OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.11.2016 - 12 S 61.16 (ASYLMAGAZIN 1-2/2017, S. 56 ff.) - asyl.net: M24431
https://www.asyl.net/rsdb/M24431
Leitsatz:

Zu den Voraussetzungen der Erteilung einer Ausbildungsduldung:

1. Die unzureichende Mitwirkung bei der Passbeschaffung muss kausal dafür sein, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gem. § 60a Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht vollzogen werden können.

2. Maßgeblicher Zeitpunkt für bevorstehende konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG ist der Zeitpunkt der Beantragung der Ausbildungsduldung.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Ausbildung, Berufsausbildung, Duldung, Passbeschaffung, Kausalität, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Passlosigkeit, Verschulden, Vertretenmüssen, Aufenthaltsbeendigung, Bevorstehen konkreter Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung, Beurteilungszeitpunkt,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2 S. 4, AufenthG § 60a Abs. 6 S. 1 Nr. 2, AsylG § 61 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Der Antragsgegner macht zunächst ohne Erfolg geltend, der Erteilung einer Duldung stehe gemäß § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entgegen, dass gegenüber dem Antragsteller zu 1. aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus Gründen, die er selbst zu vertreten habe, nicht vollzogen werden könnten. Der Antragsteller zu 1. habe sich spätestens mit dem Eintritt der Vollziehbarkeit des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge – BAMF – Anfang Juni 2016 darum bemühen müssen, einen Pass seines Heimatlandes zu bekommen. Es komme nicht darauf an, dass seine Rückführung derzeit mit Hilfe der von Amts wegen beschafften Heimreisedokumente möglich sei. Es führe zu einem Wertungswiderspruch, wenn der Versagungsgrund nach § 60a Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG entfallen würde, sobald eine Passbeschaffung von Amts wegen Erfolg habe.

a) Es mag aus den von dem Antragsgegner geschilderten Gründen unerheblich sein, ob noch zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus den in § 60a Abs. 2 Satz 4 i.V.m. Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG genannten Gründen nicht mehr vollzogen werden können. Selbst wenn man insoweit auf einen früheren Zeitpunkt abstellen wollte, ist jedoch erforderlich, dass von dem ausreisepflichtigen Ausländer zu vertretende Gründe kausal die Abschiebung verhindert haben. Insofern könnte bereits zweifelhaft sein, ob die Passlosigkeit des Antragstellers zu 1. ein von ihm zu vertretender Grund im Sinne des Gesetzes ist. Zwar dürfte die unzureichende Mitwirkung bei der Passbeschaffung einen Versagungsgrund darstellen, auch wenn die in § 60a Abs. 6 Satz 2 AufenthG genannten Regelbeispiele nicht erfüllt sind. Der Antragsgegner geht in seinen Verfahrenshinweisen (S. 363 Stand 7.11. 2016) jedoch davon aus, dass Ausländern, die nach Abschluss ihres Asylverfahrens erstmals vorsprechen, ihre Passlosigkeit nicht vorzuwerfen ist, sofern eine entsprechende Belehrung nach §§ 48, 49 AufenthG bislang nicht erfolgt ist (so auch Stiegeler, Asylmagazin 6/2005 S. 5, 7). Dass der Antragsteller zu 1. zur Passbeschaffung aufgefordert worden ist, lässt sich den Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen.

b) Selbst wenn man insoweit berücksichtigen wollte, dass die Passlosigkeit in den Verantwortungsbereich des Ausländers fällt (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 18. Januar 2006 - 18 B 1772.05 - juris Rn. 64 ff.) und dieser gehalten ist, eigenständig die Initiative zu ergreifen, das bestehende Ausreisehindernis zu beseitigen, liegen bei summarischer Prüfung die Voraussetzungen des § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG nicht vor. Es ist nicht davon auszugehen, dass das fehlende Bemühen des Antragstellers zu 1., einen Pass zu bekommen, ursächlich dafür war, dass er nicht abgeschoben werden konnte. Dagegen spricht bereits, dass der Antragsgegner jederzeit die Möglichkeit hatte, Passersatzpapiere zu beschaffen, da die Identität des Antragstellers zu 1. geklärt war (vgl. OVG Lüneburg; Beschluss vom 8. November 2005 - 12 ME 397.05 - juris Rn. 13). Jedenfalls lässt vorliegend der Geschehensablauf bis zur geplanten Abschiebung des Antragstellers zu 1. am 11. August 2016 nicht die Annahme zu, dass sein fehlendes Bemühen, einen Reisepass zu bekommen, seine Abschiebung kausal verhindert hat.

Das Verwaltungsgericht Berlin hat den gegen die ablehnende Entscheidung des BAMF vom 19. Mai 2016 gerichteten Antrag des Antragstellers zu 1. nach § 80 Abs. 5 VwGO mit dem am 8. Juni 2016 zugestellten Beschluss vom 7. Juni 2016 (VG 7 L 334.16 A) abgelehnt. Es bestehen keine Anhaltspunkte, dass eine Abschiebung sofort nach Wegfall der Sperrwirkung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG erfolgt wäre, wenn der Antragsteller zu 1. im Besitz eines Passes gewesen wäre. Vielmehr hat der Antragsgegner erst am 1. Juli 2016 die Passbeschaffung eingeleitet, mithin zu erkennen gegeben, dass nunmehr die Abschiebung des Antragstellers zu 1. vollzogen werden soll. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass die für die Passbeschaffung erforderliche Zeit die Abschiebung verzögert hat. Denn dem Antragsgegner lag bereits am 7. Juli 2016 die Zustimmung der Behörden aus Pristina zur Rückübernahme des Antragstellers zu 1. und am 19. Juli 2016 ein Passersatzpapier für ihn vor, während die Abschiebung "erst" für den 11. August 2016 vorgesehen war. Dass der Antragsteller zu 1. tatsächlich vor dem 11. August 2016 abgeschoben worden wäre, wenn zum Zeitpunkt der Einleitung der Passbeschaffung am 1. Juli 2016 ein gültiger Pass vorlegen hätte, lässt sich dem Beschwerdevorbringen nicht entnehmen.

c) Ob der Antragsgegner sich widersprüchlich verhalten hat, weil er dem Antragsteller zu 1. mit der Aufenthaltsgestattung gemäß § 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG den Arbeitsmarktzugang trotz fehlender Bemühungen, einen Reisepass zu erlangen, gewährt hatte, bedarf vor dem geschilderten Hintergrund keiner Entscheidung. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Erlaubnis vom 8. Oktober 2015, eine Ausbildung aufzunehmen, entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht zwingend zu erteilen war. § 61 Abs. 2 Satz 1 AsylG eröffnet und eröffnete auch zur damaligen Zeit Ermessen (vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 11. Oktober 2016 - 4 K 2553.16 - juris Rn. 6; VG Berlin, Beschluss vom 14. April 2016 - 11 L 49.16 - juris Rn. 15 m.w.N.).

2. Eine Änderung der Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtfertigt auch nicht der Einwand des Antragsgegners, dass Abschiebemaßnahmen im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG konkret bevorstehen. Zutreffend dürfte er zwar davon ausgehen, dass dies nicht einen konkreten Rückführungstermin voraussetzt. Zumindest nach den Gesetzesmaterialien sollen Abschiebemaßnahmen bereits konkret bevorstehen, wenn z.B. Passersatzpapiere beantragt worden sind (BT-Drs. 18/9090 S. 25).

Wenn man dem folgend davon ausgehen wollte, bereits mit der informellen Einleitung der Passbeschaffung seien Abschiebemaßnahmen hinreichend konkret veranlasst worden, hindert dies die Erteilung einer Duldung gem. § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG jedoch nicht. Denn die Einleitung der Passbeschaffung am 1. Juli 2016 erfolgte nach dem Zeitpunkt der Beantragung der Ausbildungsduldung am 9. Juni 2016. Dies dürfte bei der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der für das Vorliegen der vorgenannten Voraussetzung maßgebliche Moment sein.

Für die Frage, auf welchen Zeitpunkt für das Bevorstehen konkreter Abschiebemaßnahmen abzustellen ist, scheiden aus Gründen des materiellen Rechts der Termin der gerichtlichen Entscheidung und derjenige der Behördenentscheidung aus (vgl. VGH Mannheim, Beschluss vom 13. Oktober 2016 - 11 S 1991.16 - juris Rn. 19). Eine andere Sichtweise würde es ermöglichen, den Anspruch auf eine Ausbildungsduldung auch längere Zeit nach Aufnahme einer qualifizierten Berufsausbildung ohne weiteres durch Einleitung von Maßnahmen zur Durchsetzung der Ausreisepflicht wieder entfallen zu lassen. Dies entspräche nicht der Intention des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG, der Ausbildungsverhältnisse schützen soll, die sich als Folge einer bereits begonnenen Integration darstellen, und Ausbildungsverhältnisse, die erst im Lichte einer drohenden Aufenthaltsbeendigung nach dem Entfallen oder der Feststellung des Fehlens von Abschiebungshindernissen angestrebt oder aufgenommen werden, aus seinem Anwendungsbereich ausklammern will (vgl. VG Neustadt, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - 2 L 680.16.NW - juris Rn. 7).

Auch der Zeitpunkt der Aufnahme der Berufsausbildung dürfte nicht maßgeblich für das Bevorstehen konkreter Abschiebemaßnahmen sein, da der Ausländerbehörde dieser nicht ohne weiteres bekannt ist und zudem der Duldungsanspruch nach dem Wortlaut des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG auch bei schon aufgenommener Ausbildung nicht entsteht, wenn konkrete Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung bevorstehen. Entsprechend den vorangegangenen Ausführungen werden insoweit auch Ausbildungsverhältnisse ausgeklammert, die erst im Lichte drohender Aufenthaltsbeendigung, aber noch im Vorfeld konkret bevorstehender Abschiebemaßnahmen begründet und aufgenommen werden. Auch der Zeitpunkt der Einreichung des Ausbildungsvertrages bei der zuständigen Kammer oder der Eintragung des Ausbildungsverhältnisses in die Lehrlingsrolle (vgl. VG Neustadt, a.a.O. Rn. 8) scheint daher nicht maßgebend.

Vor dem geschilderten Hintergrund spricht mehr dafür, auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Beantragung der Ausbildungsduldung abzustellen. Dies steht in Einklang mit dem dargestellten Sinn des § 60a Abs. 2 Satz 4 AufenthG. Es ermöglicht ferner, den vom Gesetzgeber anerkannten Interessen von Ausbildungsbetrieben und Auszubildenden Rechnung zu tragen sowie einen angemessenen Interessenausgleich zwischen getätigtem Vertrauen und dem öffentlichen Interesse an der Aufenthaltsbeendigung herbeizuführen (vgl. VGH Mannheim, a.a.O.; VG Freiburg, Beschluss vom 11. Oktober 2016 - 4 K 3553.16 - juris Rn. 9).

Soweit der Antragsgegner geltend macht, für die Frage des maßgeblichen Zeitpunkts bevorstehender Abschiebungsmaßnahmen spiele es eine Rolle, dass dem Antragsteller zu 1. nach Abschuss des Asylverfahrens die Fortführung der Ausbildung nicht mehr erlaubt und sie bis zum Erlass des Integrationsgesetzes dem Grunde nach über § 60a Abs. 2 Satz 3 und 4 AufenthG a.F. auch nicht legalisierungsfähig gewesen sei, überzeugt dies nicht. Diese Umstände, die allein an die nach dem Duldungsantrag eingetretene Rechtsänderung anknüpfen, helfen nicht, die Frage nach dem maßgeblichen Moment bevorstehender Abschiebemaßnahmen zu beantworten. Im Übrigen ist anzumerken, dass es im Ergebnis zur Anwendung des ausgelaufenen Rechts führen würde, wollte man dem Antragsteller zu 1. fehlenden Vertrauensschutz mit Blick auf die frühere Rechtslage entgegenhalten. Eine entsprechende Abwicklung von "Altfällen" nach altem Recht hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen.

3. Da nach alledem dem Antragsteller zu 1. vorläufig eine Duldung zu erteilen ist, können auch dessen Familienangehörige gemäß § 60a Abs.2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 GG mit Erfolg eine Duldung beanspruchen. [...]