VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 02.06.2017 - 9 A 619/16 MD - asyl.net: M25177
https://www.asyl.net/rsdb/M25177
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Asylsuchende aus Syrien wegen Wehrdienstentziehung:

Jedem potentiell Wehrdienstpflichtigen, der Syrien verlassen hat, droht bei Rückkehr die Gefahr, aufgrund einer ihm unterstellten regimefeindlichen Gesinnung verfolgt zu werden (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung, dass eine Verfolgung aus politischen Gründen nur droht, wenn bereits ein Einberufungs- oder Mobilisierungsbefehl vorliegt).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, politische Verfolgung, Wehrpflicht, Verfolgungsgrund, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, Flüchtlingseigenschaft, Verknüpfung, Bestrafung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 4, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3 Abs. 2, AsylG § 28, AsylG § 28 Abs. 1a,
Auszüge:

[…]

2. Es kann dahinstehen, ob der Kläger bereits vorverfolgt aus Syrien ausgereist ist. Denn jedenfalls droht ihm bei seiner Rückkehr politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Das Gericht ist nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon überzeugt, dass der syrische Staat mit verfolgungsrelevanten Maßnahmen i.S.v. § 3a AsylG auf den Militärdienstentzug des Klägers reagiert, weil dies für das Regime Ausdruck einer politisch oppositionellen Überzeugung des Klägers ist (a). Eine inländische Fluchtalternative steht ihm insoweit nicht zur Seite (b). An der bisherigen Rechtsauffassung der Kammer, dass eine solche Beachtlichkeit nur dann anzunehmen ist, wenn ein konkreter Einberufungs- oder Mobilisierungsbefehl vorliegt, wird ausdrücklich nicht mehr festgehalten.

a) Der Kläger hält sich in begründeter Furcht vor politischer Verfolgung wegen des mit der Ausreise aus Syrien einhergehenden Entzugs vom Wehrdienst im Ausland auf. […]

Dem im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung 19-jährigen und wehrpflichtigen Kläger droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei seiner Rückkehr wegen seiner Militärdienstverweigerung ein erheblicher Eingriff von beträchtlicher Intensität durch den syrischen Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG). da er sich der Ausübung derselben durch seine Flucht ins Ausland entzogen hat Dieser besteht einerseits (aa) in einer ihm drohenden unverhältnismäßigen Strafverfolgung und Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, in dem der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 AsylG fallen (§ 3a Abs. 2 Nr. 3 und 5 AsylG). Andererseits drohen dem Kläger zu 1. schwerste Menschenrechtsverletzungen bis hin zu Folter wegen der ihm aufgrund der Wehrdienstentziehung zumindest unterstellten regimefeindlichen Überzeugung (bb). Dem Kläger steht vor den vom syrischen Staat ausgehenden Maßnahmen kein interner Schutz zur Seite (cc).

Dabei ist es unbeachtlich, ob eine Einberufung zum Militärdienst vor der Ausreise aus Syrien unmittelbar bevorstand, da sich der Kläger im wehrpflichtigen Alter befindet und aufgrund des zuvor beschriebenen Bedarfs der syrischen Armee auch seine Rekrutierung beachtlich wahrscheinlich gewesen wäre. Unbeachtlich ist auch der Umstand, ob eine wehrpflichtige Person bereits Wehrdienst geleistet hat und somit lediglich noch als Reservist zur Verfügung steht. Denn in keinem der Erkenntnismittel wird hinsichtlich der Einberufung zwischen aktiven Wehrdienst und Reservistendienst unterschieden, weshalb für das Gericht auch keine Veranlassung besteht anzunehmen, der syrische Staat werde bei einer Verfolgung differenzieren. Deshalb läuft jeder potentiell Militärdienstpflichtige, der Syrien verlassen und sich im Ausland während der Zeit seiner Militärdienstpflicht aufgehalten hat, als Angehöriger dieser Gruppe aufgrund einer ihm unterstellten regimefeindlichen Gesinnung bei seiner Rückkehr Gefahr, einer Einzelverfolgung ausgesetzt zu sein. Dies gilt ungeachtet der Herkunftsregion des Wehrdienstpflichtigen. Zwar rekrutiert der syrische Staat lediglich in dem Gebiet, über welches er herrscht; die allgemein geltende Militärdienstpflicht gilt jedoch ungeachtet dessen, in welcher Region sich die Person vor ihrer Ausreise tatsächlich aufgehalten hat (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien v. 29.03.2017, III.). […]

Soweit allein der Bestrafung wegen der Entziehung vom Wehr- bzw. Reservistendienst nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts grundsätzlich Flüchtlingsrelevanz nicht zukommt (vgl. hierzu BVerfG, Urt. v. 11.12.1985 - 2 BvR 361/83, 2 BvR 449/83 -; BVerwG, Urt. v. 31.03.1981 - C 6.80 -; beide juris), steht dies der Annahme der Verfolgung im Fall des Klägers nicht entgegen. Denn der hier beachtlichen Strafverfolgung und Bestrafung wohnt darüber hinaus eine politische Verfolgungstendenz inne. Auch einer generellen Maßnahme oder Regelung wie gerade der Verpflichtung zum Waffendienst kann eine - nicht offen zutage liegende - politische Verfolgungstendenz innewohnen, etwa dann, wenn zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. […]

Das Gericht ist davon überzeugt, dass die Strafverfolgung oder Bestrafung bei Wehrdienstentzug in Syrien nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient; vielmehr sind sie als Maßnahmen zu qualifizieren, die darüber hinaus eine vermutete staatsfeindliche, mithin eine bestimmte politische Gesinnung treffen und diese eliminieren sollen. Die so festgestellten unverhältnismäßig hohen Strafen stellen einen Malus dar, bei dessen Vorliegen eine über den legitimen Strafzweck hinausgehende und damit flüchtlingsrechtlich relevante Motivation zu vermuten ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht Österreich, Entscheidung vom 01.06.2016 - W224 2114759-1/SE; Bundesverwaltungsgericht der Schweiz, Urt. v. 18.02.2015 - D-5553/2013 -). Auch erreichen die mit der Strafverfolgung einhergehenden Maßnahmen gegenüber Wehrdienstverweigerern nach ihrer Art und Intensität ein Maß, welches ohne Zweifel Rückschlüsse auf eine daraus zu entnehmende Anknüpfung an eine zumindest unterstellte politische Verfolgung deshalb zulassen, weil Wehrdienstverweigerer ebenso wie politische Gegner behandelt werden.

Soweit das OVG Nordrhein-Westfalen eine flüchllingsrelevante Verfolgung (hierzu s. nachstehend) in Anknüpfung an Vertolgungsgründe i.S.d. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG verneint (vgl. Urt. v. 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A -, juris), vermag sich das erkennende Gericht mit den vorstehend dargelegten Anhaltspunkten der zugrunde gelegten Erkenntnisquellen nicht anzuschließen.

Eine dem Kläger drohende Strafverfolgung oder Bestrafung stellt sich zudem als Verfolgungshandlung 1m Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG dar, wonach eine Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt dann als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 2 fallen, die sich mithin als Verbrechen gegen den Frieden, als ein Kriegsverbrechen oder als ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen, darstellen würden. […]

Der Dienst in der syrischen Armee beinhaltet gerichtsbekanntermaßen Handlungen, welche die Grundsätze der Menschlichkeit und des humanitären Völkerrechts missachten. […]

bb} Das Gericht geht zudem davon aus, dass Personen, die sich dem Militärdienst durch Flucht in das Ausland entzogen haben, in Anknüpfung an eine {unterstellte) oppositionelle Gesinnung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte droht; sie müssen bei ihrer Ergreifung mit Folter, lebenslanger Haft, Hinrichtung oder der Todesstrafe rechnen.

Dafür, dass diesen Personen eine staatsfeindliche Gesinnung zumindest unterstellt wird, spricht die Lage, in der sich der syrische Staat befindet. Dieser führt einen Überlebenskampf, zu dessen Sicherung/Wiederherstellung er einen Bürgerkrieg mit dem Ziel führt, ein Machtgefüge wie zu Beginn des Jahres 2011 zu errichten. Der syrische Staat setzt deshalb alles daran, seine Macht zu erhalten und geht in seinem Einflussgebiet ohne Achtung der Menschenrechte und der völkerrechtlichen Regeln der Kriegsführung - insbesondere den Schutz der Zivilbevölkerung - gegen tatsächliche und vermeintliche Regimegegner mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Führt die Erreichung dieses Zieles nur über den Erfolg in kämpferischen Auseinandersetzungen mit den verfeindeten Gruppen (IS, FSA, Al Fatah etc.), unterstellt er Personen, die nicht bereit sind, an diesem Ziel mitzuwirken, ohne Zweifel eine feindselige Gesinnung (so auch Schweizerisches Bundesverwaltungsgericht, a.a.O.). […]

Diese Einschätzung deckt sich sowohl mit der durch den UNHCR als das Auswärtige Amt getroffenen Bewertung zu vulnerablen Gruppen. Auch Recherchen von Amnesty International haben ergeben, dass das syrische Regime neben den Fahnenflüchtlingen auch diejenigen als Gegner des Regimes betrachtet, bei denen lediglich die Absicht der Desertion vermutet wird. […]

Das Regime betrachtet nach diesen Erkenntnissen bereits Regierungssoldaten. Denen es lediglich die Absicht des Überlaufens oder der oder Fahnenflucht unterstellt, als Verräter; diese werden verhaftet oder verschwinden auf gewaltsame Weise. […] Dass Personen, die sich dem Wehrdienst entzogen haben, Gefahr laufen, als Oppositionelle eingestuft zu werden, folgt nicht zuletzt daraus, dass die Mobilisierung der syrischen Armee gerade der Bekämpfung der (oppositionellen) Rebellengruppen dient Aus diesen Gründen werden Männer im wehrfähigen Alter auch als "verletzlichste Gruppe" bei der Einreise angesehen. Das Gericht sieht insofern keinen signifikanten Unterschied zwischen den Ausgereisten und den Personen im wehrtäh1gen Alter aus Gebieten unter der Kontrolle regierungsfeindlicher bewaffneter Gruppen, die bei ihrer Rückeroberung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt sind. Dies nicht zuletzt deshalb, weil syrischen Männern im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 42 Jahren die Ausreise verboten ist, so dass diese seither grundsätzlich nicht mehr die Möglichkeit der legalen Ausreise haben. […]

Auch die von diesen Gerichten gegen eine politische Verfolgung vorgebrachten staatlichen Amnestien. zuletzt mit dem Dekret Nr. 32/2015 im Juli 2015 (vgt. SFH, Syrien: Umsetzung der Amnestien, Stand: 14.04.2015, S. 1; DRC. a.a.O., S. 19). vermögen eine andere Bewertung nicht zu rechtfertigen. […] Gleiches gilt für die bloß theoretisch bestehende Möglichkeit der erneuten Beantragung einer Befreiung. […]

Vor diesem Hintergrund ergibt sich die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung in Anknüpfung an flüchtlingsrelevante Merkmale vornehmlich aus dem - unduldsamen - Charakter des um seine Existenz kämpfenden Staates und den von seinen Machthabern mit größter Härte und unter Einsatz menschenrechtswidriger Mittel verfolgten Zielen (vgl. Bayrischer VGH, Urt. v. 12.12.2016 - 21 B 16.303372 -. juris). Zwar drängt es sich zugegebenermaßen für einen rational wertenden und handelnden Staat nicht auf, von der Flucht aus einer Bürgerkriegssituation auf eine politische Gegnerschaft zu schließen. Unter den dargestellten Verhältnissen in Syrien ist ein solches Herangehen bei der Beurteilung der begründeten Furcht vor politischer Verfolgung bei Rückkehr eher realitätsfern. Denn wird Personen allein aufgrund ihrer physischen Anwesenheit in einem bestimmten Gebiet oder ihrer Abstammung aus einem solchen eine politische Gegnerschaft unterstellt (UNHCR/Februar 2017, S. 16), so besteht kein nachvollziehbarer Grund, warum der bedingungslos zur Erreichung seiner Ziele agierende syrische Staat bei objektiver Betrachtung gegenüber dem Militärdienstentzug eine andere Haltung einnehmen sollte.

Die Kenntniserlangung syrischer staatlicher Stellen im Falle der Rückkehr des Klägers ist auch beachtlich wahrscheinlich. Denn bei der über den Flughafen Damaskus erfolgenden Einreise nach Syrien wird er strengen Kontrollen des syrischen Sicherheitsdienstes unterzogen. […]

cc) Mit den vorliegenden Erkenntnismitteln steht für den Kläger ein schutzbietender Dritter aufgrund der Kriegssituation nicht zur Verfügung(§ 3d AsylG). […]

b) Dem Kläger steht auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG offen. [...]