VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Urteil vom 31.01.2017 - A 3 K 4482/16 - asyl.net: M24680
https://www.asyl.net/rsdb/M24680
Leitsatz:

Jedenfalls wehrpflichtige Syrer haben gem. § 3 Abs. 4 AsylG Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlings­eigenschaft. Ihnen droht bei hypothetischer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung - im Hinblick auf die illegale Ausreise, den längeren Auslandsaufenthalt und die Asylantragstellung in Deutschland jedenfalls wegen zugesicherter politischer Verfolgung (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG) und - wegen ihrer Wehrdienstpflichtigkeit - aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3a Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG).

(Amtlicher Leitsatz)

Anm. d. Red.: Das VG bezieht sich hier in seiner umfassenden Begründung auf zahlreiche Länderberichte und setzt sich dabei auch mit der entgegenstehenden Auffassung des OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2016 (M24540) auseinander.

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung, illegale Ausreise, politische Verfolgung, Verfolgungsgrund, Militärdienst, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

b) Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund beachtlicher Furcht vor Verfolgung ist ferner - selbstständig tragend - aufgrund des Umstands anzunehmen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zum Wehrdienst eingezogen und sodann zur Teilnahme an den Kriegshandlungen bestimmt würde. [...]

All dies schließt der Bericht aus folgenden, näher beschriebenen Umständen: Zerstörung ziviler Einrichtungen (Wohn- und Geschäftsgebäude, Schulen, öffentliche Anlagen/Einrichtungen, Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, Luftschläge gegen ausschließlich zivilgenutzte Gegenden mit zahlreichen zivilen Opfern), Belagerung und Aushungerung (mehrheitlich von oppositioneller Bevölkerung) bewohnter Gegenden, Verhinderung des humanitären Zugangs, ungezügelt erfolgende Kriegsverbrechen, wobei explizit auch dem syrischen Regime Derartiges zur Last gelegt wird.

Aus alledem schließt die Kammer, dass im Hinblick auf syrische Wehrdienstpflichtige eine Sachlage vorliegt, die eine Verfolgungshandlung i.S.d. Art. 9 Abs. 2 lit. e) QRL 2004/83/EG (dem § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG entspricht) begründet. Denn Wehrdienstpflichtige erfüllen alle Voraussetzungen, wie sie der EuGH in seiner Leitentscheidung zu § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG vom 26.2.2015 (Rs. C-472/13 - Shepherd - juris = NVwZ 2015, 575) aufgestellt/eingefordert hat. Insbesondere ist mit beachtlicher (hoher) Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass Angehörige der syrischen Armee an Kriegsverbrechen i.S.d. § 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG (jedenfalls mittelbar) beteiligt sind/wären.

Die Verweigerung des Militärdienstes knüpft auch an das Verfolgungsmerkmal der politischen Überzeugung i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 2 Nr. 5 AsylG an. Denn ein Regime, das den Krieg unter Verletzung humanitärer Rechtsregeln führt, sieht im Verweigerer einen Oppositionellen, so dass die ihm drohende Strafverfolgung oder sonstige Bestrafung Verfolgung darstellt (EuGH, C-175, 176, 178, 179/08, Slg. 2010, I- 1532 = NVwZ 2010, 505 = AuAS 2010, 150 Rn. 70 – Abdullah; zitiert nach Marx, NVwZ 2015, 579, 582; wie hier VG Sigmaringen, Urteil vom 23.11.2016 - A 5 K 1372/16 - juris Rn. 119 mit Verweis auf VG Magdeburg, Urteil vom 12.10.2016 - 9 A 175/16 - juris; VG Oldenburg, Urteil vom 18.11.2016 - 2 A 5162/16 - juris; schweiz. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013 - a.a.O.: "Die politische Verfolgungstendenz ist hier darin zu sehen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern bezweckt wird und dass Verweigerer seitens des syrischen Regimes als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen menschenrechtswidrig behandelt werden.").

Sofern das OVG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG - n.v.) - hiervon abweichend - vertritt, dass keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Konnexität/Gerichtetheit zwischen Verfolgungshandlung und Anknüpfungsmerkmal bestünde, weil von der Rekrutierung in die syrische Armee prinzipiell alle Männer unabhängig vom ethnischen oder religiösen Hintergrund betroffen seien und hinsichtlich der Wehrdienstpflichtigen nicht erkennbar sei, dass sich aus der Wehrdienstentziehung allein ein sog. Politmalus ergebe, folgt die erkennende Kammer dem explizit nicht. Denn die Kammer vermag keinen Unterschied zwischen Deserteuren, bzgl. derer wohl auch das OVG Rheinland-Pfalz eine Gerichtetheit i.S.d. § 3a Abs. 3 AsylG annehmen will, und (noch nicht desertierten) Wehrdienstpflichtigen/Rekruten zu erkennen. Letztere haben sich (ggü. ersteren) lediglich vor ihrer Einberufung bereits dem Wehrdienst entzogen. Dass das syrische Regime hierin ein Unterscheidungskriterium erblicken und Wehrdienstentzieher ggü. Deserteuren signifikant "besser" (i.S.v. völkerrechtmäßiger) behandeln würde, ist den zitierten Erkenntnisquellen nicht zu entnehmen. Schließlich spricht auch nicht die massenhafte Desertion bzw. Wehrdienstentziehung gegen die Zuschreibung eines Anknüpfungsmerkmals. Vielmehr schlägt die Desertion bzw. Wehrdienstentziehung auf jeden einzelnen Betroffenen durch, denn - wie das OVG Rheinland-Pfalz selbst ausführt - besteht ein erhebliches Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee, sodass ein Interesse gerade an jedem einzelnen Wehrdienstpflichtigen anzunehmen ist. [...]