OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 21.03.2017 - 8 B 8/17 - asyl.net: M25190
https://www.asyl.net/rsdb/M25190
Leitsatz:

1. Das nach dem AufenthG grundsätzlich erforderliche Visumsverfahren findet auf die drittstaatsangehörigen Familienmitglieder von Unionsbürgern keine Anwendung.

2. Die Einhaltung der Visumspflicht ist keine materielle Voraussetzung des Freizügigkeitsrechts.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufenthaltskarte, Familiennachzug, Unionsbürger, drittstaatsangehöriger Ehegatte,
Normen: FreizügG/EU § 2, FreizügG/EU § 3, FreizügG/EU § 4, FreizügG/EU § 5, FreizügG/EU § 11
Auszüge:

[...]

Gemäß § 5 Abs. 1 S. 1 FreizügigG/EU wird freizügigkeitsberechtigten Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, von Amts wegen innerhalb von sechs Monaten, nachdem sie die erforderlichen Angaben gemacht haben, eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern ausgestellt, die fünf Jahre gültig sein soll. Nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügigG/EU erhält der Familienangehörige eine Bescheinigung darüber, dass die erforderlichen Angaben gemacht worden sind, unverzüglich. Bei der Aufenthaltskarte handelt es sich um einen feststellenden Verwaltungsakt (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 28.07.2016 – 8 B 33/16 -). Die Bescheinigung im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 FreizügigG/EU ist kein Verwaltungsakt, sondern eine behördliche Verfahrenshandlung im Sinne des § 44a VwGO (vgl. Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, 76. Lfg. Januar 2016, § 5 FreizügG/EU Rn. 27).

Der Antragsteller hat die erforderlichen Angaben im Hinblick auf eine Freizügigkeitsberechtigung im Sinne des § 5 Abs. 1 S. 2 FreizügigG/EU (glaubhaft) gemacht (vgl. § 5 Abs. 2 S. 2 FreizügigG/EU, wonach die für die Glaubhaftmachung erforderlichen Angaben und Nachweise von der zuständigen Meldebehörde bei der meldebehördlichen Anmeldung entgegengenommen werden können).

Nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU. Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind u.a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer aufhalten wollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU). Familienangehörige von Unionsbürgern sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU unter den Voraussetzungen nach §§ 3 und 4 freizügigkeitsberechtigt. Nach § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Familienangehörige sind u.a. Ehegatten (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU).

Das Tatbestandsmerkmal "begleiten" ist nach der Rechtsprechung des EuGH dahingehend (weit) auszulegen, dass er sowohl die Familienangehörigen eines Unionsbürgers umfasst, die mit diesem in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind, als auch diejenigen, die sich mit ihm dort aufhalten, ohne dass im zweiten Fall danach zu unterscheiden wäre, ob die Drittstaatsangehörigen vor oder nach dem Unionsbürger oder bevor oder nachdem sie dessen Familienangehörigen wurden, in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind (vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2009 – C-127/08 -, Rn. 93, NVwZ 2008, S. 1097, S. 1100).

Der Antragsteller hat eine Kopie seiner Heiratsurkunde über eine Heirat mit einer Unionsbürgerin vorgelegt. Diese steht in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis. Zur Glaubhaftmachung hat der Antragsteller den Arbeitsvertrag und eine Gehaltsabrechnung seiner Ehefrau vorgelegt. Weiter sind Anmeldebestätigungen für ihn und seine Ehefrau sowie eine Kopie seines türkischen Nationalpasses vorgelegt worden. Aus den Anmeldebestätigungen des Amtes ... ergibt sich, dass der Antragsteller mit seiner Ehefrau eine gemeinsame Wohnung in der ...- Straße, ..., bewohnt.

Auch der Antragsgegner bestreitet nicht, dass die erforderlichen Angaben glaubhaft gemacht worden sind. Er beruft sich vielmehr allein darauf, dass der Antragsteller im August 2015 ohne das erforderliche Visum und damit illegal in das Bundesgebiet eingereist sei. Aus diesem Grund bestehe kein Anspruch des Antragstellers auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU.

Hierzu gilt es anzumerken, dass § 5 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist, auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nach § 2 Abs. 1 FreizügigG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt haben, keine Anwendung findet (vgl. § 11 Abs. 1 S. 1 FreizügigG/EU und § 1 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG). § 2 Abs. 4 S. 2 FreizügigG/EU normiert allerdings in Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004), dass Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, für die Einreise eines Visums nach den Bestimmungen für Ausländer bedürfen, für die das Aufenthaltsgesetz gilt.

Türkische Staatsangehörige benötigen für die Einreise in das Bundesgebiet grundsätzlich ein Visum. Sie sind für die Einreise und den kurzfristigen Aufenthalt von der Visapflicht befreit, wenn sie mit einem dienstlichen Pass in das Bundesgebiet einreisen und keine Erwerbstätigkeit ausüben (vgl. § 19 AufentV i.V.m. der Anlage B zur AufentV).

Für das vorliegende Verfahren kann dahinstehen, ob der Antragsteller rechtmäßig mit einem Beamtenpass - ohne ein Visum - in das Bundesgebiet einreisen konnte. Selbst wenn man unterstellt, dass der Antragsteller ohne das erforderliche Visum und damit illegal in die Bundesrepublik eingereist ist, steht dies der Ausstellung einer Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 S. 2 FreizügigG/EU – und auch der Erteilung einer Aufenthaltskarte nach § 5 Abs. 1 S. 1 FreizügigG/EU – nicht entgegen.

Die Einhaltung der Visumpflicht ist nämlich keine materielle Bedingung des Freizügigkeitsrechts. Allein ein Verstoß gegen die Visumpflicht bzw. die illegale Einreise gestattet dem Mitgliedstaat nicht, den Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen zu beenden und Maßnahmen zur Entfernung aus seinem Hoheitsgebiet ergreifen, wenn er die Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht erfüllt. Entsprechendes gilt für einen Drittstaatsangehörigen, dessen Visum vor Beantragung einer Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist (vgl. EuGH, Urteil vom 25.07.2002 – C-459/99 -, Rn. 80, juris; Tewocht, in: Beck’scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 12. Edition, Stand: 01.11.2016, § 2 FreizügG/EU Rn. 58; Hailbronner, AuslR, Stand: 99. Aktualisierung Dezember 2016, § 2 FreizügigG/EU Rn. 101; Kloesel/Christ/Häußer, Deutsches Aufenthalts- und Ausländerrecht, Stand: 76 Lfg. Januar 2016, § 2 FreizügigG/EU Rn. 181).

Nach der Rechtsprechung des EuGH, die inzwischen auch Niederschlag in Art. 5 Abs. 4 der Freizügigkeitsrichtlinie (Richtlinie 2004/38/EG vom 29.04.2004) gefunden hat, ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats nicht als rechtsbegründende Handlung zu betrachten, sondern als Handlung eines Mitgliedstaates, die dazu dient, die individuelle Situation eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaates im Hinblick auf die Bestimmungen des Unionsrechts festzustellen. Das Gleiche gilt für den mit einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates verheirateten Staatsangehörigen eines Drittstaats. Das Unionsrecht hindert die Mitgliedstaaten zwar nicht daran, die Verletzung nationaler Vorschriften zur Überwachung von Ausländern mit allen geeigneten Sanktionen zu belegen, die zur Gewährleistung der Wirksamkeit dieser Vorschriften erforderlich sein können, sofern diese Maßnahmen verhältnismäßig sind. Indes würden eine Verweigerung der Aufenthaltserlaubnis und erst recht eine Entfernung aus dem Hoheitsgebiet, die ausschließlich darauf gestützt wären, dass der Betroffene die für Einreise, Ortswechsel und Aufenthalt geltenden gesetzlichen Formalitäten für die Ausländerüberwachung nicht erfüllt hat, den Kern des unmittelbar durch das Unionsrechts verliehenen Aufenthaltsrecht antasten und stünden offensichtlich außer Verhältnis zur Schwere der Zuwiderhandlung (vgl. EuGH Urteil vom 25.07.2002 – C-459/99 -, Rn. 74, 77 f., juris). [...]