OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.04.2015 - 18 E 687/13 (= ASYLMAGAZIN 11/2015, S. 393 ff.) - asyl.net: M23138
https://www.asyl.net/rsdb/M23138
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen für die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings.

Schlagwörter: anerkannter Flüchtling, Ausweisung, Straftat, Unionsrecht, Qualifikationsrichtlinie, Wiederholungsgefahr, Aufenthaltsbeendigung, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Genfer Flüchtlingskonvention,
Normen: RL 2004/83/EG Art. 24 Abs. 1, RL 2004/83/EG Art. 21 Abs. 3, RL 2004/83/EG Art. 2,
Auszüge:

[...]

Es ist fraglich, ob die Ausweisung des Klägers, der nach Aufhebung des Widerrufsbescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 8. Februar 2013 durch das rechtskräftige Urteil des Verwaltungsgerichts N. vom 26. Juni 2014 weiterhin anerkannter Flüchtling (und Asylberechtigter) ist, rechtmäßig ist.

Nach nationalem Recht dürfte die Ausweisung aus den Gründen des Beschlusses des Verwaltungsgerichts allerdings nicht zu beanstanden sein. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht die Wiederholungsgefahr zutreffend auch aus dem Umstand abgeleitet, dass sich der Kläger in der Vergangenheit weder durch eine Strafaussetzung zur Bewährung noch durch verbüßte Freizeit- und Dauerarreste von der Begehung weiterer schwerer Straftaten abhalten ließ (vgl. hierzu auch die Strafzumessungserwägungen im Urteil des Landgerichts C. vom 23. Mai 2012 S. 24 UA) und es selbst in der Haft noch zu körperlichen Auseinandersetzungen mit Mitgefangenen gekommen ist. Dass es sich bei dem Jugendarrest um ein Zuchtmittel handelt, das nicht die Rechtswirkungen einer Strafe hat, ändert nichts an der Tatsache, dass sich der Kläger nicht einmal durch eine der Haft ähnliche Einschließung in der Vergangenheit hat beeindrucken lassen. Im Übrigen wird auch mit der Beschwerde weder in Abrede gestellt, dass es selbst während der derzeit verbüßten Strafhaft zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen ist, noch werden Umstände aufgezeigt, die auf einen nachhaltigen Persönlichkeitswandel beim Kläger hindeuten könnten. Im Gegenteil hat die Vollzugskonferenz am 13. September 2012 im Rahmen der Feststellung des Förderungs- und Erziehungsbedarfs ausgeführt, dass der Kläger wenig selbstkritisch wirke. Eine grundlegende Änderung der beruflichen Situation, die zumindest als ein Gesichtspunkt eine dem Kläger günstigere Prognose ermöglichen könnte, ist ebenfalls nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt der Hinweis des Klägers auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1983 - 1 C 99.78 - keine abweichende Bewertung. Zum einen erging das Urteil noch zu der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Nr. 2 AuslG in der ab dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung, zum anderen beruht es ersichtlich auf den besonderen Umständen des dortigen Einzelfalls.

Es spricht allerdings Einiges dafür, dass die Ausweisung des Klägers Auswirkungen auf die in der Richtlinie 2004/83/EG bzw. der Nachfolgerichtlinie 2011/95/EU geregelte Rechtsstellung eines Flüchtlings hat und daher nur unter den in der Richtlinie genannten Voraussetzungen zulässig ist. Ob die Ausweisung hier den unionsrechtlichen Vorgaben genügt, ist indes offen. Dabei dürfte es keiner Entscheidung bedürfen, welche der beiden Richtlinien in zeitlicher Hinsicht im Fall des Klägers zur Anwendung gelangt, da sich die vorliegend entscheidungserheblichen Vorschriften inhaltlich nicht geändert haben dürften.

Die Ausweisung eines Flüchtlings ist in der Richtlinie 2004/83/EG nicht geregelt. Die Richtlinie legt - abgesehen von dem bereits im Vorfeld eingreifenden Ausschluss von der Anerkennung nach Art. 12 - fest, unter welchen Voraussetzungen die einem Flüchtling zuerkannte Rechtsstellung aberkannt, beendet oder die Verlängerung abgelehnt (Art. 14 Abs. 4) bzw. er zurückgewiesen werden kann (Art. 21). Dabei dürften die Anforderungen an eine Zurückweisung nach Art. 21 mit denjenigen des Art. 14 Abs. 4 übereinstimmen; beide sind Art. 33 Abs. 2 GFK und den darin enthaltenen Ausnahmen vom Refoulement-Verbot des Art. 33 Abs. 1 GFK nachgebildet. Eine Ausweisung führt allerdings nicht unmittelbar zu einer Aufenthaltsbeendigung und damit zu einer Zurückweisung, und speziell im Falle des Klägers, der aufgrund seines fortbestehenden Flüchtlingsstatus nicht abgeschoben werden darf, auch nicht mittelbar. Jedoch gewährt Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83/EG anerkannten Flüchtlingen einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, der nur unter den in der Richtlinie geregelten Voraussetzungen eingeschränkt werden kann. In das in Art. 24 Abs. 1 verankerte Recht dürfte aber die Ausweisung eingreifen. Denn sie führt nach § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG zum Erlöschen eines erteilten Aufenthaltstitels und begründet nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG ein grundsätzliches Verbot der Neuerteilung eines Aufenthaltstitels (vgl. auch § 25 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Zwar ermöglicht § 25 Abs. 5 AufenthG abweichend von § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG die Erteilung eines Aufenthaltstitels. Dem dürfte in Fallkonstellationen der vorliegenden Art jedoch regelmäßig entgegenstehen, dass die allgemeine Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG nicht erfüllt ist und weder ein Ausnahmefall anzunehmen sein dürfte noch das der Ausländerbehörde nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG eröffnete Ermessen dahingehend reduziert ist, dass sich allein ein Absehen von der genannten Regelerteilungsvoraussetzung als rechtmäßig erwiese (vgl. hierzu Burr in GK-AufenthG, Stand September 2012, § 25 Rn. 183 f.).

Der einem anerkannten Flüchtling nach Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83 zustehende Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis kann zum einen unter den in dieser Vorschrift selbst enthaltenen Voraussetzungen eingeschränkt werden und zum anderen nach Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 RL 2004/83, wie der in Art. 24 Abs. 1 enthaltene Verweis "unbeschadet" deutlich macht. Damit dürften nach nationalem Recht schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, welche die Ausweisung eines anerkannten Flüchtlings rechtfertigen, nur im Falle des Vorliegens der Voraussetzungen der vorgenannten Richtlinienbestimmungen gegeben sein.

Die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 RL 2004/83/EG dürften hier nicht vorliegen. Eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats im Sinne des Art. 21 Abs. 2 Buchst. a) dürfte der Kläger nicht darstellen. Insoweit wird offen bleiben können, ob der Begriff der Sicherheit des Mitgliedstaats allein die innere und äußere Sicherheit des Staates erfasst, zu der zum einen der Bestand des Staates und das Funktionieren seiner Einrichtungen und wichtigen öffentlichen Dienste sowie das Überleben der Bevölkerung zählen und zum anderen die Sicherheit der auswärtigen Beziehungen einschließlich militärischer Interessen und das friedliche Zusammenleben der Völker (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 23. November 2010 - C-145/09 [Tsakouridis] -, juris, BVerwG, Urteil vom 30. März 1999 - 9 C 31.98 -, InfAuslR 1999, 470, OVG NRW, Beschluss vom 20. August 2009 - 18 A 2263/08 -, juris m.w.N.), oder ob - ungeachtet der insoweit eröffneten Möglichkeit eines Vorgehens nach Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) - auch im vorliegenden Zusammenhang gemeinkriminelle Akte hierunter fallen können, wenn es sich um Straftaten handelt, die in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV aufgeführt sind (vgl. zu Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38: EuGH, Urteile vom 22. Mai 2012 - C-348/09 [I.] - und vom 23. November 2010 - C-145/09 [Tsakouridis] -, jew. juris).

Denn der Kläger erfüllt die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 Buchst. a) unter keinem der beiden Gesichtspunkte.

Ob die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) vorliegen, ist fraglich. Hiernach kann ein Mitgliedstaat einen Flüchtling zurückweisen, wenn er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. Die Konkretisierung des Begriffs der "besonders schweren Straftat" dürfte dabei in Anlehnung an die Rechtsprechung zu der ebenfalls Art. 33 Abs. 2 GFK sowie Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/83/EG nachgebildeten Ausschlussvorschrift des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 3 Satz 1 AuslG) vorzunehmen sein (vgl. zu Art. 21 Abs. 2 Buchst. a) RL 2004/83/EG: BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 8.11 -, InfAuslR 2012, 380).

Hierzu hat das Bundesverwaltungsgericht zum einen - allerdings ausdrücklich bezogen auf den in § 51 Abs. 3 Satz 1 AuslG und später unverändert in § 60 Abs. 8 AufenthG verwendeten Begriff der "Freiheitsstrafe" - entschieden, dass Verurteilungen zu einer Jugendstrafe, wie sie im Fall des Klägers erfolgt sind, ungeachtet der Höhe bereits begrifflich nicht von der Ausschlussvorschrift erfasst werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. November 2000 - 9 C 4.00 -, InfAuslR 2001, 191).

Zum anderen hat das Bundesverwaltungsgericht unter Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Erwägung, dass § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG und Art. 14 Abs. 4 Buchst. b) RL 2004/83/EG sogar die Möglichkeit eines Widerrufs der Flüchtlingsanerkennung vorsähen, ausgeführt, dass § 60 Abs. 8 AufenthG restriktiv auszulegen ist und der Widerruf der Flüchtlingsgewährung gegenüber kriminellen Flüchtlingen nur als ultima ratio in Betracht kommen könne, wenn ihr kriminelles Verhalten die Schwelle der besonders schweren Straftat überschreitet. Daher kommt es auch nicht auf die abstrakte Strafandrohung, sondern auf die konkret verhängte Freiheitsstrafe an. Denn die Mindeststrafenregelung soll sicherstellen, dass der Entzug des Flüchtlingsstatus nur gegenüber besonders gefährlichen Tätern in Betracht kommt. Nur sie bedeuten eine Gefahr für die Allgemeinheit, die gegenüber dem Ziel des Flüchtlingsschutzes im Ausnahmefall überwiegen kann, nicht aber solche Täter, die sich zwar eines mit hoher Strafandrohung bewehrten Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht haben, dabei aber im unteren oder mittleren Bereich der Strafbarkeit geblieben sind, so dass sie eine Freiheitsstrafe von weniger als drei Jahren verwirkt haben. Ist ein Flüchtling rechtskräftig zu einer mindestens dreijährigen (Einzel-)Freiheitsstrafe verurteilt worden, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls weiter zu prüfen, ob diese Verurteilung die Annahme rechtfertigt, dass er tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG darstellt. Aus demselben Grund reicht es nicht aus, wenn ein Täter nur deshalb zu einer mindestens dreijährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden ist, weil mehrere von ihm begangene Taten geringeren oder mittleren Gewichts im Rahmen eines einzigen Strafverfahrens oder - wenn eine frühere Strafe noch nicht vollstreckt ist - im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung abgeurteilt worden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 17.12 -, ZAR 2013, 301).

Die Vorschrift des § 60 Abs. 8 AufenthG ist vorliegend allerdings nicht unmittelbar anwendbar, so dass fraglich sein dürfte, ob der generelle Ausschluss von Straftätern, die zu einer Jugendstrafe verurteilt worden sind, auch im Rahmen der Auslegung des Begriffs der schwerwiegenden Gründe im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2 Buchst. b) RL 2004/83/EG gilt. Der Richtlinienbestimmung selbst ist ebenso wenig wie Art. 33 Abs. 2 GFK eine dahingehende Beschränkung zu entnehmen. Straftaten, die zu einer Verurteilung zu einer Jugendstrafe führen, dürften auch nicht allein deshalb von vornherein dem Begriff der besonders schweren Straftat in Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) entzogen sein, weil die Täter entweder Jugendliche oder Heranwachsende sind. Zwar dürfte es dem nationalen Gesetzgeber mit Blick darauf, dass Art. 21 Abs. 2 die Zurückweisung in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt, wohl nicht verwehrt gewesen sein, insoweit dem Flüchtling günstigere Vorschriften zu erlassen (vgl. auch Art. 3 RL 2004/83/EG) (vgl. hierzu Nds. OVG, Urteil vom 11. August 2010 - 11 LB 405/08 -, juris).

Ob die nationale Vorschrift jedoch entsprechend auch in dem Fall anzuwenden ist, in dem - wie hier - mangels Umsetzung durch den nationalen Gesetzgeber die Richtlinienvorschrift unmittelbar Anwendung findet, dürfte zweifelhaft sein.

Die Frage, ob die Straftaten des Klägers unter Berücksichtigung der Wertungen des Bundesverwaltungsgerichts in dem vorgenannten Urteil vom 31. Januar 2013 die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) erfüllen, ist einer Prüfung im Hauptsacheverfahren vorbehalten. Insoweit dürfte zu berücksichtigen sein, dass in die Verhängung einer Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und sechs Monaten durch das Landgericht C. mit Urteil vom 23. Mai 2012 eine noch nicht vollstreckte Strafe von einem Jahr und vier Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts C. vom 20. April 2010 einbezogen war. Gegenstand des Strafverfahrens vor dem Landgericht waren zwei weitere Taten, so dass sich die verhängte Einheitsjugenstrafe auf insgesamt drei Taten bezieht. Jedoch dürfte weiter zu berücksichtigen sein, dass im Rahmen der Strafzumessung nicht allein die Schwere der Schuld berücksichtigt worden ist (vgl. UA S. 23). Bei den beiden Taten vom 16. Februar 2012 und vom 19./20. Februar 2012 handelte es sich zudem nach Auffassung des Landgerichts um auch im Einzelfall schwer wiegende Verbrechen (UA S. 23).

Sollten die Straftaten des Klägers die Voraussetzungen des Art. 21 Abs. 2 Buchst. b) nicht erfüllen, so dürfte anschließend zu prüfen sein, ob sich die Ausweisung bzw. der damit einhergehende Verlust des Aufenthaltstitels im Hinblick auf Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83 als rechtmäßig erweist. Insoweit dürfte eine Prüfung nicht etwa deshalb entbehrlich sein, weil Art. 24 Abs. 1 ein höheres Schutzniveau enthielte als Art. 21 Abs. 2 (vgl. VGH BW, (Vorlage-)Beschluss vom 27. Mai 2013 - 11 S 2336/12 -, juris; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. September 2014 - C-373/13 -, abrufbar unter www. curia.europa.eu; a.A. wohl BVerwG, Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 8.11 -, a.a.O.; s.a. Beschluss vom 8. Oktober 2012 - 1 B 18.12 -, juris).

Insbesondere trifft die Auffassung des Klägers nicht zu, der Begriff der "zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung" (Art. 24 Abs. 1 RL 2004/83) bzw. - insoweit dürfte es sich, wie die englischen Textfassungen nahelegen, um lediglich redaktionelle Korrekturen der deutschen Fassung handeln - der "zwingenden Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung" (Art. 24 Abs. 1 der Nachfolgerichtlinie 2011/95/EU) sei so zu verstehen wie die in Art. 28 Abs. 3 der für Unionsbürger geltenden Richtlinie 2004/38/EG verwandte Formulierung (so aber Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht in der anwaltlichen Praxis, 4. Auflage 2011, § 7 Rn. 541 und 217 ff., ders. in: Handbuch zum Flüchtlingsschutz, 2. Auflage 2012 Kapitel 19 § 55 Rn. 16 - anders aber, und wohl zutreffend, ders. in Rn. 13).

Hiergegen spricht nachdrücklich, dass eine Verbindung zwischen den beiden Richtlinien nicht erkennbar ist: Sie beruhen auf unterschiedlichen Rechtsgrundlagen (Art. 63 EGV einerseits und Art. 12, 18, 40, 44, 52 EGV, der jetzige Zweite Teil des AEUV, andererseits), dienen unterschiedlichen Zielen und erfassen unterschiedliche Personenkreise. Zudem sind die Vorschriften nicht identisch. Während Schutzgut des Art. 28 Abs. 3 der Unionsbürgerrichtlinie allein die öffentliche Sicherheit ist, erfasst Art. 24 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie auch die öffentliche Ordnung (vgl. auch VGH BW, (Vorlage-)Beschluss vom 27. Mai 2013 - 11 S 2336/12 -, a.a.O.; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. September 2014 - C-373/13 -, a.a.O.).

Allein der vom Verwaltungsgericht N. in dem von dem Kläger zitierten Urteil hervorgehobene Umstand, dass beide Richtlinien (allerdings in einem unterschiedlichen Verfahren und veröffentlicht in

unterschiedlichen Amtsblättern) am 29. April 2004 verabschiedet worden sind, rechtfertigt erkennbar nicht die Annahme eines bestehenden Sachzusammenhangs.

Entgegen der im Urteil vom 22. Mai 2012 - 1 C 8.11 - vertretenen Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts dürfte Art. 24 Abs. 1 auch nicht dahin zu verstehen sein, dass bei Vorliegen zwingender Gründe den Mitgliedstaaten die Versagung des Aufenthaltstitels verbindlich vorgegeben, im Fall des Art. 21 Abs. 3 i.V.m. Abs. 2, bei Anwendung der Gefahrenschwelle der schwerwiegenden Gründe jedoch nur fakultativ sei. Zwar trifft es im Grundsatz zu, dass der Begriff "zwingend" die Steigerung von "schwerwiegend" ist. Jedoch unterliegt schon die Verwendung des Begriffes "schwerwiegend", den das Bundesverwaltungsgericht Art. 33 Abs. 2 GFK entnimmt und in den Art. 21 Abs. 2 einfließen lässt und anstelle des dort verwandten Begriffes der "stichhaltigen" Gründe als Gefahrenschwelle versteht, Zweifeln. Die verbindlichen Sprachfassungen der GFK sind die englische und die französische (vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. September 2014 - C-373/13 -, a.a.O, Rn. 79).

Der in der englischen Textfassung des Art. 33 Abs. 2 GFK, wie auch des Art. 21 Abs. 2 RL 2004/83/EG verwendete Begriff “reasonable Grounds” heißt übersetzt "vernünftig, verständlich, vertretbar, plausibel, einleuchtend". Ähnliches gilt für den in der GFK wie auch in Art. 21 Abs. 2 der Richtlinie verwendeten französischen Begriff "raisons sérieuses", der übersetzt bedeutet "ernsthaft, ernstzunehmend, seriös". Damit spricht aber einiges dafür, dass mit diesem Begriff keine Gefahrenschwelle, sondern - ebenso wie mit dem in Art. 21 Abs. 2 Buchst. a) RL 2004/38/EG verwendeten Begriff der stichhaltigen Gründe - das Maß der Überzeugungsbildung angesprochen ist.

Hinzu kommt, dass die "schwerwiegenden" bzw. "stichhaltigen" Gründe sich sowohl in Art. 33 Abs. 2 GFK als auch in Art. 21 Abs. 2 Buchst. a) nur auf die Gründe der öffentlichen Sicherheit beziehen, Schutzgut des Art. 24 Abs. 1 jedoch auch Gründe der öffentlichen Ordnung sind. Jedenfalls dies dürfte die Annahme, Art. 24 Abs. 1 enthalte höhere Anforderungen als Art. 21, als wenig naheliegend erscheinen lassen. Sinn und Zweck der Vorschriften dürften ebenfalls nicht für das Verständnis des Bundesverwaltungsgerichts sprechen. Es erscheint kaum nachvollziehbar, aus welchem Grunde allein die Versagung eines Aufenthaltstitels an höhere Voraussetzungen geknüpft sein soll, als die Zurückweisung eines Flüchtlings (vgl. auch VGH BW, (Vorlage-)Beschluss vom 27. Mai 2013 - 11 S 2336/12 -, a.a.O.; Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 11. September 2014 - C-373/13 -, a.a.O.).

Auch die Struktur der Vorschrift selbst führt nicht zwingend auf den vom Bundesverwaltungsgericht gezogenen Schluss. Art. 24 Abs. 1 begründet einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels und nennt die Gründe, bei deren Vorliegen der Anspruch nicht besteht. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass die Mitgliedstaaten in diesem Falle auch verpflichtet, statt nur berechtigt, wären, den Aufenthaltstitel zu versagen. Wortlaut und Aufbau des Art. 24 Abs. 1 - wie auch des Abs. 2, und insbesondere des den Anspruch auf Erteilung eines Reiseausweises regelnden Art. 25 Abs. 1 und 2 - deuten zudem darauf hin, dass die Vorschrift an die identisch strukturierte und formulierte Vorschrift des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GFK angelehnt sein dürfte. Die Beispielsfälle, die zur Begründung für die Aufnahme dieser Bestimmung in die GFK angeführt werden (Verhinderung einer Ausreise in das Ausland mit dem Ziel, sich anhängigen Strafverfahren zu entziehen, oder um die Beteiligung an grenzüberschreitendem illegalem Handel zu unterbinden) (vgl. UNHCR, Zum Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises, ZAR 2003, 330 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2005 - 1 C 36.04 -, juris Rn. 22), lassen aber den Schluss zu, dass der Versagungsgrund der zwingenden Gründe der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung spezifischen Gefahren begegnen will, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zweck und der damit verbundenen Funktion des Aufenthaltstitels bzw. Reiseausweises stehen. Diese Gefahren können im Einzelfall, müssen aber, wie insbesondere das erste Beispiel zeigt, nicht die Gefahrenschwelle des Art. 21 Abs. 2 erreichen. Voraussetzung für ein Vorgehen nach Art. 24 Abs. 1 dürfte vor diesem Hintergrund sein, dass gerade der Besitz eines Aufenthaltstitels Gefahren für die genannten Schutzgüter in sich birgt. Ob dies vorliegend - etwa im Hinblick auf die Möglichkeit der visumfreien Einreise in andere Mitgliedstaaten bei Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Aufenthaltstitels nach Art. 21 SD ?- der Fall ist, bedarf einer Klärung im Hauptsacheverfahren. Insoweit dürfte es im Übrigen sachgerecht sein, zunächst die Entscheidung des EuGH in dem Verfahren C-373/13 abzuwarten.

Mit Blick auf die Behauptung des Klägers, die Ausweisung sei auf generalpräventive Erwägungen gestützt, sei darauf hingewiesen, dass sich hierfür - außer den ersichtlich von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts übernommenen generellen Erwägungen zur Zulässigkeit von Ausweisungen gegenüber Personen, die nicht ausreisen können - keine Anhaltspunkte finden. [...]