OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 23.06.2016 - 13 LB 144/15 - asyl.net: M24155
https://www.asyl.net/rsdb/M24155
Leitsatz:

Eine Einbürgerungsbewerberin hat die Inanspruchnahme von Mitteln nach dem SGB II zu vertreten, wenn sie eine Arbeitsaufnahme verweigert, obgleich es ihr möglich wäre, ihrem Ehemann zumindest zeitweise die Betreuung des gemeinsamen Kindes zu überlassen, auch wenn dieses Kind das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, Sozialleistungen, Kinderbetreuung, Vertretenmüssen, Sicherung des Lebensunterhalts, Kleinkind,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Ein normativer Ausschluss des Vertretenmüssens aufgrund der Regelung des § 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II greift im vorliegenden Fall nicht ein. Nach dieser Bestimmung ist einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass die Ausübung der Arbeit die Erziehung ihres Kindes gefährden würde. Die Erziehung eines Kindes, das das dritte Lebensjahr vollendet hat, ist in der Regel nicht gefährdet, soweit die Betreuung in einer Tageseinrichtung oder in Tagespflege im Sinne des SGB VIII oder auf sonstige Weise sichergestellt ist. Es kann offen bleiben, ob diese Grenzziehung im Hinblick auf die Regelung des § 24 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) SGB VIII inzwischen überholt ist. Danach ist ein Kind, das das erste Lebensjahr noch nicht vollendet hat, in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege zu fördern, wenn die Erziehungsberechtigten einer Erwerbstätigkeit nachgehen, eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder Arbeit suchend sind. Gemäß § 24 Abs. 2 SGB VIII hat zudem ein Kind, das das erste Lebensjahr vollendet hat, bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres einen Anspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege. Nach dieser gesetzgeberischen Wertung kann von einer Gefährdung der Erziehung eines derart geförderten Kindes nicht ohne weiteres ausgegangen werden.

Unabhängig von der Frage der Existenz einer externen Betreuungsmöglichkeit ist die Erziehung eines Kindes, das das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, jedoch nicht gefährdet, wenn die Betreuung durch die Erziehungsberechtigten selbst sichergestellt werden kann. Es kann insoweit nicht allein auf die Kindererziehung durch die Klägerin als Mutter des Kindes abgestellt werden. Vielmehr ist auch die Möglichkeit der Betreuung durch den Vater in den Blick zu nehmen. Nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG sind Pflege und Erziehung der Kinder das natürliche Recht der Eltern und zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Dem entsprechend habe die Eltern nach den §§ 1626 Abs. 1, 1631 Abs. 1 BGB "die Pflicht und das Recht", für das minderjährige Kind zu sorgen (elterliche Sorge). Im Rahmen der Personensorge haben sie das Kind insbesondere zu pflegen, zu erziehen und zu beaufsichtigen. Es verstößt nicht gegen das in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG verankerte elterliche Erziehungsrecht, wenn eine zur Unzumutbarkeit der Arbeitsaufnahme führende Gefährdung der Erziehung eines gemeinsamen Kindes im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Nr. 3 SGB II erst dann angenommen wird, wenn keiner der beiden hilfebedürftigen Elternteile die Kinderbetreuung übernehmen kann (vgl. OVG NRW, Urt. v. 08.03.2016 - 19 A 1670/13 -, juris, Rdnr. 41 f., m.w.N.; vgl. zur früheren Rechtslage bereits: BSG, Urt. v. 25.04.1991 - 11 RAr 9/90 -, juris, Rdnr. 35 f.). Vielmehr wird auf diese Weise die normative Gleichwertigkeit der Erziehungsleistungen beider Elternteile unterstrichen.

Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, dass die personenübergreifende Zurechnungskonstruktion der sozialhilferechtlichen Bedarfsgemeinschaft im Einbürgerungsrecht keine Entsprechung findet. Allerdings kann dem einbürgerungswilligen Ausländer das Verhalten unterhaltsverpflichteter Familienangehöriger nicht einbürgerungshindernd zugerechnet werden (vgl. Senatsbeschl. v. 17.12.2013 - 13 LA 179/13 -, juris, Rdnr. 4 ff, m.w.N.). Um diese Frage geht es vorliegend jedoch nicht. Entscheidend ist allein, ob und ggf. in welchem Umfang die Klägerin durch die Notwendigkeit der Erziehung ihres Kindes an der Arbeitsaufnahme gehindert ist. Nur in diesem Zusammenhang wird ihr die Möglichkeit zugerechnet, ihr Kind auch durch ihren ebenfalls nicht erwerbstätigen und leistungsberechtigten Ehemann - den Vater des Kindes - betreuen zu lassen. Auch soweit die Klägerin durch diese Möglichkeit lediglich in die Lage versetzt würde, eine Teilzeitstelle anzunehmen, mit der insgesamt kein bedarfsdeckendes Einkommen erzielt werden könnte, änderte dies nichts an dem Erfordernis einer entsprechenden Arbeitsaufnahme. Denn der Einbürgerungsbewerber hat bereits eine betragsmäßige Erhöhung der von ihm bezogenen Sozialleistungen zu vertreten, die auf die Nichteinhaltung seiner Erwerbsobliegenheit zurückgeht (vgl. Senatsurt. v. 13.11.2013 - 13 LB 99/12 -, juris, Rdnr. 39). [...]