OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11.06.2015 - 11 B 26.14 (= ASYLMAGAZIN 11/2015, S. 286 ff.) - asyl.net: M23183
https://www.asyl.net/rsdb/M23183
Leitsatz:

Eine aufenthaltsbeendende Maßnahme kann unverhältnismäßig im Sinne von Art. 8 EMRK sein, wenn bei einer jungen, in Deutschland geborenen und aufgewachsene Frau türkischer Staatsangehörigkeit eine ausreichende wirtschaftliche Integration nicht besteht, aber ansonsten von einer "Verwurzelung" auszugehen ist. Davon ist insbesondere auszugehen, wenn die junge Frau ohne (gesicherte) Unterstützung durch Verwandte oder Freunde vor Ort keine realistisch erscheinende Möglichkeit einer Integration im Land ihrer Staatsangehörigkeit hat. Ein solcher Fall gebietet das Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und reduziert zugleich das durch § 34 Abs. 3 AufenthG eröffnete Ermessen dahingehend, dass eine andere Entscheidung als die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen ist.

Schlagwörter: Sicherung des Lebensunterhalts, Integration, in Deutschland geborene Kinder, Ermessensreduzierung auf Null, eigenständiges Aufenthaltsrecht, Sozialleistungen, Achtung des Privatlebens, Aufenthaltsrecht der Kinder, wirtschaftliche Integration, aufenthaltsbeendende Maßnahmen,
Normen: AufenthG § 8 Abs. 1, AufenthG § 7, AufenthG § 34 Abs. 3, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Gem. § 34 Abs. 3 AufenthG kann eine einem Kind erteilte, nach Eintritt der Volljährigkeit gem. § 34 Abs. 2 AufenthG zu einem eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrecht gewordene Aufenthaltserlaubnis verlängert werden, solange die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis und der Erlaubnis zum Daueraufenthalt - EU noch nicht vorliegen.

Auf diesen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Verlängerung finden gem. § 8 Abs. 1 AufenthG die auch für die Erteilung geltenden Vorschriften und damit insbesondere die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen gem. § 5 AufenthG Anwendung. Von diesen ist im Fall der Klägerin allein die sich aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG ergebende Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts auch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat - unstreitig - nicht erfüllt. Denn die Klägerin ist aktuell und auf absehbare Zeit nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt aus eigener Erwerbstätigkeit oder sonstigen, gem. § 2 Abs. 3 AufenthG unschädlichen Mitteln zu bestreiten. Sie bezieht als Mitglied einer auch ihre Eltern und Geschwister umfassenden Bedarfsgemeinschaft ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB II und es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass sich dies alsbald ändern könnte. Denn sie verfügt weder über eine abgeschlossene Berufsausbildung noch hat sie eine solche begonnen oder ernsthaft in Aussicht, und sie hat bisher auch keine ohne Ausbildung mögliche Erwerbstätigkeit nachhaltig und für längere Zeit ausgeübt.

Die besonderen Umstände ihres Falles gebieten hier jedoch ein Absehen von dieser Regelerteilungsvoraussetzung. Eine solche Ausnahme - deren Vorliegen der vollen gerichtlichen Nachprüfung unterliegt - ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 –, zit. nach juris Rn 10 ff., 13; Urteil vom 26. August 2008 - 1 C 32.07 -, zit. nach juris Rn. 27) dann anzunehmen, wenn besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder wenn die Erteilung des Aufenthaltstitels aufgrund von Verfassungsrecht (etwa mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 GG) oder Völkervertragsrecht (etwa aus Art. 8 EMRK; zur notwendigen Beachtung der Gewährleistungen der EMRK bei der Auslegung und Anwendung ausländerrechtlicher Vorschriften vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, zit. nach juris Rn 37) geboten ist. Letzteres ist hier der Fall.

Gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs, und gem. Art. 8 Abs. 2 EMRK ist ein Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Im Anschluss an die einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat das Bundesverfassungsgericht (z.B. Beschlüsse v. 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, zit. nach juris Rn 33 ff., und v. 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, zit. nach juris Rn 18 ff.) ausgeführt, dass das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen umfasse, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv seien und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukomme.

Davon ausgehend unterliegt es hier keinem ernstlichen Zweifel, dass die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Fall der in Deutschland geborenen, aufgewachsenen und nahezu ihr gesamtes bisheriges Leben rechtmäßig im Bundesgebiet wohnhaften Klägerin einen Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Privatleben darstellen würde. Dieser ist für den hier in Rede stehenden Fall fehlender Lebensunterhaltssicherung aus eigenen bzw. unschädlichen öffentlichen Mitteln zwar gesetzlich vorgesehen und dient mit dem Zweck der Abwehr vermeidbarer Belastungen der öffentlichen Haushalte auch dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK ausdrücklich gebilligten Ziel des Schutzes des wirtschaftlichen Wohls des Landes. Der in der Versagung des Aufenthaltstitels liegende Eingriff in das Privatleben der Klägerin ist im konkreten Fall jedoch nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendig."

Die damit vorausgesetzte Verhältnismäßigkeit einer in das geschützte Privatleben eines Ausländers eingreifenden aufenthaltsbeendenden Maßnahme ist unter Berücksichtigung der in der Rechtsprechung des EGMR ursprünglich im Hinblick auf Ausweisungen wegen strafbaren Verhaltens entwickelten, auf Fälle der Ablehnung der Verlängerung eines Aufenthaltstitels aber entsprechend angewendeten (EGMR, Urteil v. 11. Juni 2013 - 52.166/09 -, InfAuslR 2014, 176, 177 f.) Grundsätze und Kriterien (wie das Alter des Betroffenen und der Zeitpunkt seiner Einreise, die Dauer des Aufenthalts und dessen Rechtmäßigkeit, das Verhalten des Betroffenen und die Stabilität seiner sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Bestimmungsland) anhand des konkreten Falls zu prüfen und erfordert eine Betrachtung und entsprechend konkrete Gewichtung und Abwägung der persönlichen Umstände des betroffenen Ausländers sowie des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung in ihrer Gesamtheit (BVerfG, Beschluss v. 10. Mai 2007 - 2 BvR 304/07 -, zit. nach juris Rn 41). Zur Herleitung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ist danach ein durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen charakterisiertes Privatleben erforderlich, das nur noch im Bundesgebiet geführt werden kann und für das es einerseits auf die Integration des Ausländers in Deutschland, andererseits auf die Möglichkeit zur (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit ankommt (dazu und zum Folgenden: BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392/10 -, zit. nach juris Rn 20 f.). Diesem auf die Erfassung und gewichtende Gesamtbewertung der individuellen Lebensverhältnisse des Ausländers angelegten Prüfprogramm wird ein einseitiges Abstellen auf ein Fehlen wirtschaftlicher Bindungen infolge einer misslungenen beruflichen Integration nicht gerecht. Ebenso wenig genügt es, sich etwa hinsichtlich der Möglichkeit der (Re-)Integration im Staat der Staatsangehörigkeit auf globale Erkenntnisse zu stützen, deren konkrete Bedeutung für den Betroffenen nicht ermittelt worden ist.

In Anwendung dieser Maßstäbe erweist sich die Ablehnung der begehrten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis hier als unverhältnismäßiger und deshalb "nicht gebotener" Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht der Klägerin auf Achtung ihres Privatlebens.

Zwar ist mit dem Beklagten festzustellen, dass die Klägerin im Bundesgebiet nicht erkennbar wirtschaftlich integriert ist. Sie geht keiner auch nur geringfügigen Erwerbstätigkeit nach, sondern lebt als Mitglied der aus ihr, ihren Eltern und Geschwistern bestehenden Bedarfsgemeinschaft von - wegen Einkommens des Vaters und ihrer jüngeren Schwester zuletzt nur noch ergänzenden - ALG II-Leistungen. Sie verfügt zwar über eine "dem erweiterten Hauptschulabschluss gleichwertige" Schulbildung. Eine Berufsausbildung hat sie im Anschluss jedoch nicht begonnen. Verschiedene Berufsvorbereitungs- bzw. -qualifizierungsmaßnahmen führten bisher zu keinem nachhaltigen Erfolg und obwohl der Beklagte sie erstmals bereits im Juli 2011 darauf hingewiesen hatte, dass die Erteilung ihres eigenständigen, vom Familiennachzug unabhängigen Aufenthaltsrechts in der Regel eine Lebensunterhaltssicherung voraussetze und er bei gleichbleibender Sachlage nicht mehr bereit sei, die Aufenthaltserlaubnis weiterhin zu verlängern, sind ernsthafte und nachhaltige Bemühungen der Klägerin um eine Berufsausbildung oder eine lebensunterhaltssichernde Erwerbstätigkeit auch für die folgenden Jahre nicht erkennbar. Soweit die Klägerin, die am 29. Juni 2015 bereits das 24. Lebensjahr vollenden wird und damit inzwischen auch am Ende der in der angeführten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen (Urteil v. 9. August 2001 - 1 StR 211/01 -, zit. nach juris Rn 36) anerkannten Phase der "fließenden Übergänge zum Erwachsenenstatus" steht, zu Protokoll der mündlichen Verhandlung auf diesbezügliche Nachfragen des Senats lediglich erklärt hat, sie habe - wie sie zunächst angegeben hat: "seit zwei Monaten" bzw. auf Nachfrage ihres Prozessbevollmächtigten: "auch früher schon" - Bewerbungen geschrieben, auf die sie "bislang" keine Antworten erhalten habe, gibt dies ebenso wenig Anlass zu einer günstigeren Einschätzung ihrer wirtschaftlichen Verselbständigung wie der Hinweis ihres Prozessbevollmächtigten auf eine weitere, wenige Tage vor dem Termin über sein Büro versandte Bewerbung.

Anderes gilt indes für die persönlichen und sozialen Beziehungen der Klägerin. Sie ist in Deutschland geboren, zur Schule gegangen und hat mit Ausnahme zweier kurzer Zeiträume im Kleinkindalter ihr gesamtes Leben hier verbracht. Angesichts ihres nahezu vollständig in Berlin geführten bisherigen Lebens liegen dort unzweifelhaft auch das Zentrum ihrer persönlichen Beziehungen und ihr gesamtes soziales Umfeld. Die Klägerin hat zwar noch keine eigene Familie gegründet, sondern lebt - wie sie in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat - noch immer mit ihren Eltern und ihren jüngeren Geschwistern zusammen. Das ihr von der Berufsschule erteilte Abschlusszeugnis weist für das Fach Deutsch/Kommunikation die Note 3 - befriedigend - aus und der Senat konnte sich in der mündlichen Verhandlung selbst davon überzeugen, dass sie gut deutsch spricht. Sie hat zwar keine "besonderen" sozialen Integrationsleistungen - wie etwa ein vom Beklagten angesprochenes besonderes gesellschaftliches Engagement in einem gemeinnützigen Verein oder einer politischen Partei - aufzuweisen. Dies ist indes unschädlich. Derartige Aktivitäten mögen den sozialen Beziehungen zwar zusätzliches Gewicht verleihen. Sie sind aber keine zwingende Voraussetzung für eine auch soziale Einbindung, wenn - wie hier - das gesamte soziale Umfeld der Klägerin sich im Bundesgebiet befindet. Hinzu kommt, dass die Klägerin bisher - soweit bekannt - auch durchaus in der Lage war, den sich aus der Rechtsordnung der Bundesrepublik ergebenden Anforderungen zu genügen. Sie ist strafrechtlich nicht in Erscheinung getreten und sie hat sich immer rechtmäßig hier aufgehalten. Bis zur Ablehnung ihres verfahrensgegenständlichen, rechtzeitig beantragten Verlängerungsantrags verfügte sie über die erforderlichen Aufenthaltstitel. Der Umstand, dass sie sich bisher als unfähig zur selbständigen Sicherung des Lebensunterhalts erwiesen hat, kann einer danach anzunehmenden sozialen Verwurzelung schon deshalb nicht entgegengehalten werden, weil er nach dem dargelegten Prüfprogramm im Kontext der wirtschaftlichen Integration eigenständig zu prüfen und zu bewerten ist.

Die Chancen einer erfolgreichen (nicht Re-, sondern erstmaligen) Integration der Klägerin in der Türkei als dem Land ihrer Staatsangehörigkeit stellen sich unter den bekannten Umständen als äußerst ungünstig dar. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin moniert nicht zu Unrecht, dass der vom Beklagten verwendete Begriff des "Heimatlandes" auf Fälle hier geborener und aufgewachsener Ausländer nicht passt, denn seine Verwendung könnte durchaus den Verdacht einer Verkennung der mit einer Aufenthaltsbeendigung für diese Ausländer verbundenen besonderen Schwierigkeiten begründen. Unabhängig davon lässt die vom Beklagten im angefochtenen Bescheid auf unstreitig unzutreffende tatsächliche Annahmen (Einreise der Klägerin in das Bundesgebiet erst mit 14 Jahren) gestützte, nachfolgend weder ergänzend begründete noch revidierte Aussage, dass der Klägerin der Aufbau einer neuen Existenz in den ihr "vertrauten Verhältnissen in ihrem Heimatland" zuzumuten sei, die gebotene Berücksichtigung der individuellen Lebensumstände der Klägerin aber auch tatsächlich vermissen. Dem Beklagten ist zwar zuzugeben, dass die Klägerin durch ihre Eltern, mit denen sie bis heute zusammen lebt, mit der türkischen Sprache, türkischen Wertvorstellungen und den sozialen Strukturen grundsätzlich vertraut sein wird. Die Klägerin selbst hat auf entsprechende Nachfrage in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass sie die deutsche Sprache zwar besser beherrsche, bei vorangegangenen Urlauben in der Türkei aber durchaus in der Lage gewesen sei, sich zu verständigen. Nach ihrer Erinnerung habe sie sich in der Türkei aber nur für jeweils bis zu dreiwöchige Urlaube, wohl in den Jahren 2005, 2007 und 2012, aufgehalten. Diese Urlaube seien nicht bei Verwandten verbracht worden. Ihre Verwandten außerhalb Deutschlands lebten nicht in der Türkei, sondern auf Zypern. Die danach allein durch das Aufwachsen in einer türkischen Familie vermittelte "grundsätzliche" Vertrautheit mit der türkischen Sprache, türkischen Wertvorstellungen und den sozialen Strukturen in der Türkei, die durch einige kurze Urlaubsaufenthalte dort kaum wesentlich vertieft werden konnte, vermag jedenfalls im Fall der Klägerin noch keine realistische Prognose einer zwar schwierigen, aber zumutbar möglichen Integration im Land ihrer Staatsangehörigkeit zu begründen. Da es der bis heute mit ihren Eltern und Geschwistern zusammen lebenden Klägerin trotz guter Deutschkenntnisse, Schulabschluss, hinreichender Vertrautheit mit den hiesigen Verhältnissen und Unterstützung z.B. durch berufsfördernde Maßnahmen bisher nicht gelungen ist, ihren Lebensunterhalt in Deutschland eigenständig zu sichern und sich ein eigenes Leben aufzubauen, kann auch nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass es ihr als alleinstehender junger Frau ohne irgendwelche - angesichts des Fehlens dort lebender Verwandter nicht absehbare und keinesfalls einfach zu unterstellende - Unterstützung und ohne verwertbare, einen Berufseinstieg dort ggf. erleichternde Ausbildung gelingen könnte, sich in der ihr relativ fremderen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung der Türkei auf zumutbare Weise eine Existenz aufzubauen. [...]

In Würdigung dieser Gesamtumstände kann die Beendigung des Aufenthalts der Klägerin im Ergebnis nicht mehr als verhältnismäßig und zumutbar angesehen werden. Dabei wird nicht verkannt, dass das durch § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG geschützte öffentliche Interesse an der Vermeidung weiterer Belastungen der öffentlichen Haushaltsmittel einem berechtigten Ziel i.S.d. Art. 8 Abs. 2 EMRK dient und auch im konkreten Fall von ganz erheblichem Gewicht ist, da eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung der Klägerin nicht absehbar ist. Wie der EGMR (Urteil v. 11. Juni 2013 - 52166/09 -, InfAuslR 2014, 176, 178) ausgeführt hat, muss dieses Motiv aber "im rechten Maß und im Licht der Gesamtumstände des Falles bewertet werden". Davon ausgehend lassen die Umstände des konkreten Falles - die angesichts der praktisch lebenslangen Dauer ihres Aufenthalts hier ohne weiteres zu bejahende und allein durch die bisher fehlende wirtschaftliche Integration nicht ausgeschlossene Verwurzelung der in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Klägerin und die angesichts ihres bisherigen Lebenslaufs und ihrer Stellung als in Deutschland aufgewachsene alleinstehende junge Frau ohne (gesicherte) Unterstützung durch Verwandte oder Freunde vor Ort wenig realistisch erscheinende Möglichkeit einer Integration im Land ihrer Staatsangehörigkeit - die Beendigung ihres Aufenthalts im Bundesgebiet als unverhältnismäßigen, nicht "in einer demokratischen Gesellschaft notwendigen" Eingriff in ihr durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht auf Privatleben erscheinen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die hiesige Arbeitsverwaltung nicht nur vielfältige - wenn auch im Fall der Klägerin bisher weitgehend erfolglos gebliebene - Möglichkeiten hat, deren berufliche Eingliederung zu fördern, sondern dass sie bei Bedarf auch über Mittel verfügt, eine etwaige unzureichende Mitwirkung oder gar Verweigerung erwerbsfähiger Leistungsberechtigter zu sanktionieren (insbes. §§ 31 ff. SGB II), um deren sich aus § 2 SGB II ergebende Verpflichtung zur Ausschöpfung aller eigenen Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit durchzusetzen. Dass der Einsatz dieser weniger schnell und ohne Sicherheit einer nachhaltigen Zielerreichung wirkenden Mittel und Möglichkeiten der Arbeitsverwaltung nicht in gleicher Weise zur Erreichung des angestrebten Schutzes der öffentlichen Haushalte geeignet ist wie eine sofortige Beendigung des Aufenthalts der Klägerin nach dem Ausländerrecht, steht der Berücksichtigung bei der Bestimmung des - dadurch ggf. reduzierten - Gewichts des abzuwägenden öffentlichen Belangs nicht entgegen. Im konkreten Fall erscheint es trotz der bisherigen Misserfolge keineswegs ausgeschlossen, die durch Inanspruchnahme von Hilfe zum Lebensunterhalt seitens der Klägerin verursachte Belastung der hiesigen öffentlichen Haushalte mittels konsequenter Anwendung der zur Verfügung stehenden Instrumente zumindest perspektivisch auf diesem Wege zu beseitigen oder zu reduzieren.

Ist der durch die Aufenthaltsbeendigung verursachte Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht der Klägerin auf Achtung ihres Privatlebens danach im konkreten Fall unverhältnismäßig, gebietet dies ein Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung der Lebensunterhaltssicherung gem. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG und reduziert zugleich das durch § 34 Abs. 3 AufenthG eröffnete Ermessen des Beklagten dahin - gehend, dass eine andere Entscheidung als die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen ist. Denn irgendwelche anderen, nicht die fehlende Lebensunterhaltssicherung betreffenden Erwägungen, die eine Ablehnung der begehren Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis begründen könnten, hat der Beklagte nicht angeführt und sind auch nicht ersichtlich. [...]