VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 24.02.2017 - 10 C 16.2086 - asyl.net: M24909
https://www.asyl.net/rsdb/M24909
Leitsatz:

Prozesskostenhilfe bei offener Erfolgsaussicht wegen mangelnder Sachaufklärung:

1. Prozesskostenhilfe für eine Klage auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bei offener Erfolgsaussicht.

2. Obwohl der Lebensunterhalt nicht gesichert ist, kann möglicherweise eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn wegen fortdauernder Erkrankung von der Lebensunterhaltssicherung abzusehen ist.

3. Die über Jahre hinweg mehrfach hausärztlich bescheinigte Erwerbsunfähigkeit hätte eine weitere Sachaufklärung durch die Ausländerbehörde veranlassen müssen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, erwerbsfähig, Erwerbsminderung, Prozesskostenhilfe, Sachaufklärung, Sicherung des Lebensunterhalts, offene Erfolgsaussichten, Erfolgsaussichten, Krankheit, Sachaufklärungspflicht, Ermessen,
Normen: VwGO § 166 Abs. 1 S. 1, ZPO § 114 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Streitig ist im vorliegenden Fall, ob der Klägerin trotz des - unbestritten - nicht gesicherten Lebensunterhalts (§ 26 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG) aufgrund der Sondervorschrift des § 26 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. § 9 Abs. 2 Satz 6 u. Satz 3 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden kann. Das wäre dann der Fall, wenn die Klägerin die Anforderung des gesicherten Lebensunterhalts wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung nicht erfüllen kann (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.2008 - 1 C 34/07 - juris 14 ff.; BVerwG, B.v. 22.11.2016 - 1 B 117/16, 1 PKH 82/16 - juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 18.6.2015 - 10 C 15.675 - juris Rn. 11). Dem Verwaltungsgericht ist zuzustimmen, dass das Alter der Klägerin insoweit nicht mit einer "Krankheit oder Behinderung" gleichgestellt werden kann (BayVGH, B.v. 14.5.2009 - 19 ZB 09.785 - juris Rn. 12 ff.; Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Aufl. 2016, § 9 Rn. 77). Die Klägerin macht aber geltend, sie sei bereits vor Eintritt ins "Rentenalter" während ihres seit 1996 andauernden Aufenthalts im Bundesgebiet wegen einer fortdauernden Erkrankung nicht in der Lage gewesen, ihren Lebensunterhalt zu sichern bzw. eine ausreichende Altersvorsorge aufzubauen. [...] Angesichts der über Jahre hinweg mehrfach hausärztlich bescheinigten Erwerbsunfähigkeit hätte für die Ausländerbehörde Veranlassung bestanden, dem näher nachzugehen, und beispielsweise eine amtsärztliche Überprüfung zu veranlassen, jedenfalls aber ein ausführliches und substantiiertes Attest des behandelnden Hausarztes zu verlangen und vor allem die weiteren Unterlagen der Landesversicherungsanstalt beizuziehen. [...]

Angesichts der fehlenden weiteren Sachaufklärung durfte sich auch das Verwaltungsgericht nicht allein auf den Inhalt der Behördenakte zurückziehen und hinreichende Erfolgsaussicht der Klage deswegen verneinen. Welche tatsächlichen Erkenntnisse die weitere Sachaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) bringen wird, ist als offen anzusehen.

Den hinreichenden Erfolgsaussichten der Klage steht nicht entgegen, dass - wenn die Tatbestandsvoraussetzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis vorliegen - deren Erteilung gemäß § 26 Abs. 4 Satz 1 AufenthG im Ermessen steht und die Ausländerbehörde in dem streitgegenständlichen Bescheid vom 10. November 2014 (Seite 6) bereits angekündigt hat, dass sie die Erteilung der Niederlassungserlaubnis auch im Rahmen einer Ermessensentscheidung ablehnen würde. Insoweit sind noch nicht eindeutig entschiedene Rechtsfragen zu klären, denn es ist in den Einzelheiten umstritten, welche Gesichtspunkte mit welchem Gewicht in die Ermessenserwägungen eingestellt werden dürfen (allg. Göbel-Zimmermann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 12) und wann eine Ermessensreduzierung "auf Null" anzunehmen ist (Marx, Aufenthalts- Asyl- und Flüchtlingsrecht, 6. Aufl. 2017, Rn.196; Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 20; BayVGH, U.v. 16.4.2008 - 19 B 07.336 - juris Rn. 42).

Insbesondere umstritten ist das Gewicht der allgemeinen migrationspolitischen Vorgaben des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich der Begrenzung der Zuwanderung (vgl. Maaßen/Kluth in Kluth/Heusch, Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1.11.2016, § 26 Rn. 343, sowie Hailbronner, Ausländerrecht, A1, Stand Dez. 2016, § 26 Rn. 27 einerseits; Göbel-Zimmermann in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 13, andererseits) und die Frage, ob nicht erbrachte Anforderungen, auf die - wie hier - aufgrund persönlicher Umstände verzichtet wird, im Rahmen des Ermessens als Versagungsgrund herangezogen werden dürfen (vgl. Fränkel in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 26 Rn. 20; BayVGH, U.v. 16.4.2008 - 19 B 07.336 - juris Rn. 42). [...]