OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 04.04.2017 - 3 L 69/17 - asyl.net: M25002
https://www.asyl.net/rsdb/M25002
Leitsatz:

Ablehnung des Berufungszulassungsantrags einer Familie aus Syrien:

1. Nur die Berufungszulassung aufgrund von Divergenz nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist einschlägig, wenn ein Verwaltungsgericht in einer Tatsachenfrage von dem Berufungsgericht abweicht. Allerdings ist eine solche Divergenzzulassung ausgeschlossen, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben. Hiervon ist in Bezug auf Syrien im Vergleich zu den Verhältnissen 2012 auszugehen, die dem Urteil des OVG Sachsen-Anhalt vom 18.7.2012 - 3 L 147/12 - zugrunde lagen.

2. Der Berufungszulassungsantrag wegen grundsätzlicher Bedeutung i.S.d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG der Frage, ob syrischen Staatsangehörigen allein wegen illegaler Ausreise, Asylantragstellung und Auslandsaufenthalt Verfolgung aufgrund politischer Überzeugung droht, setzt sich nicht in ausreichendem Maß mit der Entscheidung des VG Halle auseinander.

3. Auch hinsichtlich der Frage, ob bei Wehrdienstentziehung Verfolgung droht, ist der Berufungszulassungsantrag nicht ausreichend begründet. Das VG Halle hatte die Flüchtlingseigenschaft abgelehnt, da der Betroffene aus einem von Kurden kontrollierten Gebiet stammt, in dem die syrische Armee nicht rekrutiere, und weil er mit seinen 48 Jahren das wehrpflichtige Alter von bis zu 42 Jahren überschritten habe.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, illegale Ausreise, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, Grundsätzliche Bedeutung, Berufungszulassungsantrag, Flüchtlingseigenschaft, Berufungszulassung, Berufungszulassungsgründe, Darlegungsgebot, Begründung, Abweichung, Divergenz, Divergenzzulassung, Grundsatzzulassung, Militärdienst, Wehrpflicht, politische Verfolgung, Reservisten, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 28 Abs. 1a, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

1. Die Kläger haben den geltend gemachten Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 Asylgesetz - AsylG -) nicht den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechend dargelegt. [...]

Hieran gemessen wird die Zulassungsschrift der Kläger den Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht gerecht.

a. Die Antragsschrift wirft zunächst die Frage auf, "ob Flüchtlingen aus Syrien - wie den Klägern - im Falle ihrer Rückkehr dorthin allein aufgrund illegaler Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt beachtlich wahrscheinlich politische Verfolgung droht oder ob individuelle Gründe hinzutreten müssen". [...]

In aller Regel indiziert eine Abweichung des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung eines anderen als des im Instanzenzug übergeordneten Oberverwaltungsgerichts die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 26. Januar 1993 - 2 BvR 1058/92 -, juris Rn. 15; Gemeinschaftskommentar zum Asylgesetz [GK-AsylG], 110. Ergänzungslieferung, November 2016, § 78 Rn. 107). Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn das angegangene Oberverwaltungsgericht die entscheidungserhebliche Tatsachenfrage - wie hier - bereits entschieden hat. Eine grundsätzliche Bedeutung ist in diesem Fall nicht anzunehmen, wenn beide Oberverwaltungsgerichte die aufgeworfene Tatsachenfrage übereinstimmend beantwortet haben. Auch bei divergierender obergerichtlicher Rechtsprechung gilt dies jedenfalls, wenn sich das angegangene Oberverwaltungsgericht bei seiner Entscheidung mit der Bewertung des Erkenntnismaterials zu einer bestimmten Tatsachenfrage durch das andere Oberverwaltungsgericht auseinandergesetzt hat (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 4. März 1996 - 2 BvR 2409/95 -, juris). Denn in diesen Fällen fehlt es an der erforderlichen Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Tatsachenfrage, zumal das Bundesverwaltungsgericht als Revisionsgericht zur Vereinheitlichung der Rechtsprechung in Tatsachenfragen nichts beitragen kann, da eine höchstrichterliche Klärung in diesen Fällen in aller Regel weder möglich noch erforderlich ist. Deshalb begründet insbesondere eine abweichende Tatsachenfeststellung oder -würdigung durch ein anderes Berufungsgericht für sich allein keinen weiteren Klärungsbedarf (vgl. GK-AsylG, a.a.O., § 78 Rn. 147 f. m.w.N.).

Von vornherein ist nicht die Grundsatzzulassung, sondern allein die Divergenzzulassung nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG eröffnet, wenn ein Verwaltungsgericht in einer "prinzipiellen" Tatsachenfrage bei im Kern unveränderten tatsächlichen Verhältnissen der von dem Berufungsgericht vorgenommenen Klärung der Tatsachenfrage nicht folgt. Andererseits kommt bei Tatsachenfragen eine Divergenzzulassung dann nicht mehr in Betracht, wenn sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich geändert haben und die Rechtsprechung des Berufungsgerichts deshalb als überholt anzusehen ist (vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 2. März 1976 - VII B 22.76 -, juris; Beschluss vom 23. März 2009 - 8 B 2.09 -, juris). Insbesondere im Bereich von Tatsachenfragen ist nämlich zu berücksichtigen, dass die Verbindlichkeit einer grundsätzlichen Aussage unter dem Vorbehalt der Änderung der Sachlage steht, der Grundsatz also Geltung nur für die ihm zugrunde gelegte tatsächliche Erkenntnislage beansprucht (vgl. HessVGH, Beschluss vom 19. Juli 2000 - 5 UZ 2128/96.A -, juris; NdsOVG, Beschluss vom 13. Januar 2009 - 11 LA 471/08 -, juris; OVG NRW, Beschluss vom 24. Juni 1999 - 14 A 2788/94.A -, juris).

Von einer solchen Änderung der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse ist hier hinsichtlich des Urteils des Senats vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) auszugehen. [...]

Seither haben sich jedoch nachhaltige Veränderungen der politischen und militärischen Verhältnisse ergeben (ebenso: SaarlOVG, Urteil vom 2. Februar 2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 24), wie sich nicht nur der dichten Presseberichterstattung, sondern auch einer Reihe von Berichten und Stellungnahmen verschiedener Organisationen entnehmen lässt (etwa Schweizerische Flüchtlingshilfe "Syrien: Umsetzung der Amnestien" vom 14. April 2015; vierte aktualisierte Fassung der "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen" vom November 2015; Bericht der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde von Kanada [Immigration and Refugee Board of Canada] vom 19. Januar 2016; Amnesty Report 2016 vom 24. Februar 2016). Auf Basis dieser und anderer aktuell zur Verfügung stehender Erkenntnismittel geht die obergerichtliche Rechtsprechung derzeit davon aus, dass die syrischen Sicherheitskräfte bei zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerbern selektiv vorgehen und erst zusätzliche signifikante gefahrerhöhende Merkmale oder Umstände die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung begründen (so BayVGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 B 16.30338 -, juris Rn. 70; ähnlich SaarlOVG, Urteil vom 2. Februar 2017, a.a.O., Rn. 30), bzw. sind der Auffassung, dass zwischenzeitlich auch dem syrischen Staat bekannt sein dürfte, dass die weit überwiegende Anzahl der Flüchtenden aus Angst vor dem Bürgerkrieg und den daraus resultierenden Folgen ihr Heimatland verlassen haben (in diesem Sinne OVG NRW, Beschluss vom 6. Oktober 2016 - 14 A 1852/16.A -, juris Rn. 18; OVG SH, Urteil vom 23. November 2016 - 3 LB 17/16 -, juris Rn. 40; hierauf ebenfalls hinweisend, aber letztlich offen lassend: OVG RP, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 50 ff.).

Bei dieser Sachlage ist die Entscheidung des Senats vom 18. Juli 2012 (a.a.O.) als überholt anzusehen, weshalb eine Zulassung wegen Divergenz ausscheidet und allein die Rüge der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache wegen neuerlichen Klärungsbedarfs in Betracht kommt. [...]

Es ist deshalb vorliegend allein anhand der vorgetragenen Gründe darüber zu befinden, ob der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung gegeben ist. [...]

Diesen Anforderungen wird die Zulassungsschrift nicht gerecht. Die Kläger haben sich mit dem vom Verwaltungsgericht herangezogenen Erkenntnismaterial und den konkreten Erwägungen des Verwaltungsgerichts zur Rückkehrgefährdung syrischer Staatsangehöriger weder im Hinblick auf die allgemeine Gefährdungslage noch unter dem Gesichtspunkt evtl. zu berücksichtigender individueller Gründe auseinandergesetzt. Die Bezugnahme auf eine vermeintlich divergierende obergerichtliche Rechtsprechung reicht insoweit nicht aus.

b. Die Antragsschrift wirft weiter die Frage auf, "ob rückkehrende syrische Männer im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige und Reservisten bis zum Alter von 54 Jahren), die sich durch die Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben, bei einer Rückkehr nach Syrien eine Verfolgung durch den syrischen Staat in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle Gesinnung droht".

Soweit sich die Kläger zur Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung dieser Frage allein auf ein Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (Az.: 21 B 16.30372, juris) berufen, werden sie ihren Darlegungsanforderungen ebenfalls nicht gerecht. In der zitierten Entscheidung hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof angenommen, dass einem 31-jährigen syrischen Reservisten im Falle der Rückkehr in die Arabische Republik Syrien in Anknüpfung an eine ihm wegen der Ausreise trotz Militärdienstpflichtigkeit (unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter drohe. Demgegenüber ist das Verwaltungsgericht in der angegriffenen Entscheidung unter Auseinandersetzung mit einer Vielzahl aktuell zur Verfügung stehender Erkenntnismittel und unter Hinweis auf die vorliegend bestehenden Besonderheiten zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger zu 1. eine derartige Gefahr nicht drohe. Zur Begründung weist das Gericht zum einen darauf hin, dass die Kläger zuletzt in einem von Kurden kontrollierten Gebiet gelebt hätten. Den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln lasse sich entnehmen, dass die syrische Armee in diesen Gebieten nicht rekrutiere. Deshalb könne nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Kläger zu 1. mit seiner Ausreise der Militärpflicht entzogen habe. Zum anderen sei der Kläger zu 1. bereits 48 Jahre und habe damit das Alter überschritten, in dem alle Männer nach Ableistung ihres Grundwehrdienstes als Reservisten geführt würden. Das Verwaltungsgericht geht hierbei - wie im Übrigen auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in der Entscheidung vom 12. Dezember 2016 (a.a.O.) - davon aus, dass die allgemeine Wehrpflicht in Syrien lediglich bis zum Alter von 42 Jahren bestehe. Mit diesen durch das Gericht vorliegend festgestellten Besonderheiten setzen sich die Kläger nicht weiter auseinander. [...]