SG Stade

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Zitieren als:
SG Stade, Beschluss vom 10.05.2017 - S 19 AY 19/17 ER (ASYLMAGAZIN 7-8/2017, S. 314 f.) - asyl.net: M25021
https://www.asyl.net/rsdb/M25021
Leitsatz:

Einstweilige Anordnung Grundleistungen nach § 3 AsylbLG zu gewähren:

Es ist hinreichend wahrscheinlich, dass die Rechtsfolge des neuen § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungswidrig ist. Hiernach sind Leistungen eingeschränkt bei Personen für die aufgrund von EU-Verteilung (Relocation) oder Schutzberechtigung ein anderer Staat zuständig ist. Außerdem besteht die Möglichkeit, die Ermessensleistungen nach § 1a Abs. 2 S. 3 AsylG verfassungskonform auszulegen und den Betroffenen daher Grundleistungen zumindest als Sachleistungen zu gewähren (unter Bezugnahme auf BVerfG Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - asyl.net: M19839).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Anspruchseinschränkung, Sozialleistungen, Leistungseinschränkung, Leistungskürzung, ausländische Anerkennung, Anerkannte, internationaler Schutz, Existenzminimum, menschenwürdiges Existenzminimum, Sozialrecht, physisches Existenzminimum, soziokulturelles Existenzminimum, Verteilung, Verteilmechanismus, EU-Verteilung, Grundleistungen,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 4, AsylbLG § 3, AsylbLG § 1a Abs. 2 S. 3, AsylbLG § 3 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag auf Anordnung einer aufschiebenden Wirkung ist gemäß § 86b Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGG unzulässig. Es fehlt an einem Rechtsschutzbedürfnis, da der Antragsteller mit diesem Antrag sein Begehren auf höhere Leistungen nicht erreichen kann. In der Hauptsache kann Rechtsschutz nicht durch eine Anfechtungsklage, sondern durch eine Anfechtungs- und Leistungsklage erfolgen. Mit dem Bescheid vom 20. Februar 2017 sind dem Kläger nicht bewilligte Leistungen entzogen, sondern Leistungen ab März 2017 bewilligt worden. Würde das Gericht die aufschiebende Wirkung dieses Bescheides anordnen, hätte der Kläger für den Monat März 2017 gar keinen Anspruch auf Leistungen. [...]

Es liegt ein Anordnungsgrund vor. Der Antragsteller hat die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile hinreichend glaubhaft gemacht. Er begehrt höhere Leistungen zur Deckung seines monatlichen Existenzbedarfs über den rein physischen Bedarf hinaus. Der Bedarf für die monatliche Existenzsicherung fällt immer aktuell an. Eine spätere Entscheidung kann den Nachteil einer laufenden Bedarfsunterdeckung nicht mehr beseitigen.

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht. Es besteht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass in der Sache ein gegebener materieller Leistungsanspruch besteht. Zwar liegt der Tatbestand der Anspruchseinschränkung nach § 1a Abs. 4 AsylbLG in der Fassung vom 31. Juli 2016 vor. Die Rechtsfolge regelt eindeutig eine Absenkung des Anspruchs auf das physische Existenzminimum. […]

Dennoch besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller in der Hauptsache höhere Leistungen erhält, da zweifelhaft ist, ob die Absenkung auf das physische Existenzminimum verfassungsgemäß ist. Das Gericht selbst hat zwar an einer Entscheidung vom 31. Januar 2017 (S 19 AY 15/16) nicht die Überzeugung gewinnen können, dass die Vorschrift verfassungswidrig ist. [...] Bezüglich der Feststellung, ob eine hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Leistungsanspruchs vorliegt, kommt es jedoch nicht nur auf das erkennende Gericht, sondern den gesamten Instanzenzug an. Da derzeit keine abschließenden höchstrichterlichen Entscheidungen vorliegen, ist es unter Berücksichtigung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012 (Az: 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11) hinreichend wahrscheinlich, dass die Rechtsfolge des neuen § 1a Abs. 4 AsylbLG verfassungswidrig ist. Dies ergibt sich daraus, dass dem Antragsteller nur noch das physische Existenzminimum gewährt wird. Auch wenn die Verfassung nicht die Gewährung von bedarfsunabhängigen voraussetzungslosen Sozialleistungen gebietet (vgl. Bundesverfassungsgericht vom 7. Juli 2010 - 1 BvR 2556/09) ist den hier lebenden Personen unabhängig vom Aufenthaltsrecht neben dem physischen Existenzminimum immer auch ein soziokulturelles Existenzminimum zu gewähren. Auch wenn die Kammer in dem Hauptsacheverfahren nicht die Überzeugung gewinnen kann, dass die Leistungseinschränkung verfassungswidrig ist, besteht zurzeit eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass das LSG oder BSG das Verfahren aussetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Sollte das Bundesverfassungsgericht die abgesenkten Leistungen für evident unzureichend halten, würde es selbst einen höheren Wert vorgeben oder die Rechtsfolge der Vorschrift verwerfen, so dass dies auch Auswirkungen auf das Hauptsacheverfahren hätte. Daneben besteht die Möglichkeit, dass das LSG oder BSG die Ermessensleistungen nach § 1a Abs. 2 Satz 3 AsylbLG dahingehend verfassungskonform auslegen, dass dem betroffenen Leistungsempfänger Leistungen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylbLG zumindest als Sachleistung gewährt werden müssen.

Die Leistungen sind vorläufig ab Antragstellung bei Gericht am 24.04.2017 zu gewähren. Die Begrenzung der zeitlichen Wirkung des Beschlusses auf einstweiligen Rechtsschutz bis zum 30.04.2018 ist ausreichend, um nach Ablauf des Zeitraums eine neue Betrachtungsweise vornehmen zu können. Dieser Zeitraum ist auch notwendig, um zu verhindern, dass in nächster Zeit weitere Verfahren nach dem einstweiligen Rechtsschutz notwendig werden. [...]