VG Freiburg

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Zitieren als:
VG Freiburg, Urteil vom 13.10.2015 - A 5 K 2328/13 - asyl.net: M23365
https://www.asyl.net/rsdb/M23365
Leitsatz:

1. Gegenwärtig bestehen in Ungarn systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, die im Falle einer Überstellung eines Asylbewerbers nach Ungarn diesen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung aussetzen.

2. Abschiebungsanordnungen nach Ungarn sind gegenwärtig auch deshalb rechtswidrig, weil Überstellungen nach Ungarn gegenwärtig und auf absehbare Zeit tatsächlich nicht durchgeführt werden können. Es erscheint als fernliegend, dass bei einer Wiederaufnahme von Überstellungen solche Schutzsuchende überstellt würden, welche sich schon seit mehreren Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Dies gilt umso mehr für Schutzsuchende, die in Ungarn bereits Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, systemische Mängel, Vertragsverletzungsverfahren, Gesetzesänderung, Inhaftierung, Überlastung, Integration, internationaler Schutz,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Unabhängig davon steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass jedenfalls gegenwärtig in Ungarn systembedingte Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen bestehen, welche jeden Schutzsuchenden, der dorthin zurücküberstellt wird, der beachtlichen Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung aussetzt. Dabei geht die Kammer von Folgendem aus:

Die Zahl der nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden ist zuletzt sehr stark angestiegen. Im Jahr 2012 wurden noch 2.155 Asylbewerber, im Jahr 2013 18.900 und im Jahr 2014 42.777 Schutzsuchende registriert. Im Jahr 2015 war zunächst von 150.000 nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden bis zum 01.09.2015 die Rede (bei einer Gesamtbevölkerung Ungarns von etwa 10 Millionen Einwohnern); zuletzt wurden Zahlen von weit mehr als 300.000 Schutzsuchenden genannt, von denen die meisten, nur zum wohl geringeren Teil registriert, nach Österreich weiterreisten. Ob die Errichtung eines Zauns an der Grenze zu Serbien und nun auch zu Kroatien und überhaupt die restriktiv wirkende Flüchtlingspolitik Ungarns jetzt zu einer Minderung der Zahl der nach Ungarn einreisenden Schutzsuchenden führen, ist unklar.

Im März 2015 verfügte Ungarn über 2500 Plätze zur Aufnahme von Flüchtlingen (vgl., auch zum Folgenden: EASO, Beschreibungen des ungarischen Asylsystems, Stand März 2015); das Auswärtige Amt hatte in seiner Auskunft an die Kammer vom 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13 noch von 1.500 Plätzen in offenen Aufnahmeeinrichtungen und von weiteren 400 Plätzen in Asylhafteinrichtungen und der geplanten Eröffnung einer weiteren Aufnahmeeinrichtung in Kiskunhalas gesprochen. Zur Anhörung von Schutzsuchenden und zur Entscheidung über ihre Schutzanträge standen 56 Sachbearbeiter in ganz Ungarn bereit. Neue Mitarbeiter waren eingestellt, aber noch nicht geschult. Schutzsuchende werden an der Grenze registriert und einem der vier Empfangszentren zugewiesen; sie können auch auf eigene Kosten im ganzen Land Unterkunft suchen, erhalten dafür aber keine Unterstützung. Wenn sie an einer ihnen bezeichneten Stelle zur Stellung des Asylantrags oder zur später angeordneten Anhörung nicht erscheinen, wird das Schutzgesuch entweder, auf der Grundlage von hinreichenden Angaben bei der Registrierung abgelehnt, oder das Verfahren wird wegen angenommener Rücknahme des Schutzgesuchs eingestellt. Für einen Schutzsuchenden, der später sein Schutzgesuch erneuert, wird ein nichtbeendetes Verfahren fortgesetzt, ein durch Ablehnung des Schutzgesuchs beendetes Verfahren kann innerhalb der Rechtsmittelfrist von acht Tagen im Rechtsbehelfsverfahren fortgesetzt werden. Nach Ablauf der Rechtsmittelfrist hat der Schutzsuchende das Recht, einen Folgeantrag zu stellen. Nach den Angaben des ungarischen Büros für Einwanderung und Staatsangehörigkeit (OIN) werden auch Dublin-Rückkehrer stets als Schutzsuchende behandelt. Gibt der Schutzsuchende aber im Folgeverfahren die gleichen Gründe an wie im ersten Verfahren, kann der Folgeantrag als unzulässig behandelt werden.

Zur Rücküberstellung nach Ungarn hat das Auswärtige gegenüber der Kammer (Auskunft v. 12.03.2015 im Verfahren A 5 K 2328/13) erläutert: Die per Flug Überstellten würden zur Zentrale des ungarischen Amts für Staatsbürgerschaft und Einwanderung gebracht und informiert, dass sie als Asylbewerber behandelt würden. Wenn ein erstes Asylverfahren in Ungarn ohne Entscheidung in der Sache oder durch Rücknahme beendet worden sei, werde es fortgesetzt, sonst werde ein Zweitantrag angenommen. Bei einem Zweitantrag würden (nur) nachträglich entstandene Umstände berücksichtigt. Die Klagefrist betrage drei Tage nach Bekanntgabe/Zustellung der Entscheidung. Bis zur unanfechtbaren Entscheidung im Asylverfahren hätten Asylbewerber Anspruch auf Sozialleistungen, es sei denn, der Asylantrag sei als offensichtlich unbegründet oder unzulässig abgelehnt worden. Ausgeschlossen von den im Asylgesetz geregelten Sozialleistungen seien auch Zweitantragsteller, deren Erstverfahren eingestellt oder abgelehnt worden sei oder bei denen das refoulement-Verbot einer Abschiebung nicht entgegen stehe. Ausreisepflichtige müssten die Unterkunft verlassen, der Aufenthalt sei auf einen bestimmten Regierungsbezirk (Komitat) beschränkt. Sie könnten in öffentlichen Notunterkunftsplätzen des jeweiligen Regierungsbezirks unterkommen und eine kostenlose medizinische Notfallversorgung in Anspruch nehmen. Bei Zuerkennung eines Schutzstatus könnten sie Integrationsleistungen beanspruchen. Seit Januar 2014 würden diese auf örtlicher Ebene (dezentral) durchgeführt. Dabei wirke ein örtlich zuständiger Dienst für Familienförderung mit (auch für Personen ohne Schutzstatus). Es würden individuelle Integrationsvereinbarungen geschlossen. Bei der Förderung der sozialen Integration leiste der Dienst neben finanziellen Hilfen u.a. auch Hilfe bei der Arbeitssuche. In der Flüchtlingshilfe engagierten sich u.a. die Flüchtlingsmission der Reformierten Kirche, die Ungarische Gesellschaft für Migranten und das Helsinki- Komitee. In den Jahren von 2012 bis 2014 habe es 335, 850 bzw. 827 Rücküberstellungen im Dublin-Verfahren gegeben.

Der UNHCR hat in seiner Auskunft an die Kammer vom 30.09.2014 im Verfahren A 5 K 2328/13 weitgehend entsprechende Angaben gemacht. Die am 01.07.2013 in Kraft gesetzten neuen Bestimmungen zur Inhaftierung von Schutzsuchenden bis zu sechs Monaten hat er kritisch beurteilt. Nach seiner Ansicht würden praktisch alle Dublin-Rückkehrer in Haft genommen, ausgenommen Familien oder besonders vulnerable Asylsuchende. Beim damaligen Stand hat der UNHCR für den August 2014 dank Unterstützung der Europäischen Union eine Verbesserung der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge gesehen. Anerkannte Flüchtlinge müssten mehrere Monate warten, bis sie Integrationshilfen beanspruchen könnten. Hinsichtlich der medizinischen, psychologischen und psychotherapeutischen Versorgung von Flüchtlingen gebe es aus allen Aufnahmeeinrichtungen Beschwerden. Drogen- und andere Abhängige hätten keinen Zugang zu medizinischen Diensten. Ein psychisches Problem seien auch fehlende tägliche Beschäftigung und Abwechslung. Wer keine permanente Adresskarte habe, habe Probleme beim Zugang zu medizinischen Diensten. Zum 01.01.2014 seien Regelungen zur Integration von Personen mit Schutzstatus eingeführt worden. Es gebe systemische Probleme, die einer Integration von Flüchtlingen entgegen stünden. Das System der gesetzlichen Hilfen sei unter anderem bei weitem nicht genügend finanziert. Obdachlose, die auf öffentlichen Plätzen nächtigten, würden kriminalisiert. Im Juni 2013 seien unter Hinweis auf diese Bedingungen etwa 70 und im August 2013 nochmals etwa 20 afghanische Staatsangehörige nach Deutschland weitergereist. Pro Asyl und bordermonitoring hätten berichtet, dass Inhaber eines Schutzstatus nach der Rückkehr nach Ungarn sich in einer besonders verletzlichen Lage befunden hätten. Deren finanzielle Unterstützung sei zu gering gewesen, um eine Wohnung zu finden. Auch in Obdachlosenunterkünften habe es nicht genügend Plätze für Flüchtlinge gegeben. Eine im Jahr 2012 erfolgte Befragung habe ergeben, dass fast die Hälfte der Personen mit Schutzstatus keine Arbeit gehabt hätten, was u.a. auf den Mangel an Ausbildung und Berufserfahrung und den Mangel an ungarischen Sprachkenntnissen zurückgeführt werden könne. Die Inhaftierungspraxis und deren gerichtliche Kontrolle sei mangelhaft. Die Ernährung der Flüchtlinge in Haft sei nach deren Angaben unzureichend, seitens des Personals in den Haftanstalten gebe es Rassismus und Missbrauch. Neu eingestelltes Personal in den Aufnahmeeinrichtungen habe keine Berufserfahrung und auch keine entsprechende Ausbildung durchlaufen. Es gebe keine Vorkehrungen, verletzliche Personen zu erkennen. Die Hygiene-Einrichtungen in den Aufnahmeeinrichtungen seien unzureichend. Über private Organisationen, die Flüchtlinge unterstützen und dabei vom ungarischen Staat unterstützt würden, lägen keine Auskünfte vor.

Am 23.09.2015 hat die Europäische Kommission gegen Ungarn zwei Vertragsverletzungsverfahren wegen ausstehender Berichte zur Einhaltung von Asylverfahrensbestimmungen und zur Einhaltung der Standards für Aufnahmebedingungen anerkannter Flüchtlinge eingeleitet. Auch gegen zahlreiche andere Mitgliedstaaten, darunter die Bundesrepublik Deutschland, wurden Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Zugleich hat die Kommission umfangreiche unmittelbare, operative, budgetäre und rechtliche Maßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda angekündigt, wozu auch eine Ausweitung der finanziellen und personellen Unterstützung der am stärksten von der Flüchtlingsmigration betroffenen Mitgliedstaaten gehören.

Wegen der im Lauf des ersten Halbjahres 2015 stark angestiegenen Zahl an Schutzsuchenden hat Ungarn im Juli 2015 entlang der 174 km langen Grenze zu Serbien einen festen bzw. aus übereinander liegenden Rollen von sogenanntem Nato-Draht gefertigten durchgehenden Zaun errichtet, um die Schutzsuchenden zu veranlassen, die serbisch-ungarische Grenzen nur an den Grenzübergängen zu überschreiten und um diese nahe der Grenze registrieren zu können. Geplant war (und noch nicht verwirklicht ist), Schutzsuchende nicht weiter ins Land einreisen zu lassen, und grenznahe Unterkünfte und Einrichtungen zur Aufnahme zu errichten. Um auch das Militär einsetzen zu können, wurde an die Ausrufung eines "Migrationsnotstands‘“ gedacht.

Die ungarische Bevölkerung ist nach vielen Pressemeldungen gegenüber den Schutzsuchenden überwiegend ablehnend eingestellt. Die Regierung greift diese Stimmung nicht nur auf, sondern befördert sie. Laut Pester Lloyd vom 12.06.2015 hat der ungarische Ministerpräsident etwa geäußert: "Wir müssen alles versuchen, um Ungarn das Zusammenleben mit Menschen verschiedener Kulturen zu ersparen“. Im Juli 2015 beharrte er darauf, dass Ungarn ein ungarisches Land bleiben solle. Bei einer vom UNHCR deutlich kritisierten landesweiten Regierungskampagne wurde plakatiert: "Wenn du nach Ungarn kommst, darfst du den Ungarn nicht die Arbeit wegnehmen!“ (Spiegel-online v. 02.09.2015). Auch empfindet die ungarische Regierung die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen als Einmischung und behindert deren Arbeit (Spiegel-online v. 12.09.2014).

In einem Interview (FAZ vom 03.09.2015, S. 10) hat der ungarische Ministerpräsident geäußert, Europa müsse verstehen, dass man nicht aufnehmen könne, wenn man überrannt werde. Deshalb sei der Zaun, den Umgarn baue, wichtig. Er folge aus dem Schengener Abkommen. Das ungarische Volk sei konsultiert worden. Von acht Millionen Wählern hätten eine Million geantwortet. 85 % von ihnen meinten, die Union sei bei der Bewältigung der Einwanderung gescheitert. Europa könne nicht gegen den Willen der Bürger sein. Nur wenn die Grenzen beschützt würden, könnten Fragen gestellt werden nach der Anzahl der Menschen, die Europa aufnehmen wolle oder ob es Quoten geben solle. Die Menschen, die kämen, seien meistens keine Christen, sondern Muslime. Wenn das aus den Augen verloren würde, könne der europäische Gedanke auf dem eigenen Kontinent in die Minderheit geraten. Die erwähnte Umfrage hatte die Mitteleuropa-Vertretung des UNHCR zum Anlass genommen, ihre "zutiefste" Besorgnis zum Ausdruck zu bringen, dass die ungarische Regierung Flüchtlinge als Gefahr für das Land darstelle (Salzburger Nachrichten v. 08.05.2015 - online), und eine Gegenkampagne gestartet, in deren Rahmen ab dem 01.07.2015 500 Plakate im ganzen Land aufgehängt werden sollten. Eine Sprecherin des UNHCR habe dazu gesagt, die Lage in Ungarn sei eine besondere, weil nicht, wie in kleinen Ländern, kleine Gruppen Fremdenhass schürten, sondern die Regierung; ein positives Zeichen sei, dass die Reaktionen in der ungarischen Öffentlichkeit gespalten seien (euronews v. 17.06.2015). Die ungarische Regierung sieht, wie auch die Errichtung von Grenzzäunen zu Serbien und Kroatien zeigt, die ein- und durchreisenden Flüchtlinge ausdrücklich als Gefahr an (Handelsblatt v. 02.10.2015: Orban: "Das Land ist von einer Flüchtlingsarmee bedroht"). Gemeldet wurde auch, ein Sprecher der Partei Fidesz habe gesagt, das größte Aufnahmelager Debrecen (das Platz für 930 Menschen bietet, aber nur mit derzeit 260 Menschen belegt sei), solle mit Rücksicht auf die Bewohner der Umgebung geschlossen werden; der UNHCR habe das Vorgehen Ungarns gegenüber den Flüchtlingen u.a. deshalb als sehr besorgniserregend bezeichnet (DLF v. 02.10.2015).

Es gibt nur wenige Hilfsorganisationen, welche sich um Schutzsuchende bzw. anerkannte Schutzsuchende kümmern. Über bürgerschaftliche Hilfe wird berichtet. Wie wirksam diese bei der großen Zahl der Schutzsuchenden sein kann, lässt sich nicht einschätzen.

Insbesondere hinsichtlich der jüngsten Änderungen der ungarischen Asylgesetze und sonstiger neuerer Entwicklungen hat die Beklagte in keinem der am 13.10.2015 verhandelten Verfahren substantiiert dargelegt, wie sich die Aufnahmebedingungen und das Asylverfahren rechtlich und tatsächlich in den letzten Monaten entwickelt haben.

Die Kammer konnte auch nicht unmittelbar von dem Verbindungsbeamten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge bei der ungarischen Asylbehörde Erkenntnisse erhalten. Dieser hat auf eine - außerhalb dieses Verfahrens erfolgte - Anfrage per e-mail nach den letzten Änderungen im ungarischen Asylrecht mitgeteilt, er könne nicht (mehr) unmittelbar Auskunft erteilen, Auskünfte erteilten die Dublin-Referate des Bundesamts. Der Informationsaustausch der Dublin-Referate des Bundesamts mit den Vertretern des Bundesamts vor den Verwaltungsgerichten scheint allerdings zur Zeit nicht gewährleistet zu sein; denn diese haben sich nicht in der Lage gesehen, aktuelle Erkenntnisse mitzuteilen. Die Kammer stützt sich daher, was die Entwicklung in den letzten Monaten betrifft, in tatsächlicher Hinsicht in erster Linie auf den Bericht des European Asylum Support Office (EASO) im Anschluss an eine Bereisung vom 16. bis 20.03.2015 sowie auf zahlreiche Internet-Veröffentlichungen des Asylum Information Database of the European Council on Refugees and Exiles etc. sowie insbesondere auf die in der Rechtsprechung des österreichischen Bundesverwaltungsgerichts umfassend wiedergegebenen und laufend aktualisierten Berichte des österreichischen Verbindungsbeamten bei der ungarischen Asylbehörde (vgl. zuletzt öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 - W 1442114716-1/3 E -, Internet-Seite des österreichischen Bundeskanzleramts, dort Rechtsinformationssystem - RIS -; dort finden sich im Einzelnen insbesondere Ausführungen zum Asylverfahren allgemein (2.), zur Haft (3.), zur Lage von Dublin-Rückkehrern (4.), zu vulnerablen Gruppen (5.), zur Versorgung, insbesondere Unterbringung (7.) und zur Lage von Schutzberechtigten (8.), auf die die Kammer Bezug nimmt).

Danach hat Ungarn im Juli 2015 mit Wirkung ab dem 01.08.2015 das Asylrechtsgesetz in erheblichem Umfang geändert und eine entsprechende Durchführungsverordnung erlassen. Als sicherer Drittstaat wurden u.a. auch die Beitrittskandidaten zur Europäischen Union benannt, also auch Serbien. Zahlreiche Beschleunigungs- und Darlegungspflichten wurden eingeführt bzw. verschärft. 160 ungarische Rechtsanwälte haben daraufhin die neuen Regelungen, darunter auch Behandlung Minderjähriger ab 14 Jahren als Grenzverletzer mit einer Strafdrohung von bis zu drei Jahren, keine zwingende Übersetzung von Anklage und Urteil, als Verstoß gegen Völkerrecht gewertet (spiegel-online v. 03.10.2015: "Ungarn urteilt Flüchtlinge im Schnellverfahren ab"). Für die Inhaftierung von Asylsuchenden gibt es seit dem 01.07.2015 geänderte Bestimmungen. Asylhaft wird insbesondere verhängt, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Antragsteller das Asylverfahren verzögern oder sich diesem entziehen wird. Dann bleibt die Haft für die Dauer des gesamten Asylverfahrens aufrecht erhalten. Im Jahr 2014 wurden insgesamt 4.806 Personen in Asylhaft genommen, am häufigsten Asylsuchende aus dem Kosovo und aus Afghanistan (1.038). Im Jahr 2015 gingen die Zahlen möglicherweise zurück. Ab September 2014 wurden wieder Familien mit Kindern in Asylhaft genommen. Mitte März 2015 soll diese Praxis aufgrund eines Berichts des ungarischen Ombudsmanns für Menschenrechte wieder eingestellt worden sein; aktuelle Informationen dazu gibt es nicht.

Für das Vorliegen systembedingter Mängel mit der Folge, dass aktuell jeder Asylbewerber in Ungarn Gefahr liefe, dort menschenrechtswidrig behandelt zu werden, spricht bereits der Umstand, dass seit September 2015 die Bundesrepublik Deutschland wie auch Österreich davon ausgehen, dass Ungarn nicht in der Lage ist, die große Zahl an einreisenden Flüchtlingen nach den unionsrechtlichen Regeln durch ein Asylverfahren zu führen und - bei Erreichen eines Schutzstatus - auch auf Dauer hinreichende Aufnahmebedingungen zur Verfügung zu stellen.

Dem entspricht es, dass eine zunehmende Zahl von Verwaltungsgerichten in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wie auch in Urteilen aus unterschiedlichen Erwägungen zur Auffassung gelangt, dass Ungarn zur Zeit nicht als zuständiger Staat betrachtet werden darf (u.a. VG Hannover, Beschl. v. 29.07.2015 - 10 B 2196/15 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 21.08.2015 - 8 L 2811/15.A -; VG München, Beschl. v. 21.05.2015 - M 16 S 15.50329 -; VG Köln, Urt. v. 15.07.2015 - 3 K 2005/15.A - und v. 08.09.2015 - 18 K 4584/15.A -; VG Bremen, Urt. v. 30.06.2015 - 3 K 296/15 -; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 - 3 L 776/15; VG Münster, Beschl. v. 07.07.2015 - 2 L 858/15.A -, alle juris).

In der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte ist die Frage nicht geklärt. Wenigen ablehnenden Entscheidungen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 06.08.2013 - 12 S 675/13 - InfAuslR 2014, 29 OVG Sachs.-Anh., Beschl. v. 31.05.2013 - 4 L 169/12 -, Bayer.VGH, Beschl. v. 12.06.2015 - 13a ZB 15.50097 - juris; alle juris) steht gegenüber, dass etwa das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung gegen eine klagabweisende Entscheidung zugelassen hat (Beschl. v. 15.05.2015 - 8 LA 85/15 - a.a.O.).

Zwar hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2014 (E. v. 03.07.2014 - Nr. 71932/12 - <Mohammadi gg. Österreich> gestützt auf Stellungnahmen des UNHCR, des Ungarischen Helsinki- Kommitees und des Berichts einer UN-Arbeitsgruppe, die sich mit den Haftbedingungen in Ungarn befasst hat, entschieden, dass im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 03.07.2014 mit Blick auf die signifikanten Änderungen der ungarischen Asylgesetze weder die Inhaftierungspraxis noch die Haftbedingungen den dortigen Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") einer menschenrechtswidrigen Behandlung in Ungarn als Asylsuchender aussetzen würde; gleiches gelte für die Gefahr einer Überstellung des Klägers nach Serbien. Auch der Europäische Gerichtshof hatte noch im Jahr 2013 (Urt. v. 10.12.2013 <Abdullahi> a.a.O.) systemische Mängel im ungarischen Asylsystem verneint.

Demgegenüber haben sich die Verhältnisse aber - auch für sog. Dublin-Rückkehrer - in Folge der sehr stark gestiegenen Zahl der Flüchtlinge und der hierauf erlassenen Gesetzesverschärfungen in Ungarn aber in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht wesentlich verschlechtert (vgl., insbesondere zur Inhaftierungspraxis, zu den Haftbedingungen und zur gerichtlichen Kontrolle, VG Köln, Urt. v. 30.07.2015 a.a.O.; VG Saarland, Beschl. v. 12.08.2015 a.a.O.; vgl. auch schon VG Berlin, Beschl. v. 23.01.2015 – 23 L 717.14 A – juris; auch VG München, Urt. v. 29.08.2014 - M 24 K 13.31294 -; VG Düsseldorf, Beschl. v. 27.08.2014 - 14 L 1786/14.A - juris). Zudem sieht Ungarn seit dem 01.09.2015 Serbien wieder als sicheren Drittstaat an, wobei noch nicht klar ist, ob und unter welchen Voraussetzungen es tatsächlich zu Überstellungen nach Serbien kommen wird, insbesondere auch von Personen, welche nach den Dublin-Regeln nach Ungarn zurücküberstellt werden und die dort möglicherweise als Folgeantragsteller behandelt würden (vgl. öster. BVwG, Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).

Ob die neuen Vorschriften zur Beschleunigung der Asylverfahren in jeder Hinsicht dem Unionsrecht genügen, ist zumindest sehr zweifelhaft. Das gilt insbesondere für die Frage, ob und in welchen Fällen Dublin-Rückkehrer bei Fortsetzung des Asylverfahrens bzw. in einem Zweitverfahren in ihrem Vorbringen beschränkt sind, ferner auch für die Frage, ob es zulässig ist, dass ein Asylverfahren eingestellt wird, wenn der Antragsteller für die Dauer von 48 Stunden nicht in der Aufnahmeeinrichtung angetroffen werden kann, der er zugewiesen ist (so VG Köln a.a.O.).

Schließlich kann es nicht zu Lasten der Betroffenen ausschlagen, dass es aktuell keine verlässlichen Berichte über die tatsächliche Lage von Asylbewerbern und Inhabern von internationalem Schutz in Ungarn gibt und dass Ungarn selbst gegenüber der Europäischen Kommission nicht berichtet, inwieweit es - unter der augenscheinlichen Überlastung - die Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen entsprechend den unionsrechtlichen Vorgaben bewältigen kann.

Vielmehr muss bei der Beurteilung einer Gefahrenlage für nach Ungarn rücküberstellte Asylbewerber vor allem das oben geschilderte innenpolitische Klima berücksichtigt werden. Indem die Regierung in der öffentlichen Debatte einseitig die Abwehr von Flüchtlingen betont und Ängste in der Bevölkerung schürt, trägt sie erheblich dazu bei, dass bei es der Anwendung der gesetzlichen Regelungen, auch soweit diese dem europäischen Flüchtlingsrecht zweifellos entsprechen, zu Menschenrechtsverletzungen kommen kann.

Insbesondere lässt die ungarische Politik keine hinreichende Bereitschaft erkennen, von Ungarn als schutzbedürftig anerkannten Personen bei der Integration in die Gesellschaft beizustehen. Die dafür geschaffenen Regeln und die dafür bereit gestellten Mittel sind nach der Auskunft des UNHCR offensichtlich unzureichend. So erscheint als nicht gesichert, dass Menschen, die in Ungarn internationalen Schutz erhalten haben, insbesondere auch Dublin-Rückkehrer, in den Genuss der ohnehin deutlich unterfinanzierten gesetzlichen Integrationsangebote kommen können. Für die zuletzt genannte Gruppe dürfte dies schon an den verstrichenen Antragsfristen scheitern. Auch die Bereitstellung von Wohnraum für diesen Personenkreis ist völlig ungewiss. Eine Verweisung in die staatlichen bzw. kommunalen Obdachlosenunterkünfte scheitert an den Kapazitäten und für Familien auch daran, dass dort keine Kinder aufgenommen werden; in zahlreichen Verfahren ist der Kammer von den Klägern überzeugend vorgetragen worden, dass es ihnen nicht gelungen ist, Wohnung und Arbeit zu finden.

Aus diesen Gründen ordnet das österreichische Bundesverwaltungsgericht seit September 2015 in Dublin-Ungarn-Fällen die aufschiebende Wirkung der Klagen regelmäßig an. Von ihm gibt es auch schon stattgebende Hauptsachentscheidungen. Diese sind allerdings - wohl mangels einer Pflicht, Spruchreife selbst herbeizuführen - damit begründet, dass die Veränderung der Sachlage weiterer Aufklärung durch die österreichische Asylbehörde bedarf (vgl. Urt. v. 24.09.2015 a.a.O.).

Der Feststellung von systembedingten Mängeln des ungarischen Asylsystems im oben dargelegten Sinn lässt sich nicht - wie dies die Beklagte tut - entgegen halten, dass weitaus die meisten Schutzsuchenden gar nicht in Ungarn bleiben, sondern, entgegen dem ungarischen Flüchtlingsrecht auf allen möglichen Wegen nach Österreich und von dort insbesondere in die Bundesrepublik Deutschland, aber etwa auch weiter nach Schweden, reisen wollen. Denn der Andrang von Flüchtlingen auch an den ungarischen Grenzen dauert weiter an. Außerdem wäre Ungarn jedenfalls dann, wenn, wie im Fall des Klägers, die anderen Dublin-Staaten auf einer Rücküberstellung dorthin bestehen würden, wiederum mit der Zahl der Antragsteller überfordert.

Soweit in zahlreichen Entscheidungen anderer Verwaltungsgerichte darauf abgehoben wird, dass der UNHCR, anders als bei Griechenland und - eingeschränkt - Bulgarien, aktuell keine generelle Empfehlung ausgesprochen hat, Asylsuchende nicht nach Ungarn zu überstellen, vermag dem die Kammer nicht zu folgen. Der UNHCR selbst hält einer solchen Interpretation entgegen, dass das Fehlen einer solchen generellen Empfehlung keineswegs bedeute, er sei der Auffassung, dass keine solchen einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Aus seiner Sicht ist es Sache der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu prüfen, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausschlössen. Der UNHCR weist insoweit auch darauf hin, dass der Supreme Court des Vereinigten Königreichs diese Auffassung ausdrücklich bestätigt habe (vgl. UNHCR an VG Bremen v. 30.09.2014). Auch hat der UNHCR angesichts der jüngsten Entwicklung wiederholt vor einer "weiteren Verschlechterung der Lage" gewarnt und betont, es sei wichtig, dass die Umsetzung der neuen asyl- und haftrechtlichen Vorschriften gut durchdacht werde, andernfalls "das zu Chaos" führen würde (heute.de v. 05.10.2015). Im Übrigen bedürfte es gegenwärtig entsprechender Warnungen des UNHCR nicht, weil Überstellungen nach Ungarn wohl seit einigen Monaten gar nicht mehr stattfinden. Das ergibt sich aus Folgendem:

Aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage aus dem Deutschen Bundestag vom 18.08.2015 (BT-Drucksache 18/5785, S. 18 ff., noch mit dem Vermerk "Vorabfassung - wird durch die lektorierte Version ersetzt") ergibt sich, dass das Bundesamt im ersten Quartal 2015 2952 und im zweiten Quartal 2015 3565 Übernahmeersuchen an Ungarn gerichtet hatte. Etwa 80 % der Ersuchen (2.304 bzw. 2.665 akzeptierte Ungarn. Im ersten Quartal 2015 gab es 30 Selbsteintritte oder faktische Überstellungshindernisse in Bezug auf Ungarn, im zweiten Quartal 2015 171. Tatsächlich überstellt wurden nach Ungarn (nach der Dublin-Verordnung) im ersten Quartal 2015 aber nur 42 Personen und im zweiten Quartal 2015 nur 61 Personen, also nur etwa 2 Prozent bezogen auf die Zahl der akzeptierten Übernahmeersuchen. Die Gründe dafür sind nicht bekannt und auch auf Nachfrage vom Bundesamt nicht zu erfahren. Sie dürften einerseits in einer begrenzten Aufnahmebereitschaft Ungarns (Kontingentierung der Aufnahme), andererseits aber auch in der beschränkten Kapazität der zuständigen deutschen Behörden liegen. Ein ähnliches Bild bietet die schweizerische Asylstatistik. Die Schweiz hatte im ersten Halbjahr 2015 407 Ersuchen an Ungarn gestellt, die Ungarn in 333 Fällen akzeptierte; tatsächlich überstellt wurden im gleichen Zeitraum nur 54 Personen, also etwa 16 % der akzeptierten Übernahmeersuchen.

Seit mehreren Monaten finden auf Bitten Ungarns wohl überhaupt keine Rücküberstellungen von Deutschland aus mehr statt (vgl. die Nachweise bei VG Hannover, Beschl. v. 29.07.2015 - 10 B 2196/15 - juris). Nachfragen der Kammer dazu hat das Bundesamt nicht beantwortet.

Auch deshalb ist die angefochtene Abschiebungsanordnung rechtswidrig. Denn § 34a Abs. 1 AsylVfG erfordert, dass die Abschiebung tatsächlich durchgeführt werden kann. Dafür reicht eine Übernahmeerklärung Ungarns aber nicht aus, wenn anschließend seitens des ungarischen Staats keine oder nur eine ganz geringe Bereitschaft und so gut wie keine Kapazität besteht, Erst- und Folgeantragsteller sowie überstellte Schutzsuchende und Inhaber internationalen Schutzes tatsächlich aufzunehmen. Zumindest erscheint es als völlig fernliegend, dass bei einer evtl. Wiederaufnahme von Überstellungen nach Ungarn in einigen Monaten oder einem Jahr ausgerechnet diejenigen Schutzsuchenden zurücküberstellt würden, welche sich nun schon seit mehreren Jahren im Bundesgebiet aufhalten. Dies gilt umso mehr für Schutzsuchende, die in Ungarn oder nach Zurückschiebung nach Serbien bzw. Griechenland Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Umfang, insbesondere eine langdauernde Asylhaft, erfahren haben, wenn dies zu erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen geführt hat. Daraus kann sich - wie oben dargelegt - sogar ein Abschiebungsverbot in rechtlicher Hinsicht ergeben (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK). [...]