VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 20.10.2016 - 5 A 523/16 MD - asyl.net: M24391
https://www.asyl.net/rsdb/M24391
Leitsatz:

Kein subsidiärer Schutz und kein Abschiebungsverbot für jungen Mann, der der Hazara Minderheit angehört und langjährig im Iran gelebt hat:

1. In Kabul herrscht kein innerstaatlicher Konflikt. Trotz der hohen Zahl ziviler Opfer und Verschlechterung der Sicherheitslage ist keine Extremgefahr anzunehmen.

2. Trotz schlechter Versorgungslage in Afghanistan besteht für junge alleinstehende arbeitsfähige Männer die Möglichkeit als Tagelöhner das erforderliche Existenzminimum zu erwirtschaften (bezieht sich auf Rechtsprechung des VGH Bayern).

3. Auch Zugehörige der ethnischen Minderheit der Hazara können in Kabul wenigstens ein "kümmerliches Einkommen erzielen" und damit "zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums finanzieren" als Tagelöhner das erforderliche Existenzminimum erwirtschaften und werden durch das soziale Netz der Hazara unterstützt.

4. Ein langjähriger Aufenthalt im Iran führt trotz Erkennbarkeit aufgrund eines iranischen Akzents nicht zur Existenzbedrohung von Rückkehrenden.

5. Eine Ausnahmesituation aufgrund schlechter humanitärer Bedingungen besteht für junge arbeitsfähige Männer in Afghanistan nicht, so dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG nicht in vorliegt (bezieht sich auf VGH Bayern Urteil vom 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - asyl.net: M22882).

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Entwurzelung, Iran, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Gefahrenprognose, junger Mann, alleinstehend, langjähriger Auslandsaufenthalt, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Sicherheitslage, extreme Gefahrenlage, Versorgungslage, Existenzminimum, Minderheit, Sprache, Rückkehrgefährdung, Ausnahme,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

1. Dem Kläger ist nicht gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

Nach diesen Grundsätzen und auf Grundlage der aktuellen Auskunftslage geht der Einzelrichter davon aus, dass in Kabul - als einzig mögliche Rückkehralternative - kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt herrscht, der für den Kläger zu einer erheblichen individuellen Gefahr führt. [...]

Das quantitative Kernkriterium für die zu treffende Gefahrenprognose ist zunächst die in der maßgebenden Region zu verzeichnende Zahl ziviler Opfer. [...]

Eine Aufschlüsselung der Gefährdungslage nach Regionen bzw. Provinzen enthält der Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen aus Januar 2016 (EASO, Afghanistan, Security Situation, verfügbar auf ecoi.net). Diesem Bericht lässt sich entnehmen, dass das Risiko für einen Zivilisten In der Provinz Kabul relativ gering ist, obwohl der Distrikt Kabul im Vergleich zu den meisten Distrikten in der Provinz und dem Land als Ganzes eine hohe Opferzahl aufweist. Dies liegt in der hohen Bevölkerungszahl (die Provinz Kabul verfügt über ca. 4,3 Mio. Einwohner) begründet (EASO, S. 39). Die im ersten Halbjahr des Jahres 2016 erfolgte Verschlechterung der Sicherheitslage führt zu keiner anderen Bewertung. Die Entwicklung ist in Anbetracht der hohen Bevölkerungszahl für die Annahme einer Extremgefahr unzureichend, denn die Wahrscheinlichkeit, in Kabul als Zivilperson Opfer eines Anschlags zu werden, liegt noch immer unter der Schwelle für eine Extremgefahr. Auch wenn man deshalb davon ausgeht, dass die Sicherheitslage in Gesamtafghanistan und auch in Kabul weiterhin angespannt bleibt, kann damit nicht festgestellt werden, dass der diesen Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, das in Kabul praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist. Dies gilt angesichts des festgestellten Risikos auch unter Einbeziehung der in Kabul und im gesamten Land unzureichenden medizinischen Versorgungslage.

2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes. [...]

Die Versorgungslage in Afghanistan ist schlecht. [...]

Allerdings ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass jeder Person bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod droht oder er alsbald schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. Auch die Lageberichte gehen letztlich davon aus, dass trotz großer Schwierigkeiten jedenfalls der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr nicht zu befürchten sind. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass jedenfalls für alleinstehende, arbeitsfähige, männliche afghanische Staatsangehörige ohne Ausbildung, die nicht auf die Hilfe von Verwandten oder Bekannten zurückgreifen können, grundsätzlich die Möglichkeit besteht, als Tagelöhner mit Aushilfsjobs ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Diese Ansicht wird von der überwiegenden Zahl der Obergerichte geteilt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 30.09.2015 - 13a ZB 15.30063 - juris; OVG NRW, Urteil vom 03.03.2016 -13 A 1828/09.A - juris Rn. 73 m.w.N.; OVG Lüneburg, Urteil vom 20.07.2015 - 9 LB 320/14 - juris; SächsOVG, Beschluss vom 21.10.2015 -1 A 144/15.A - juris).

Hieran ist grundsätzlich auch vor dem Hintergrund des aktuellen Berichts der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 30.09.2016 festzuhalten. Dort wird zwar ausgeführt, dass sich die Situation im Vergleich zu den Vorjahren nochmals verschärft habe. [...] Dass trotz dieser schwierigen Umstände der Tod oder schwerste Gesundheitsgefährdungen alsbald nach der Rückkehr zu befürchten sind, lässt sich dem Bericht allerdings nicht entnehmen. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass die afghanische Regierung für die Unterstützung verletzlicher Rückkehrender (weiterhin) auf die internationale Staatengemeinschaft angewiesen sei.

Auch der Bayrische Verwaltungsgerichtshof führt in einem Beschluss vom 13.06.2016 (13a ZB 16.30062 - juhs) aus:

"Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist im Einzelfall Ausländern ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zuzusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr. des BVerwG; vgl. nur BVerwGE 99, 324; 102, 249; 108, 77; 114, 379; 137, 226). Eine solche existenzielle Gefährdung lässt sich weder dem Amnesty International Report 2015/2016 - The State of the World's Human Rights - Afghanistan noch dem Aufsatz von Adam Naber, Afghanistan: Gründe der Flucht und Sorgen jugendlicher Rückkehrer, Asylmagazin 1-2/2016, S. 4 ff. entnehmen. Amnesty International berichtet davon, dass Ende 2015 noch immer tausende Menschen in überbelegten Lagern und Behelfsunterkünften bei mangelnden sanitären Einrichtungen lebten. Es ist aber nicht die Rede davon, dass etwa das Existenzminimum unterschritten wäre. Naber berichtet u.a. davon, dass junge zurückkehrende Männer im Durchschnitt ca. neun Monate lang nach einer Arbeit suchen und sich in Kabul vielfach auf eigene Faust durchschlagen, weil sie dort keine Familie haben oder sich nicht in deren Obhut begeben wollen. Außerdem ist vom Tagelöhnerdasein mit temporärer Minimalgrundsicherung und von absoluter Armut die Rede. Den Schluss, dass Rückkehrer im Allgemeinen einer unmittelbar drohenden extremen Gefahrensituation für Leib oder Leben ausgesetzt wären, kann man hieraus aber nicht ziehen."

Der Einzelrichter schließt sich dieser Einschätzung an.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass der Kläger als Zugehöriger der ethnischen Minderheit der Hazara keine Chance hätte, sich in Kabul etwa als Tagelöhner zu verdingen. Die vorliegenden Gutachten und Berichte enthalten keine entsprechenden Hinweise.

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015 zwar, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Zivilistlnnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. […] Von Entführungen, Übergriffen oder Lösegelderpressungen in der Landeshauptstadt Kabul wird nicht berichtet. Auch das ecoi.net-Themendossier zu Afghanistan (Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan & Chronologie für Kabul, letzte Aktualisierung 30.09.2016) enthält hierfür keinerlei Hinweise.

Zwar traf das am 23.07.2016 in Kabul verübte Attentat (Pressemitteilung der UNAMA vom 24.07.2016, siehe oben), bei dem mindestens 73 Menschen ums Leben gekommen sind, mehrheitlich Angehörige der Hazara, die dort für eine Verlegung einer großen Stromtrasse demonstrierten. Allerdings kann hieraus nicht geschlussfolgert werden, dass Angehörige der Hazara in Kabul nun generell mit Übergriffen zu rechnen haben. Das Auswärtige Amt teilt in seinem Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage vom 06.11.2015 mit, dass sich die Lage für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara grundsätzlich verbessert habe. Ihre Zahl werde auf etwa 3 Mio. geschätzt. Sie seien in der öffentlichen Verwaltung jedoch nach wie vor unterrepräsentiert. Auch gesellschaftliche Spannungen bestünden fort und lebten in lokal unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) berichtet, dass Diskriminierungen gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten verbreitet seien und es immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien komme, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußere sich in sozialer Diskriminierung, Erpressung, illegaler Besteuerung, Zwangsrekrutierung und -arbeit sowie physischen Übergriffen (SFH, Afghanistan: Update, Die aktuelle Sicherheitslage, 30.09.2016, S. 22).

Im Ergebnis lässt sich den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht entnehmen, dass Angehörige der Hazara keine Chance hätten, sich in Kabul als Tagelöhner zu verdingen. Angesichts einer amtlich geschätzten Gesamtbevölkerung von ca. 3,6 Millionen Menschen in Kabul Stadt (EASO, S. 28) kann nicht angenommen werden, dass der Kläger allein aufgrund seiner Volkszugehörigkeit unüberwindbaren Schwierigkeiten ausgesetzt wäre. Kabul beherbergt eine Vielzahl unterschiedlicher Ethnien (Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Baluchen, Sikhs und Hindus, vgl. EASO, S. 34). Auch wenn der Kläger daher anhand seines Aussehens als Hazara "erkannt" werden sollte, so dürfte er damit das Schicksal einer großen Anzahl von Einwohnern Afghanistans bzw. Kabuls teilen, ohne dass damit hinreichende individuelle Faktoren gegeben sind, die ausnahmsweise eine extreme Gefahrenlage begründen könnten. Überdies kann der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch auf die Unterstützung durch Angehörige seiner Volksgruppe zählen. Zum sozialen Netzwerk der Hazara heißt es in einem Dossier der Staatendokumentation aus Juli 2016 (Afpak - Grundlagen der Stammes- & Clanstruktur, verfügbar auf ecoi.net, S. 77), dass die Hazara eine ethnische Identität hätten, weshalb ein Hazara immer einem anderen Hazara in Not helfen werde, selbst wenn er nicht der eigenen Familie oder dem Klan angehöre. Das soziale Netz der Hazara in Afghanistan soll hierbei alle Bedürfnisse eines Menschen während seines gesamten Lebens abdecken. [...]

Vor diesem Hintergrund kann nicht davon ausgegangen werden, dass ein Afghane, der im Iran aufgewachsen und deshalb einen iranischen Dialekt spricht, bei einer Rückkehr nach Kabul in einer Weise "auffällt", die seine Chancen im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen im Vergleich zu denen anderer Afghanen als aussichtslos erscheinen lassen. Dass diese Gruppe von Afghanen bei einer Rückkehr nach Kabul gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde, lässt sich den Erkenntnismitteln nicht entnehmen.

Dies zugrunde gelegt, geht das Gericht davon aus, dass der Kläger auch ohne nennenswertes Vermögen und ohne abgeschlossene Berufsausbildung im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, wenigstens ein kümmerliches Einkommen zu erzielen, damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die afghanische Gesellschaft zu integrieren. Er ist ein junger, arbeitsfähiger und gesunder Mann. Unter Berücksichtigung der bisherigen Lebensgeschichte des Klägers und aufgrund des persönlichen Eindrucks vom Kläger, der bei seiner Befragung in der mündlichen Verhandlung gewonnen werden konnte, ist der Einzelrichter auch der Überzeugung, dass der Kläger über die notwendige Eigeninitiative, Durchsetzungsfähigkeit und die Fähigkeit verfügt, in kleinem Kreise ein soziales Netzwerk zu knüpfen, das ihm bei einer Eingliederung in Kabul behilflich sein kann. Der Kläger ist im Iran zwei Jahre zur Schule gegangen und kann ein wenig lesen und schreiben. Er hat während seiner Zeit im Iran gezeigt, dass er in der Lage ist, Hilfstätigkeiten im Baubereich auszuüben. Außerdem lebt ein Teil seiner Familie noch in seiner Heimatprovinz Daikundi. Auch wenn dieser Teil der Familie in ärmlichen Verhältnissen lebt und ebenfalls auf Unterstützung durch andere Familienmitglieder angewiesen ist, so verfügt der Kläger damit jedenfalls über familiäre Bindungen, was bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Blick auf die traditionell üblichen engen Familienbande hilfreich sein kann. [...]

b) Ohne Erfolg beruft sich der Kläger zudem auf das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Zum Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Urteil vom 21.11.2014 (13a B 14.30285 - juris) ausgeführt: [...]

Eine solche Ausnahmesituation ist im vorliegenden Fall nicht gegeben. Was die allgemeine Versorgungslage in Afghanistan anbelangt, so kann auf die obigen Ausführungen zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG verwiesen werden. Wenn die Rechtsprechung danach die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass (jedenfalls für arbeitsfähige junge Männer) ohne weiteres von einer Extremgefahr i.S.d. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ausgegangen werden könne, kann in der Regel auch nicht vom Vorliegen einer Ausnahmesituation i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG ausgegangen werden. Jedenfalls müssten hierfür besondere Umstände gegeben sein. Derartige Umstände sind vorliegend nicht ersichtlich. [...]