteilt worden war, und im Fall von Herrn O. allein darauf, dass er verdächtigt worden war, eine solche Tat begangen zu haben.

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde.

Zur zweiten Frage

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien (wie die Art und die Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde) im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können.

Zunächst ist festzustellen, dass die maßgeblichen Kriterien für die Bestimmung, ob eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 vorliegt, nicht im Wesentlichen die gleichen sind wie für die Beurteilung des Vorliegens einer Fluchtgefahr im Sinne dieser Bestimmung, da sich der Begriff der Fluchtgefahr von demjenigen der Gefahr für die öffentliche Ordnung unterscheidet (zum Begriff der Fluchtgefahr im Sinne der Bestimmung vgl. u. a. Urteil Mahdi, C-146/14 PPU, EU:C:2014:1320, Rn. 65 bis 74).

Darüber hinaus ist, wie sich aus Rn. 50 des vorliegenden Urteils ergibt, bei der Beurteilung des Begriffs Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 eine Beurteilung des Einzelfalls vorzunehmen, um zu prüfen, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt.

Auch wenn es zutreffend ist, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 nicht in allen Sprachversionen identisch formuliert ist, da manche das Wort "Gefahr" und andere das Wort "Risiko" verwenden, sind diese Wörter jedenfalls unter Berücksichtigung des Sinnes von "Gefahr" und "Risiko" im gewöhnlichen Sprachgebrauch und vor dem Hintergrund des Zusammenhangs, in dem sie verwendet werden, und der in den Rn. 43 bis 49 des vorliegenden Urteils erwähnten Ziele, die mit der Regelung verfolgt werden, deren Bestandteil sie sind, im Sinne einer Bedrohung zu verstehen.

Außerdem muss eine spezifische Prüfung der dem Schutz der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 innewohnenden Interessen nicht notwendigerweise mit den Beurteilungen übereinstimmen, auf denen die strafrechtliche Verurteilung beruht (vgl. entsprechend Urteil Bouchereau, 30/77, EU:C:1977:172, Rn. 27).

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass der Begriff Gefahr für die öffentliche Ordnung, wie er in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehen ist, jedenfalls voraussetzt, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. entsprechend Urteil Gaydarov, C-430/10, EU:C:2011:749, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Daraus folgt, dass im Rahmen der Beurteilung dieses Begriffs jedes tatsächliche oder rechtliche Kriterium zur Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen maßgeblich ist, das geeignet ist, die Frage zu klären, ob sein persönliches Verhalten eine solche Bedrohung begründet.

Folglich gehören im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht strafbare Handlung begangen zu haben, oder der wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, die Art und die Schwere dieser Tat sowie der Zeitablauf seit ihrer Begehung zu den insoweit maßgeblichen Kriterien.

Zudem ergibt sich im vorliegenden Fall aus den Unterlagen, die dem Gerichtshof zur Verfügung gestellt wurden, dass sich Herr Zh. auf der Durchreise nach Kanada befand, als er von den niederländischen Behörden festgenommen wurde. Der Umstand, dass er dabei war, das Hoheitsgebiet des Königreichs der Niederlande zu verlassen, als er festgenommen wurde, kann maßgeblich sein für die Bestimmung, ob er im Zeitpunkt, in dem die Rückkehrentscheidung gegen ihn erging, eine Gefahr für die öffentliche Ordnung dieses Mitgliedstaats darstellte, was vom vorlegenden Gericht zu prüfen ist. Insoweit obliegt es ihm, jedes tatsächliche Kriterium und insbesondere das Gewicht zu bewerten, das diesem Umstand im Zusammenhang mit der Rechtssache, mit der es befasst ist, beizumessen ist.

Im Fall von Herrn O. ergibt sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen, dass der Staatssekretär über keine Belege zur Stützung der dem Betreffenden vorgeworfenen Misshandlung verfügte. Dieser Umstand ist für die Beurteilung, ob der Betreffende eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 darstellt, maßgeblich, da dieser Umstand die Stichhaltigkeit des Verdachts der Herrn O. vorgeworfenen Tat betrifft und folglich geeignet ist, die Frage zu klären, ob sein persönliches Verhalten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung der Niederlande im Zeitpunkt der gegen ihn getroffenen Rückkehrentscheidung begründete.

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien (wie die Art und Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde) im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können. Im Rahmen dieser Beurteilung ist gegebenenfalls auch jedes Kriterium maßgeblich, das die Stichhaltigkeit des Verdachts der dem betreffenden Drittstaatsangehörigen vorgeworfenen Straftat betrifft.

Zur dritten Frage

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, eine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen.

Im vorliegenden Fall führt die niederländische Regierung aus, dass die Feststellung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung in der Praxis im Allgemeinen für die zuständigen nationalen Behörden einen Grund darstelle, dem betreffenden Drittstaatsangehörigen keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, jedoch könnten sie von dieser Regel abweichen, wenn besondere Umstände der Rechtssache dies rechtfertigten; in diesem Fall werde eine Frist von 28 Tagen gewährt.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten davon "absehen [können], eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder … eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen [können]", ohne jedoch genauer zu bestimmen, wie diese Wahl zu erfolgen hat.

Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass sich aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör vor Erlass einer Rückkehrentscheidung für die zuständigen nationalen Behörden die Verpflichtung ergibt, dem Betroffenen zu ermöglichen, seinen Standpunkt zu den Modalitäten seiner Rückkehr vorzutragen, d. h. zur Ausreisefrist und dazu, ob die Rückkehr freiwillig erfolgen oder zwangsweise durchgesetzt werden soll (vgl. Urteil Boudjlida, C-249/13, EU:C:2014:2431, Rn. 51). Außerdem müssen, wie sich aus den Erwägungsgründen 2, 6, 11 und 24 der Richtlinie 2008/115 sowie ihrem Art. 5 ergibt, gemäß den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts, darunter der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, die nach dieser Richtlinie getroffenen Entscheidungen im Einzelfall verhältnismäßig sein und die Grundrechte der betreffenden Person gebührend berücksichtigen.

Aus alledem folgt, dass ein Mitgliedstaat nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon absehen darf, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Die richtige Anwendung der zu diesem Zweck in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 vorgesehenen Möglichkeit erfordert, dass im Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer solchen Frist mit den Grundrechten dieser Person vereinbar ist.

Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, inwieweit das in den Niederlanden geltende Rückführungsverfahren mit den in der vorherigen Randnummer des vorliegenden Urteils dargestellten Anforderungen vereinbar ist.

Schließlich sind die Mitgliedstaaten, wie sich aus Rn. 47 des vorliegenden Urteils ergibt, zwar im Grundsatz gehalten, den Drittstaatsangehörigen, gegen die eine Rückkehrentscheidung nach Art. 6 der Richtlinie 2008/115 ergangen ist, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, um die Achtung der Grundrechte dieser Drittstaatsangehörigen beim Erlass einer solchen Entscheidung zu gewährleisten. Aus dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 dieser Richtlinie sowie aus der allgemeinen Systematik dieses Artikels ergibt sich aber, dass die in seinem Abs. 4 vorgesehene Ausnahme dem betreffenden Mitgliedstaat auch ermöglichen soll, dem Schutz seiner öffentlichen Ordnung Rechnung zu tragen.

Für den Fall, dass sich auf der Grundlage der Prüfung, deren Anforderungen im Rahmen der ersten und der zweiten Vorlagefrage erläutert worden sind, erweist, dass der Betreffende eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, sieht Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 folglich die Möglichkeit vor, dem Betreffenden keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren. Diese Möglichkeit ist die Folge des Bestehens dieser Gefahr, und daher kann – sofern die Achtung der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts und der Grundrechte des Betreffenden gewährleistet ist – der betreffende Mitgliedstaat von ihr Gebrauch machen, ohne dass eine erneute Prüfung der Kriterien, die für die Feststellung des Bestehens der Gefahr als maßgeblich erachtet wurden, erforderlich ist.

Gleichwohl steht es dem betreffenden Mitgliedstaat frei, diese Kriterien zu berücksichtigen, die u. a. von Bedeutung sein können, wenn dieser Mitgliedstaat beurteilt, ob eine Frist von weniger als sieben Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist.

Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, keine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen. Jede Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats in diesem Bereich muss jedoch gewährleisten, dass in jedem Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer Frist für die freiwillige Ausreise mit den Grundrechten dieses Drittstaatsangehörigen vereinbar ist. [...]