SG Mainz

Merkliste
Zitieren als:
SG Mainz, Beschluss vom 18.04.2016 - S 3 AS 149/16 - asyl.net: M24233
https://www.asyl.net/rsdb/M24233
Leitsatz:

[Aussetzung des Verfahrens und Vorlage an das BVerfG]

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG.

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 1/09 u.a. - Rn. 137). Die Gewährung existenzsichernder Leistungen darf deshalb nicht von der Erfüllung bestimmter Gegenleistungen, Handlungen oder Eigenschaften des Hilfebedürftigen oder von einem bestimmten Status des Hilfebedürftigen abhängig gemacht werden.

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 5 SGB II verstößt ebenfalls gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art 20 Abs. 1 GG.

Es ist kein verfassungsrechtliches Argument ersichtlich, weshalb bestimmten Personen nur deshalb, weil sie eine Ausbildung oder ein Studium absolvieren, das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht zustehen sollte.

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II greift tatbestandlich auch bei Personen, die über eine Aufenthaltserlaubnis nach § 16 Abs. 4 AufenthG oder § 18c AufenthG verfügen.

Der Verstoß gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II kann nicht durch einen Verweis auf die Möglichkeit der Rückkehr in den Herkunftsstaat vermieden oder gerechtfertigt werden (Fortführung von SG Mainz, Beschlüsse vom 02.09.2015 - S 3 AS 599/15 ER und vom 12.11.2015 - S 12 AS 946/15 ER).

Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verstößt auch gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 4 VO (EG) 883/2004. Der Gleichheitsverstoß kann nicht durch die Möglichkeiten gerechtfertigt werden, den Zugang zu nationalen Systemen der Sozialhilfe für Unionsbürger zu beschränken (vgl. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG) (entgegen EuGH, Urteil vom 15.09.2015 - C-67/14 - Rn. 63).

Der vom Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personenkreis hat keinen den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügenden Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem 3. Kapitel des SGB XII. Vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffene Personen sind zwar nicht generell von den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Die Gewährung der Leistungen steht jedoch im Ermessen der Behörde, was den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Ausgestaltung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nicht genügt.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Leistungsausschluss, Unionsbürger, Existenzminimum, existenzsichernde Leistungen, Gleichbehandlungsgebot, Diskriminierungsverbot, Gleichheitsgrundsatz, Sozialhilfe, Sozialrecht,
Normen: SGB II § 7, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 5, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art 20 Abs. 1, VO (EG) 883/2004 Art. 4, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2,
Auszüge:

Aufgrund des Umfangs der Entscheidung wird auf einen Textauszug verzichtet.

Vorlagefragen:

"Dem Bundesverfassungsgericht werden folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt:

a) Ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf

Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?

b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?"