SG Darmstadt

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Zitieren als:
SG Darmstadt, Beschluss vom 02.04.2015 - S 18 KR 169/15 ER - asyl.net: M23398
https://www.asyl.net/rsdb/M23398
Leitsatz:

§ 5 Abs 11 SGB 5 kommt bei türkischen Staatsangehörigen, die Arbeitnehmer im Sinn des Beschlusses Nr. 3/80 (soziale Sicherheit für türkische Arbeitnehmer) sind, nicht zur Anwendung.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Türkischer Arbeitnehmer, Krankenversicherung, Rentner, Gleichbehandlung, Grundsicherung im Alter, Sozialhilfe, Grundsicherung, Versicherungspflicht, türkische Staatsangehörige, Pflichtversicherung,
Normen: SGB V § 5 Abs. 11, SGB V § 264, SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 13, ARB 3/80 Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

In beiden Fällen ist erforderlich, dass ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund bestehen. Diese stehen sich nicht isoliert gegenüber. Vielmehr besteht zwischen ihnen eine funktionelle Wechselwirkung: Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Eingriffs (Anordnungsgrund) zu verringern oder umgekehrt zu erhöhen. Dabei dürfen keine zu hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren gestellt werden; die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt. (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 29.07.2003 - 2 BvR 311/03 - NVwZ 2004, 95; vom 19.03.2004 - 1 BvR 131/04 - NJW 2004, 3100 ). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung unter umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligter zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Breithaupt 2005, 803 -; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rn 27 f m.w.N.).

Ausgehend davon ist die Antragsgegnerin vorläufig zu verpflichten, den Antragsteller nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V zu versichern. Nach dem bisherigen Sachverhalt ist das Bestehen der Pflichtversicherung (und damit eines Anordnungsanspruchs) überwiegend wahrscheinlich.

Nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V sind versicherungspflichtig in der gesetzlichen Krankenversicherung Personen, die keinen anderweitigen Anspruch auf Absicherung im Krankheitsfall haben und

a) zuletzt gesetzlich krankenversichert waren oder

b) bisher nicht gesetzlich oder privat krankenversichert waren, es sei denn, dass sie zu den in Absatz 5 oder den in § 6 Abs. 1 oder 2 genannten Personen gehören oder bei Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit im Inland gehört hätten.

Gemäß § 5 Abs. 8a SGB V ist nicht nach Absatz 1 Nr. 13 versicherungspflichtig, wer nach Absatz 1 Nr. 1 bis 12 versicherungspflichtig, freiwilliges Mitglied oder nach § 10 versichert ist. Satz 1 gilt entsprechend für Empfänger von laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten und siebten Kapitel des Zwölften Buches und für Empfänger laufender Leistungen nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Der Antragsteller erfüllt die Voraussetzungen nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V. Er war zuletzt bis Ende 2007 gesetzlich krankenversichert. Eine private Krankenversicherung bestand nie, so dass eine Zuordnung zur gesetzlichen Krankenversicherung besteht. Dem steht nicht entgegen, dass nach 2007 offenbar zeitweise eine Kostenübernahme über den örtlichen Sozialhilfeträger nach § 264 SGB V erfolgt ist. Denn dies ist weder eine gesetzliche noch eine private Krankenversicherung und ändert damit nichts an der Zuordnung zum System der gesetzlichen Krankenversicherung.

Der Antragsteller ist nicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 – 12 SGB V versicherungspflichtig. Insbesondere besteht nach den Angaben der Antragsgegnerin keine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner nach § 5 Abs. 1 Nr. 11 SGB V. Andere Tatbestände nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 – 12 SGB V kommen nicht in Betracht.

Einer Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V kann nicht § 5 Abs. 11 Satz 1 SGB V entgegen gehalten werden.

Nach § 5 Abs. 11 Satz 1 SGB V werden Ausländer, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, Angehörige eines Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder Staatsangehörige der Schweiz sind, von der Versicherungspflicht nach Absatz 1 Nr. 13 erfasst, wenn sie eine Niederlassungserlaubnis oder eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Befristung auf mehr als zwölf Monate nach dem Aufenthaltsgesetz besitzen und für die Erteilung dieser Aufenthaltstitel keine Verpflichtung zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 des Aufenthaltsgesetzes besteht.

Ob bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG an den Antragsteller am 11.02.2013 eine Ausnahme nach § 9 Abs. 1 Satz 6 AufenthG gemacht wurde (Absehen von der Voraussetzung, dass der Lebensunterhalt gesichert ist (§ 9 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG), wenn der Antragsteller diese aus körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann), ist aus der ausländerrechtlichen Akte nicht zu entnehmen. Dafür könnte sprechen, dass der Antragsteller seit 2008 eine unbefristete Rente wegen voller Erwerbsminderung erhält.

Darauf und auf die Qualität des Titels kommt es letztlich jedoch nicht an. Der Anwendung des § 5 Abs. 11 SGB V auf den Antragsteller steht Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 (Soziale Sicherheit für türkische Arbeitnehmer; Abl. Nr. C I 10/60, Nr. C 110/96)) entgegen.

Für diese sind auf der Grundlage des Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsunion und der Türkei vom 12. September 1963 weitergehende Rechte geschaffen worden. Dieses Abkommen ist unabhängig von dessen Alter in Kraft und damit gültig. Auf dieser Grundlage erließ der Assoziationsrat am 19. September 1980 den Beschluss Nr. 3/80– Soziale Sicherheit für türkische Arbeitnehmer - (zur genauen rechtlichen Herleitung ausführlich: Urteil des EuGH vom 04.05.1999 – Sürül – C-262/96, juris, Ziffern 3-14).

Nach Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 haben die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die dieser Beschluss gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staates, soweit dieser Beschluss nichts anderes bestimmt.

Auf diese Regelung können sich Personen, die in den Geltungsbereich des Beschlusses fallen, vor den Gerichten der Mitgliedstaaten unmittelbar berufen (EuGH, a.a.O., Ziffer 74). Unmittelbare Anwendbarkeit im Bereich des Europarechts bedeutet aber, dass das Gericht die entgegenstehende nationale Vorschrift nicht anwenden darf. Es besteht gerade kein Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts wie bei der Prüfung der Vereinbarkeit von einfachgesetzlichen Regelungen mit dem Grundgesetz.

Das in Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 aufgestellte Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit im Geltungsbereich des Beschlusses bedeutet, dass "ein türkischer Staatsangehöriger, für den der Beschluss gilt, ebenso behandelt werden muss wie die Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats, so dass die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Gewährung eines Anspruchs an einen solchen türkischen Staatsangehörigen nicht von zusätzlichen oder strengeren Voraussetzungen abhängig machen dürfen, als sie für die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats gelten" (EuGH, a.a.O., Ziff. 97).

"Folglich hat ein türkischer Staatsangehöriger, dem es gestattet wurde, (…) in einen Mitgliedstaat einzureisen, und der sich dort rechtmäßig bei diesem aufhält, im Aufnahmestaat unter denselben Voraussetzungen wie dessen Staatsangehörige Anspruch auf eine im Recht dieses Staates vorgesehene Leistung der sozialen Sicherheit." (EuGH, a.a.O., Ziff. 98).

In den persönlichen Geltungsbereich fallen Arbeitnehmer, für welche die Rechtsvorschriften eines oder mehrere Mitgliedstaaten gelten oder galten, und die türkische Staatsangehörige sind. Arbeitnehmer in diesem Sinne ist jede Person, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (EuGH, a.a.O., Ziffer 85).

Der Antragsteller ist in diesem Sinne Arbeitnehmer. Er erhält eine Rente wegen Erwerbsminderung von der Deutschen Rentenversicherung Hessen und ist damit Versicherter (in der Rentenversicherung), der eine Leistung von dieser erhält.

Der sachliche Anwendungsbereich des Beschlusses Nr. 3/80 ist ebenfalls eröffnet. Nach Art. 4 Abs. 1 i) des Beschlusses Nr. 3/80 erstreckt sich der sachliche Geltungsbereich des Beschlusses auf Leistungen bei Krankheit.

Aus dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 ergibt sich, dass § 5 Abs. 11 SGB V auf den Antragsteller nicht anzuwenden ist. Denn für deutsche Staatsangehörige wird die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V nur an die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen geknüpft. Weitergehende Voraussetzungen für den Zugang zum Versicherungsschutz nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V dürfen damit auch nicht an den Antragsteller gestellt werden. Es darf insbesondere keine bestimmte Art von Aufenthaltstitel gefordert werden, um nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V krankenversichert sein zu können. [...]