VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 04.07.2016 - 10 L 898/16.A (= ASYLMAGAZIN 9/2016, S. 321 ff.) - asyl.net: M23997
https://www.asyl.net/rsdb/M23997
Leitsatz:

1. § 30 Abs. 1 AsylG ist für nach dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge unionsrechtskonform dahingehend einschränkend auszulegen, dass ein Asylantrag nach dieser Norm nur unter den Voraussetzungen des Art. 31 Abs. 8 lit. a) der Asylverfahrensrichtlinie (RL 2013/32/EU) als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden darf.

2. Ob sich die Abweisung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet aufgrund einer anderen als der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge herangezogenen Rechtsgrundlage aufrecht erhalten lässt, hat das Gericht auf Grundlage der ihm vorliegenden Unterlagen eigenständig zu prüfen, solange die Heranziehung anderer als der im angefochtenen Bescheid genannten Normen und Tatsachen nicht zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheids führen oder den Betroffenen in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar beeinträchtigen würde.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, Unionsrecht, Asylantrag, internationaler Schutz, Verfahrensrichtlinie, ernstliche Zweifel, Abschiebungsandrohung, aufschiebende Wirkung, Suspensiveffekt, Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, Rechtsschutzantrag, einstweiliger Rechtsschutz, Marokko,
Normen: AsylG § 30 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8 Bst. a, RL 2013/32/EU Art. 32 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 5, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 6,
Auszüge:

[...]

III. Der Hauptantrag ist begründet, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung bestehen. Diese Abschiebungsandrohung ermöglicht es der Antragsgegnerin, den Aufenthalt des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens zu beenden. Dies verstößt im vorliegenden Fall gegen Art. 46 Abs. 5 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie; im Folgenden: RL 2013/32/EU).

1. Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG und § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG bestimmen, dass die Aussetzung der Abschiebung dann, wenn ein Asylantrag - wie hier - als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird, nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass dieser einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerf-GE 94, 166 (juris Rn. 99)). [...]

Die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet hat zur Folge, dass die Ausreisefrist eine Woche beträgt (§ 36 Abs. 1 AsylG) und der Klage gegen die Abschiebungsandrohung keine aufschiebende Wirkung zukommt (§§ 75 Abs. 1, 38 Abs.1 AsylG). Die damit mögliche (und intendierte) Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland vor Abschluss des gerichtlichen Hauptsacheverfahrens steht nicht mit Art. 46 Abs. 5 der RL 2013/32/EU in Einklang. Nach dieser Norm gestatten die Mitgliedstaaten Antragstellern - unbeschadet des Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU - bis zum Ablauf der Frist für die Ausübung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und, wenn ein solches Recht fristgemäß ausgeübt wurde, bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf den Verbleib im Hoheitsgebiet. Die Voraussetzungen dieser Norm für einen weiteren Verbleib des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland liegen vor (a). Eine vorzeitige Beendigung des Verbleibs des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU) scheidet aus (b). Der Antragsteller kann sich gegenüber der Antragsgegnerin auf Art. 46 Abs. 5 RL 2013/32/EU berufen (c).

a) Die Voraussetzungen des Art. 46 Abs. 5 RL 2013/32/EU für einen weiteren Verbleib des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland liegen vor. Der Antragsteller hat mit seiner Klage im Verfahren 10 K 1615/16.A einen Rechtsbehelf i.S.d. Art. 46 Abs. 1 und 5 RL 2013/32/EU eingelegt. Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist dagegen kein Rechtsbehelf im Sinne dieser Bestimmungen. Dies ergibt sich aus Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU, der der Sache nach ein Eilverfahren für den Fall vorsieht, dass das nationale Recht in den dort aufgeführten Fällen ein Recht auf Verbleib bis zur Entscheidung über den Rechtsbehelf ausschließt (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 24. Mai 2016 - 7 L 1211/16.A -, juris Rn. 18).

b) Eine mit Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU in Einklang stehende vorzeitige Beendigung des Verbleibs des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland scheidet aus.

aa) Art. 46 Abs. 6 RL 2013/32/EU lässt in den dort unter lit. a) bis d) näher bestimmten Fällen die vorzeitige Beendigung des Verbleibs im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu. Einschlägig ist im vorliegenden Fall allein Art. 46 Abs. 6 lit. a) RL 2013/32/EU. Danach ist die vorzeitige Beendigung des Verbleibs unter weiteren Voraussetzungen zulässig, wenn ein Antrag im Einklang mit Art. 32 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU als offensichtlich unbegründet oder nach Prüfung gemäß Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU als unbegründet zu betrachten ist, es sei denn, diese Entscheidungen sind auf die in Art. 31 Abs. 8 lit. h) RL 2013/32/EU aufgeführten Umstände gestützt.

Das Bundesamt hat seine Entscheidung, die gemäß §§ 75 Abs. 1, 36 Abs. 1 und 38 Abs. 1 AsylG eine vorzeitige Beendigung des Verbleibs des Antragstellers in der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, auf § 30 Abs. 1 und 2 AsylG gestützt. Nach diesen Normen ist ein Antrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen (Abs. 1), insbesondere wenn nach den Umständen des Einzelfalls offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (Abs. 2).

Diese Normen finden in Art. 31 Abs. 8 lit. a) bis g) sowie i) und j) RL 2013/32/EU, die die über Art. 46 Abs. 6 lit. a) und Art. 32 Abs. 2 RL 2013/32/EU zu berücksichtigenden Gründe für eine vorzeitige Beendigung des Verbleibs abschließend (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 5 L 3947/15.A -, juris Rn. 20 ff.) bestimmen, keine unmittelbare Entsprechung. Art. 23 Abs. 4 lit. b) der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. L 326, S. 13; im Folgenden: RL 2005/85/EG), der über Art. 28 Abs. 2 RL 2005/85/EG eine § 30 Abs. 1 AsylG entsprechende Regelung enthielt, wurde nicht in Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU übernommen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 5 L 3947/15.A -, juris Rn. 26).

§ 30 Abs.1 AsylG lässt sich auch nicht unmittelbar auf Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU (Vorbringen des Antragstellers für Gewährung internationalen Schutzes nicht von Belang) stützen. Diese Norm ist weder an Stelle von Art. 23 Abs. 4 lit. b) RL 2005/85/EG getreten (Richtlinie 2005/85/EG enthielt mit Art. 23 Abs. 4 lit. a) eine Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU entsprechende Norm), noch ist sie mit Art. 23 Abs. 4 lit. b) RL 2005/85/EG deckungsgleich. Vielmehr ist letztere Norm wesentlich weiter als Art. 23 Abs. 4 lit. a) RL 2005/85/EG und Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU.

§ 30 Abs. 1 AsylG kann aber ohne Verstoß gegen Unionsrecht aufrechterhalten bleiben, soweit Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU i.V.m. Art. 46 Abs. 6 lit. a) und Art. 32 Abs. 2 RL 2013/13/EU eine vorzeitige Beendigung des Verbleibs zulassen und die von Art. 32 Abs. 8 lit. a) bis g) sowie i) und j) RL 2013/32/EU erfassten Fälle sich unter § 30 Abs. 1 AsylG subsumieren lassen. Letzteres ist allein bei Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU der Fall. Trägt ein Antragsteller nur Umstände vor, die für die Prüfung der Gewährung internationalen Schutzes nicht von Belang sind, so ist sein Antrag auch i.S.d. § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet. § 30 Abs. 1 AsylG ist daher einschränkend dahingehend auszulegen, dass er nur für die von Art. 31 Abs. 8 lit. a) erfassten Fälle gilt.

§ 30 Abs. 2 AsylG lässt sich dagegen unmittelbar auf Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU stützen. Hält sich ein Ausländer offensichtlich nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet auf, so bringt er lediglich Umstände vor, die für die Gewährung internationalen Schutzes nicht von Belang sind.

bb) Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 AsylG i.V.m. Art. 31 Abs. 8 lit. a) RL 2013/32/EU liegen hier ebenso wenig vor wie die Voraussetzungen des § 30 Abs. 2 AsylG.

Der Antragsteller hat sich anlässlich seiner Anhörung vor dem Bundesamt und im vorliegenden Verfahren darauf berufen, ihm drohe in Marokko Verfolgung wegen seiner religiösen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG) und politischen (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) Überzeugung. Damit hat er nicht nur Umstände vorgetragen, die für die Gewährung internationalen Schutzes nicht von Belang sind. Es ist auch nicht offensichtlich, dass der Antragsteller sich nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält. Weder hat er solche Gründe geltend gemacht, noch lassen sich Umstände feststellen, die diesen Schluss rechtfertigen. Der Kläger hat angegeben, er habe in Marokko vor seiner Ausreise etwa 300,- € im Monat verdient. Dies entspricht etwa 3000,- Dirham und liegt damit über dem gesetzlichen Mindesteinkommen in Marokko. Dieses beträgt derzeit für Tätigkeiten in Handel und Industrie ausgehend von einem Mindestlohn von 13,46 Dirham pro Stunde etwa 2.600,- Dirham im Monat und für Tätigkeiten in der Landwirtschaft ausgehend von einem Mindestlohn von 69,73 Dirham pro Tag etwa 1800,- Dirham im Monat (vgl. www.hayzoum.com/smig.html).

cc) Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der unter Setzung einer Ausreisefrist von einer Woche erlassenen Abschiebungsandrohung liegen auch dann nicht vor, wenn sich die aufgrund dieser Entscheidung mögliche vorzeitige Beendigung des Verbleibs in der Bundesrepublik Deutschland auf eine andere Norm des nationalen Rechts (im vorliegenden Fall: § 29a oder § 30 Abs. 3 bis 5 AsylG) stützen lässt und diese Norm in Art. 46 Abs. 6 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 lit. a) bis g) sowie lit. i) und j) RL 2013/32/EU ihre Entsprechung findet.

Ob sich die aufgrund der Entscheidung des Bundesamts mögliche vorzeitige Beendigung des Verbleibs in der Bundesrepublik Deutschland auf eine andere Norm des nationalen Rechts stützen lässt, hat das Gericht unabhängig von der Begründung des Bundesamts auf Grundlage der ihm vorliegenden Unterlagen eigenständig zu prüfen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15. Dezember 2015 - 5 L 3947/15.A -, juris Rn. 27 ff.; VG München, Urteil vom 24. Februar 2014 - M 24 K 13.30605 -, juris Rn. 46; Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Band 3, Stand: April 2016, § 36 Rn. 68 f.; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Februar 2016, § 30 AsylG Rn. 110 ff. und § 36 AsylG Rn. 83 f.; teilweise a.A. (keine Prüfung von § 30 Abs. 1 oder 2 AsylG wenn sich auf § 30 Abs. 3 AsylG gestützte Entscheidung des Bundesamts als nicht haltbar erweist) VG Leipzig, Beschluss vom 26. September 2011 - A 1 L 451/11 -, juris Rn. 15; VG Darmstadt, Beschluss vom 19. August 1999 - 8 G 30780/99.A -, NVwZ-Beilage I 2000, 47, 47; Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 36 Rn. 54).

Maßgeblich für die gerichtliche Prüfung im Verfahren zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist allein, ob die vom Bundesamt vorgenommene Beurteilung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet sich im Ergebnis als tragfähig erweist, ob sie also einer rechtlichen Überprüfung im Hauptsacheverfahren standhalten wird. Wie auch sonst bei gebundenen Entscheidungen hat das Gericht auch zu prüfen, ob die angefochtene Regelung sich aufgrund einer anderen Rechtsgrundlage als rechtmäßig erweist, solange die Heranziehung anderer als der im angefochtenen Bescheid genannten Normen und Tatsachen nicht zu einer Wesensveränderung des angefochtenen Bescheids führen würde oder den Betroffenen in seiner Rechtsverteidigung unzumutbar beeinträchtigen würde. Stuft das Bundesamt im Rahmen einer auf § 30 Abs. 3 bis 5 AsylG gestützten Entscheidung einen Asylantrag (inzident) als schlicht unbegründet ein, ist das Gericht hieran im Eilverfahren ebenso wenig gebunden wie im Klageverfahren (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Band 3, Stand: April 2016, § 36 Rn. 68; Hailbronner, Ausländerrecht, Band 3, Stand: Februar 2016, § 36 AsylG Rn. 84).

Die Entscheidung des Bundesamts lässt sich weder auf § 29a noch auf § 30 Abs. 3 bis 5 AsylG stützen. Insbesondere liegen weder die Voraussetzungen des § 29a AsylG (sicherer Herkunftsstaat) vor, noch lässt sich aufgrund des Anhörungsprotokolls feststellen, dass die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG (unzureichendes Vorbringen) oder des § 30 Abs. 3 Nr. 2 AsylG (Täuschung über Identität oder Staatsangehörigkeit) vorliegen.

c) Der Antragsteller kann sich gegenüber der Antragsgegnerin auf das gemäß Art. 46 Abs. 5 RL 2013/32/EU gewährleistete Bleiberecht berufen. [,,,]