LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 17.02.2017 - L 6 AS 11/17 B ER - asyl.net: M24785
https://www.asyl.net/rsdb/M24785
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung von vorläufigen Leistungen nach SGB II:

1. Bis zum 28.12.2016 kein Leistungsausschluss für eine Unionsbürgerin mit schulpflichtigen Kindern, da sie ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 Wanderarbeitnehmer-VO (492/2011/EU) für Kinder ehemaliger Arbeitnehmer (und ihrer Eltern) haben und daher nicht nach der alten Fassung von § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen waren. Das Aufenthaltsrecht entsteht auch, wenn der Arbeitnehmerstatus eines Elternteils erst nach Beginn der Ausbildung besteht.

2. Der ab dem 29.12.2016 auch für Aufenthaltsberechtigte nach Art. 10 Wanderarbeitnehmer-VO (492/2011/EU) geltende Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Bst. c SGB II ist nach vorläufiger Würdigung europarechtswidrig.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Unionsbürger, Leistungsausschluss, Unionsrecht, Sozialleistungen, Änderung der Rechtslage, Sozialleistungen, Kind, Kinder, tatsächlicher Schulbesuch, Schulbesuch, SGB II, Bedarfsgemeinschaft, Sozialhilfe, freizügigkeitsberechtigt, Wanderarbeitnehmer, Wanderarbeitnehmerverordnung, Sozialrecht, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Arbeitssuche, Arbeitslosigkeit, Gleichheitsgrundsatz, Neuregelung,
Normen: SGG § 86b Abs. 2 S. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 a.F., SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Bst. c, VO 492/2011 Art. 10, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 2, RL 2004/38/EG Art. 24 Abs. 1, VO 492/2011 Art. 7 Abs. 2, VO 883/2004 Art. 4,
Auszüge:

[...]

Für den Zeitraum vom 12. Dezember 2016 bis zum 28. Dezember 2016 geht auch der Senat davon aus, dass den Antragstellern mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II zustehen. [...]

Im Übrigen teilt der Senat die Auffassung des Sozialgerichts, dass der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II a.F. (in der bis zum 28. Dezember 2016 gültigen Fassung) nicht greift. Der Senat schließt sich nach eigener Prüfung der Auffassung des BSG in seiner Entscheidung vom 3. Dezember 2015 – B 4 AS 43/15 R zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II a.F. an, dass aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 ein anderes Aufenthaltsrecht als ein solches zum Zwecke der Arbeitsuche folgt (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 27. Januar 2016 – L 19 AS 29/16 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 29. April 2016 – L 4 AS 182/16 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 27. Mai 2016 – L 4 AS 160/16 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 7. Juni 2016 – L 2 AS 84716 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 1. Juli 2016 – L 26 AS 1421/16 B ER; SG Dortmund, Beschluss vom 20. Juli 2016 – S 32 AS 3037/16 ER; Sächsisches LSG, Beschluss vom 21. Oktober 2016 – L 7 AS 973/16 B ER; a.A. LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. Januar 2016 – L 15 AS 226/15 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. August 2016 – L 3 AS 376/16 B ER; Hessisches LSG, Beschluss vom 31. Oktober 2016 – L 7 AS 565/16 B ER – jeweils zitiert nach juris). [...]

Für die Zeit ab 29. Dezember 2016 ist zwar mit § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II ein neuer Ausschlussgrund eingeführt worden, der sich auf Personen bezieht, die ein Aufenthaltsrecht aus Art. 10 VO (EU) 492/2011 herleiten. Diesen Leistungsausschluss hält der Senat allerdings bei vorläufiger Würdigung für gemeinschaftsrechtswidrig. Da eine Vorlage an den EuGH im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes untunlich ist, geht er nach Folgenabwägung vorläufig von einer Leistungspflicht des Antragsgegners aus. [...]

Der Senat teilt die Bedenken des Sozialgerichts hinsichtlich der Gemeinschaftsrechtskonformität des neu eingeführten § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II. Sofern der Gesetzgeber in seiner Begründung (BT-Drs. 18/10211, S. 13) davon ausgeht, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II auf die Regelungen der Freizügigkeitsrichtlinie stützen zu können, teilt der Senat diese Ansicht nicht (vgl. Deutscher Bundestag, Ausschuss für Arbeit und Soziales18. Wahlperiode, Ausschussdrucksache 18(11)851 vom 25. November 2016 – aus den dort wiedergegebenen Stellungnahmen geht hervor, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II überwiegend europarechtlich problematisch bzw. ausdrücklich gemeinschaftsrechtswidrig gesehen wird; vgl. auch Derksen, info also 2016, 257 ff., der von einer Europarechtswidrigkeit ausgeht; kritisch auch Leopold in: jurisPK, SGB II, 4 Aufl. 2015, § 7 Rn. 99.15). So ist zwar zutreffend, dass bisher vom EuGH noch nicht ausdrücklich entschieden worden ist, ob Personen, die ein Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO (EU) 492/2011 besitzen, existenzsichernde Leistungen gemeinschaftskonform verweigert werden kann. Allerdings spricht die überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II europarechtswidrig ist, da eine den Leistungsausschluss rechtfertigende gemeinschaftsrechtliche Schrankenregelung nicht bestehen dürfte. Insbesondere dürfte als eine solche Schrankenregelung Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG nicht greifen. [...]

Eine Geltung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nach Art. 24 Abs. 1 Satz 1 sowie dessen Erstreckung auf den Personenkreis nach Abs. 1 Satz 2 RL 2004/38/EG setzt damit ein Aufenthaltsrecht allein aus dieser Richtlinie voraus. [...] Dagegen begründet Art. 10 VO (EU) 492/2011 ein von den in Kapitel III der Richtlinie 2004/38/EG normierten Aufenthaltsrechten unabhängiges und originäres eigenständiges Aufenthaltsrecht zu Ausbildungszwecken, welches ohne nationalen Umsetzungsakt unmittelbar im jeweiligen Mitgliedstaat Geltung beansprucht. [...] Durch die autonome Stellung des Aufenthaltsrecht aufgrund der VO (EU) 492/2011 vormals VO (EWG) 1612/68 soll eine mögliche Schlechterstellung gegenüber dem Zustand vor Inkrafttreten der RL 2004/38/EG verhindert werden (EuGH, Urteil vom 23. Februar 2010 – C-480/08 – Teixeira – Rn. 59 – juris), d.h. das Aufenthaltsrecht soll gerade nicht davon abhängig gemacht werden, dass ausreichend Existenzmittel sowie umfassender Krankenversicherungsschutz gegeben sind. Dabei hat der EuGH in seinen Entscheidungen Teixeira und Ibrahim auch deutlich gemacht, dass unter Gleichbehandlungsgesichtspunkten der Zugang zur Ausbildung umfassend auszulegen ist, d.h. auch die finanziellen Ressourcen, die benötigt werden, um die Ausbildung abzuschließen, umfasst sind, da ansonsten das gewährleistete Aufenthaltsrecht im Aufnahmestaat aus wirtschaftlichen Gründen ins Leere laufen würde. Der Leistungsausschluss dürfte damit gegen das in Art. 7 Abs. 2 VO (EU) 492/2011 und Art. 4 VO 883/2004 Gleichbehandlungsgebot verstoßen, da die VO (EU) 492/2011 keine Beschränkungen des Gleichheitsgebots vorsieht und die VO 883/2004 jegliche Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit verbietet. Nach alledem sprechen die überwiegenden Gründe dafür, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. c SGB II nicht mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. [...]