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Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 19.01.2017 - V ZB 99/16 (ASYLMAGAZIN 4/2017, S. 171) - asyl.net: M24688
https://www.asyl.net/rsdb/M24688
Leitsatz:

Aufhebung des LG Beschlusses und Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung:

1. Ein vor der Einreise nach Deutschland liegendes Verhalten einer betroffenen Person (hier: Passvernichtung) kann kein Verhindern der Abschiebung nach § 62 Abs. 4 S. 2 AufenthG darstellen.

2. Nur wenn die betroffene Person eine sich bereits konkretisierende Abschiebung ursächlich vereitelt oder erschwert, ist ausnahmsweise eine Haftverlängerung über sechs Monate hinaus zulässig.

3. Von einem derartigen Verhinderungsverhalten durch Unterlassen einer Mitwirkungspflicht kann nur ausgegangen werden, wenn aus der Haftentscheidung hervorgeht, dass die betroffene Person über ihre Mitwirkungspflicht hinreichend belehrt wurde.

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Haftgründe, Passpflicht, Mitwirkungspflicht, Haftanordnung,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 4 S. 2, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 3, AufenthG § 62 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Verlängerung der Abschiebungshaft über sechs Monate hinaus setzt nach § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG voraus, dass der Ausländer seine Abschiebung verhindert.

a) Die Vorschrift des § 62 AufenthG enthält im Hinblick auf die zulässige Haftdauer eine abgestufte Regelung, § 62 Abs. 3 Satz 3 AufenthG lässt erkennen, dass Abschiebungshaft in der Regel nicht länger als drei Monate dauern soll (Senat, Beschluss vom 9. Februar 2012 - V ZB 305/10, juris Rn. 27). Eine über diesen Zeitraum hinausgehende Haftanordnung bis zu sechs Monaten ist zulässig, worin aus von dem Ausländer zu vertretenden Gründen die Abschiebung erst nach mehr als drei Monaten durchgeführt werden kann (§ 62 Abs. 3 Satz 3, Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Zu vertreten hat der Ausländer nicht nur solche Umstände, die für die Behebung des Abschiebungshindernisses von Bedeutung sein können, sondern auch Gründe, die - von ihm zurechenbar veranlasst - dazu geführt haben, dass ein Hindernis für seine Abschiebung überhaupt erst entstanden ist, etwa indem er seinen Pass weggegeben hat (vgl. Senat, Beschluss vorn 25. März 2010 - V ZA 9/10, NVwZ 2010, 1175 Rn. 20; Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 238).

Über sechs Monate hinaus - bis maximal 18 Monate - kann die Haft nur ausnahmsweise verlängert werden (vgl. BT-Drs. 11/6321, S. 76), nämlich nur in den Fällen, in denen der Ausländer seine Abschiebung verhindert (§ 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG).

b) Ein Verhindern im Sinne des § 62 Abs. 4 Satz 2 AufenthG liegt vor, wenn ein von dem Willen des Ausländers abhängiges pflichtwidriges Verhalten ursächlich dafür ist, dass die Abschiebung nicht erfolgen konnte. Erforderlich ist, dass das für die Abschiebung bestehende Hindernis auf ein Tun des Ausländers zurückgeht, zu dessen Unterlassen er verpflichtet ist, oder auf ein Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun (Senat, Beschluss vom 25. Februar 2010 - V ZA 2/10, juris Rn. 13). Ein vor seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland liegendes Verhalten des Ausländers genügt aber nicht (vgl. KG, FGPrax 2000, 83, 84; BayObLG, Beschluss vom 16. September 2004, 4Z BR 70/04, juris Rn. 11; OLG Frankfurt, InfAuslR 1998, 112, 113 f.). Es bedarf vielmehr eines Verhaltens, mit dem der Ausländer eine - etwa aufgrund der Anordnung, Deutschland zu verlassen (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Juli 1996 - V ZB 14/96, BGHZ 133, 235, 239) - sich bereits konkretisierende Abschiebung zu vereiteln oder zu erschweren versucht. Nur wenn das Verhalten des Ausländers einen Bezug zu einer konkret zu erwartenden und sich bereits abzeichnenden Abschiebung aufweist, ist es geeignet, die ausnahmsweise Verlängerung der Haft über sechs Monate hinaus zu begründen.

Schließlich muss das Verhinderungsverhalten ursächlich dafür sein, dass der Ausländer bisher nicht abgeschoben werden konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Oktober 2011 - V ZB 126/11, juris Rn. 9). Ergibt sich, dass die Abschiebung (z.B. wegen zögerlicher Bearbeitung der Heimatbehörden) auch ohne das Verhinderungsverhalten des Ausländers nicht innerhalb der ersten sechs Monate möglich gewesen wäre, ist dieses nicht ursächlich für die Verzögerung (BayObLG, Beschluss vom 16. September 2004, 4Z BR 70/04, juris Rn. 13). [...]

aa) Von einem Unterlassen trotz bestehender Verpflichtung zu einem Tun kann im Regelfall nur ausgegangen werden, wenn die Ausländerbehörde den Betroffenen über den Umfang seiner nicht ohne weiteres auf der Hand liegenden Mitwirkungspflichten (vgl. §§ 48, 49 AufenthG, § 15 AsylG) belehrt hat, sie ihn zur Vornahme der im jeweiligen Einzelfall erforderlichen konkreten Mitwirkungshandlung aufgefordert und der Betroffene deren Vornahme verweigert hat (vgl. BayObLG, InfAuslR 2001, 176, 177; Saarländisches OLG, FGPrax 1999, 243, 244; HK-AuslR/Keßler, AufenthG, 2. Aufl., § 62 Rn. 36). [...]