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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 01.06.2017 - 1 C 16.16 (Asylmagazin 9/2017, S. 362 ff.) - asyl.net: M25231
https://www.asyl.net/rsdb/M25231
Leitsatz:

Die Einbürgerung scheitert nicht an offengelegter Identitätstäuschung, wenn die Ausländerbehörde hieraus keine Konsequenzen gezogen hat:

Beruhte der Aufenthalt eines Einbürgerungsbewerbers im Inland zeitweise auf einer Täuschung über seine Identität oder sonstige aufenthaltsrechtlich beachtliche Umstände, kommt es für den gewöhnlichen Aufenthalt nach § 10 Abs. 1 StAG und die dabei rückblickend zu treffende Prognose maßgeblich darauf an, wie sich die Ausländerbehörde verhalten hätte, wenn sie von der Täuschung Kenntnis gehabt hätte (hypothetische ex ante-Prognose). Dabei ist bei anerkannten Flüchtlingen die Bindungswirkung des § 6 AsylG zu beachten.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Einbürgerung, Täuschung über Identität, Identität, Aufenthaltsdauer, Flüchtlingsanerkennung, Niederlassungserlaubnis, gewöhnlicher Aufenthalt, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Irak, Rücknahme, Falschbeurkundung, Rechtsmissbrauch,
Normen: StAG § 10, StAG § 11, StAG § 12a, AufenthG § 5, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a, AufenthG § 26 Abs. 4, AsylG § 6, SGB I § 30 Abs. 3 S. 2, StGB § 271, AuslG 1990 § 51 Abs. 1, AuslG 1990 § 53, AuslG 1990 § 85, ARB 1/80 Art. 6, VwVfG BY Art. 43, VwVfG BY Art. 44, VwVfG BY Art. 48
Auszüge:

[...]

Das Erfordernis eines rechtmäßig gewöhnlichen Inlandsaufenthalts entspricht inhaltlich der wortgleichen Formulierung der Vorgängerregelung in § 85 Abs. 1 Satz 1 AuslG (BVerwG, Urteil vom 18. November 2004 - 1 C 31.03 - BVerwGE 122, 199 <202>). Es enthält mit der Gewöhnlichkeit des Inlandsaufenthalts einerseits und der Rechtmäßigkeit dieses gewöhnlichen Aufenthalts andererseits zwei selbständige Tatbestandsvoraussetzungen (BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 11).

a) Bei der Auslegung des im Staatsangehörigkeitsgesetz verwendeten Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts kann nach der Rechtsprechung des Senats an die Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs. 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil (SGB I) und die dazu ergangene Rechtsprechung angeknüpft werden (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 18. November 2004 - 1 C 31.03 - BVerwGE 122, 199 <202 f.> und vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 12). Danach hat ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, wenn er nicht nur vorübergehend, sondern auf unabsehbare Zeit hier lebt, so dass eine Beendigung des Aufenthalts ungewiss ist. Das ist der Fall, wenn er hier nach den tatsächlichen Verhältnissen seinen Lebensmittelpunkt hat. Hierfür bedarf es mehr als der bloßen Anwesenheit des Betroffenen während einer bestimmten Zeit. Nicht erforderlich ist, dass der Aufenthalt mit Willen der Ausländerbehörde auf grundsätzlich unbeschränkte Zeit angelegt ist und sich zu einer voraussichtlich dauernden Niederlassung verfestigt hat; auch ein zeitlich befristeter Aufenthaltstitel und der bloße Verzicht auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen schließen einen gewöhnlichen Aufenthalt nicht aus. Da die Rechtmäßigkeit von der Dauerhaftigkeit des Aufenthalts zu unterscheiden ist, bedarf es für Letztere auch keiner förmlichen Zustimmung der Ausländerbehörde, sondern es genügt, dass diese unbeschadet ihrer rechtlichen Möglichkeiten davon Abstand nimmt, den Aufenthalt zu beenden, etwa weil sie eine Aufenthaltsbeendigung für unzumutbar oder undurchführbar hält (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1993 - 1 C 45.90 - BVerwGE 92, 116 <121 ff.>, vom 18. November 2004 - 1 C 31.03 - BVerwGE 122, 199 <202 f.>, vom 26. Februar 2009 - 10 C 50.07 - BVerwGE 133, 203 Rn. 31 ff. und vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 13).

Für die Feststellung, ob ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, bedarf es einer in die Zukunft gerichteten Prognose, bei der nicht nur die Vorstellungen, sondern auch die Möglichkeiten des Ausländers zu berücksichtigen sind. Denn es genügt nicht, dass er sich auf unabsehbare Zeit in Deutschland aufhalten will, er muss dazu auch die Möglichkeit haben. Daran fehlt es, wenn er nach den gegebenen Umständen nicht im Bundesgebiet bleiben kann, weil sein Aufenthalt in absehbarer Zeit beendet werden wird. Dies zu entscheiden und durchzusetzen ist Sache der Ausländerbehörde. Wenn nach den ausländerrechtlichen Vorschriften und den auf ihrer Grundlage getroffenen Anordnungen der Ausländerbehörde ein Ende des Aufenthalts abzusehen ist, ist auch im Staatsangehörigkeitsrecht die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts ausgeschlossen. Nimmt die Ausländerbehörde dagegen den Aufenthalt auf nicht absehbare Zeit hin, kommt ein dauernder Aufenthalt in Betracht (stRspr, vgl. BVerwG, Urteile vom 23. Februar 1993 - 1 C 45.90 - BVerwGE 92, 116 <124 f.> und vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47 Rn. 14). Diese Auslegung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, das für die Frage des Vorliegens eines gewöhnlichen Aufenthalts nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I die mit dem Aufenthalt verbundenen "Umstände" im Wege einer vorausschauenden Betrachtungsweise (Prognose) daraufhin würdigt, ob sie "erkennen lassen", dass der Betreffende zukunftsoffen "bis auf weiteres" am Aufenthaltsort oder im Aufenthaltsgebiet verweilen wird (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2013

- B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 Rn. 27 f. m.w.N.).

Einer vorausschauenden Prognose bedarf es auch dann, wenn der gewöhnliche Aufenthalt - wie hier - rückblickend für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum zu ermitteln ist. Dabei bleiben spätere Entwicklungen unberücksichtigt. Entscheidungserhebliche Änderungen wirken sich daher erst vom Zeitpunkt der Änderung an auf die Begründung oder das Entfallen des gewöhnlichen Aufenthalts aus (s.a. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2013 - B 13 R 9/13 R - NZS 2014, 264 Rn. 29 m.w.N.).

Beruht der Aufenthalt des Ausländers im Bundesgebiet auf einer Täuschung der Behörden, etwa über seine Identität, Herkunft oder sonstige für seinen Aufenthalt im Bundesgebiet beachtliche Umstände, führt dies - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - nicht automatisch zu einer Verneinung des gewöhnlichen Aufenthalts, bis der Ausländerbehörde alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt sind. Auch die bloße Angreifbarkeit eines durch Täuschung erlangten Aufenthaltstitels steht der Annahme eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht zwingend entgegen. Bei der Prognose, ob ein Ausländer vor Aufdeckung der Täuschung mit einer Beendigung seines Aufenthalts rechnen musste, ist vielmehr in den Blick zu nehmen, wie die Ausländerbehörde - bei Kenntnis des vollständigen Sachverhalts und in Ansehung der daraus resultierenden rechtlichen Möglichkeiten - voraussichtlich reagiert hätte (hypothetische ex ante-Prognose). Dies stellt sicher, dass der Ausländer aus der Täuschung keinen von der Rechtsordnung nicht gedeckten Vorteil erhält, und gilt auch dann, wenn er sich mit der Täuschung strafbar gemacht hat und/oder einen Ausweisungsgrund verwirklicht bzw. ein Ausweisungsinteresse begründet hat. Denn selbst ein derartiges Verhalten führt nicht zwangsläufig zu einer Aufenthaltsbeendigung.

Da es für den gewöhnlichen Aufenthalt allein auf die tatsächlichen Verhältnisse ankommt, kann entgegen der Auffassung der am Verfahren beteiligten Landesanwaltschaft bei der Auslegung auch nicht auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Senats zu Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 zurückgegriffen werden, wonach ein türkischer Arbeitnehmer bei einer durch Täuschung erlangten Aufenthaltserlaubnis keine ordnungsgemäße Beschäftigung ausübt, ohne dass es darauf ankommt, ob der Täuschende wegen seines Verhaltens bestraft worden ist und ob eine ihm erteilte Aufenthaltserlaubnis zurückgenommen worden ist. Denn der assoziationsrechtliche Begriff der "ordnungsgemäßen Beschäftigung" setzt nach ständiger Rechtsprechung eine gesicherte und nicht nur vorläufige Position auf dem Arbeitsmarkt und damit das Bestehen eines nicht bestrittenen Aufenthaltsrechts voraus (vgl. BVerwG, Urteil vom 12. April 2005 - 1 C 9.04 - BVerwGE 123, 190 <199 f.> unter Hinweis auf EuGH, Urteil vom 5. Juni 1997 - C-285/95 [ECLI:EU:C:1997:280], Kol - Rn. 25 ff.). Soweit die Landesanwaltschaft darauf hinweist, dass es "gute Gründe" dafür geben kann, dass die Ausländerbehörde einen durch Täuschung erwirkten Aufenthaltstitel nicht zurücknimmt, rechtfertigt auch dies keine andere Beurteilung, sondern bestätigt im Gegenteil, dass allein die Angreifbarkeit eines Aufenthaltstitels nicht zwangsläufig etwas über die Dauerhaftigkeit des weiteren Aufenthalts aussagt.

Auch Sinn und Zweck des gesetzlichen Kriteriums des gewöhnlichen Aufenthalts erfordern nicht zwingend die Nichtanrechnung von unter Identitätstäuschung zurückgelegten Aufenthaltszeiten. Ausmaß und Umfang der erreichten Integration knüpfen bei der Anspruchseinbürgerung nach § 10 StAG nicht allein an einen gewöhnlichen Inlandsaufenthalt von mindestens acht Jahren an. Dieser muss von einer Aufenthaltserlaubnis abgedeckt gewesen sein, außerdem müssen die in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 7 StAG aufgezählten Voraussetzungen erfüllt sein und darf kein Ausschlussgrund nach § 11 StAG vorliegen. Dabei ist § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StAG i.V.m. § 12a StAG und § 11 StAG die gesetzgeberische Wertung zu entnehmen, dass nicht jedes strafbare Verhalten und nicht jedes Ausweisungsinteresse einbürgerungsschädlich ist.

b) § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG setzt weiter voraus, dass der Ausländer seit acht Jahren "rechtmäßig" seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat. Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts wird bei Drittstaatsangehörigen vor allem durch den Besitz eines Aufenthaltstitels vermittelt (§ 4 AufenthG). Die Rechtmäßigkeit muss sich auf den gewöhnlichen Aufenthalt beziehen, diesen also "abdecken". Da sich unter Geltung des neuen Systems der Aufenthaltstitel nach dem durch das Zuwanderungsgesetz zum 1. Januar 2005 in Kraft getretenen Aufenthaltsgesetz im Grundsatz jede Aufenthaltserlaubnis in ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht verfestigen kann, sind bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Daueraufenthalts selbst Zeiten zu berücksichtigen, in denen der Ausländer unter Geltung des Aufenthaltsgesetzes nur im Besitz einer für einen seiner Natur nach vorübergehenden Zweck erteilten Aufenthaltserlaubnis war, wenn ihm auf diesem Wege ein Zugang zu einer dauerhaften Aufenthaltsposition eröffnet worden ist (BVerwG, Urteil vom 26. April 2016 - 1 C 9.15 - BVerwGE 155, 47

Rn. 17 ff.). Für die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts kommt es allein auf den formalen Besitz eines Aufenthaltstitels und nicht auf dessen rechtmäßige Erteilung an. Dies gilt auch bei einem durch Täuschung erwirkten Aufenthaltstitel, der, solange er wirksam und nicht zurückgenommen ist, einen rechtmäßigen Aufenthalt vermittelt.

c) Aus der Formulierung "seit acht Jahren" ergibt sich schließlich, dass der rechtmäßige gewöhnliche Inlandsaufenthalt in den letzten acht Jahren vorgelegen haben muss. Dabei sind kurzfristige Unterbrechungen der Rechtmäßigkeit, die darauf beruhen, dass der Ausländer nicht rechtzeitig die Erteilung oder Verlängerung seines Aufenthaltstitels beantragt hat, nach § 12b Abs. 3 StAG unbeachtlich. [...]

Die Ausländerbehörde hat mit der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bewusst gegenüber dem Kläger eine Regelung getroffen, auch wenn sie seinerzeit dessen wahre Identität nicht kannte. Dieser Verwaltungsakt ist mit der Bekanntgabe an den Kläger wirksam geworden (Art. 43 VwVfG BY). Er leidet nicht an einem zur Nichtigkeit führenden Fehler (Art. 43 Abs. 3 i.V.m. Art. 44 VwVfG BY). Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels an einen über seine Identität täuschenden Ausländer insbesondere keinen besonders schwerwiegenden Fehler im Sinne des Art. 44 Abs. 1 VwVfG BY aufweist. Denn sie bezieht sich auf eine real existierende Person. Auch Art. 48 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 VwVfG BY liegt die gesetzgeberische Wertung zugrunde, dass ein durch arglistige Täuschung erwirkter Verwaltungsakt nicht nichtig, sondern nur rücknehmbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 9. September 2014 - 1 C 10.14 - InfAuslR 2014, 446 Rn. 15 ff. zur Wirksamkeit einer durch Identitätstäuschung erschlichenen Einbürgerung). Die Ausländerbehörde hat die dem Kläger erteilte Niederlassungserlaubnis nach Offenlegung der Identitätstäuschung auch nicht (rückwirkend) aufgehoben. Damit bedarf es keiner Entscheidung, ob die dem Kläger unter falscher Identität erteilten Aufenthaltstitel - wie vom Berufungsgericht angenommen - allein wegen der Identitätstäuschung rechtswidrig waren und deshalb hätten (ersatzlos) zurückgenommen werden können. Die Klärung der Identität stellt nach § 5 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zwar eine Regelerteilungsvoraussetzung dar. Gleiches gilt nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG für das Nichtvorliegen eines Ausweisungsinteresses (früher: Ausweisungsgrund), das auch bei falschen Angaben zur Erlangung eines Aufenthaltstitels besteht (vgl. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG). Beide Regelungen sind nach § 5 Abs. 3 AufenthG bei humanitären Aufenthaltstiteln nach dem Kapitel 2 Abschnitt 5 aber nur eingeschränkt anwendbar. [...]

5. Aus dem gleichen Grund ist das Begehren des Klägers auf Einbürgerung unter Einbeziehung der vor Offenlegung der Identitätstäuschung im Bundesgebiet zurückgelegten Aufenthaltszeiten auch nicht rechtsmissbräuchlich. Täuscht ein Ausländer deutsche Behörden über aufenthaltsrechtlich beachtliche Umstände, ist es Aufgabe der Ausländerbehörde, auf dieses - grundsätzlich integrationsschädliche - Verhalten zu reagieren (etwa durch Strafanzeige wegen mittelbarer Falschbeurkundung, Hinwirken auf eine Aufhebung der Entscheidung des Bundesamts und/oder Aufhebung des dem Ausländer erteilten Aufenthaltstitels) mit entsprechenden Folgewirkungen für ein späteres Einbürgerungsverfahren. Macht die Ausländerbehörde indes - wie hier - von den ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten keinen Gebrauch, ist die Einbürgerungsbehörde bei der Prüfung der auf die Aufenthaltsdauer bezogenen Einbürgerungsvoraussetzungen an diese Entscheidung gebunden und kann dem Ausländer die - von der Ausländerbehörde folgenlos hingenommene - Täuschung nicht entgegenhalten. Die Befugnis der Staatsangehörigkeitsbehörden zur Prüfung der Einbürgerungsvoraussetzungen und die Eigenständigkeit des Staatsangehörigkeitsrechts ändern hieran nichts. [...]