VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 02.06.2017 - 33 L 365.17 A - asyl.net: M25270
https://www.asyl.net/rsdb/M25270
Leitsatz:

[Eilrechtsschutz im Fall einer in Italien anerkannten Person:]

Einer Person, der in Italien bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, droht der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK / Art. 4 GR-Charta, weil sie in Italien keinen Zugang zu Sozialleistungen hat, ihr keine ausreichenden kompensatorischen Integrationshilfen zur Verfügung gestellt werden und nicht sichergestellt ist, dass sie zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, Rn. 21 f., juris [asyl.net: M25069]).

(Amtlicher Leitsatz; Kammerentscheidung wegen grundsätzlicher Bedeutung; a.A. 23. Kammer: VG Berlin, Beschluss vom 12.07.2017 - 23 L 503.17 A - asyl.net: M25235)

Schlagwörter: Italien, internationaler Schutz in EU-Staat, ausländische Anerkennung, Inländergleichbehandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Drittstaatenregelung, Sachaufklärungspflicht, Aufnahmebedingungen, normative Vergewisserung, Genfer Flüchtlingskonvention, Existenzminimum, soziales Netzwerk, Abschiebungsverbot, effektiver Rechtsschutz, Untersuchungsgrundsatz, Amtsermittlung, Zusicherung, Garantieerklärung, Qualifikationsrichtlinie, Integration, Integrationsmaßnahme, alleinstehende junge Männer,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, AsylG § 37 Abs. 1, AsylG § 31 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 34,
Auszüge:

[...]

Es ist aber bislang ungeklärt, ob einer solchen Ablehnung Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechte-Charta) bzw. Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) entgegensteht, wenn die Ausgestaltung des Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannt Schutzberechtigte, in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz zuerkannt hat, eine unmenschliche Behandlung dessen darstellt. Diese Frage, die das Bundesverwaltungsgericht dem Europäischen Gerichtshof für einen Fall der Zuerkennung subsidiären Schutzes in Bulgarien vorgelegt hat (BVerwG, Beschluss vom 23. März 2017 – 1 C 17.16 –, Vorlagefrage 3b], erster Spiegelstrich, BeckRS 2017, 110809), stellt sich vorliegend im Hinblick auf die Situation anerkannter Flüchtlinge in Italien. Dabei geht die Kammer davon aus, dass es der Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht bereits entgegensteht, wenn die Ausgestaltung des Schutzes den Anforderungen der Art. 20-35 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL 2011) nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 Grundrechte-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen.

Zwar mag es für den Fall, dass in dem schutzgewährenden Mitgliedstaat der Antragsteller einer unmenschlichen Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK / Art. 4 GR-Charta ausgesetzt ist (dazu sogleich) unionsrechtlich geboten sein, nicht nur ein Abschiebungsverbot in Bezug auf den schutzgewährenden Mitgliedstaat festzustellen, sondern vielmehr von einer Unzulässigkeitsentscheidung abzusehen und selbst das Schutzersuchen in der Sache zu prüfen, da dem Antragsteller in einem solchen Fall eine Rückkehr in den schutzgewährenden Staat unzumutbar ist (BVerwG, ebd., Rn. 33-34). Etwas Anderes dürfte aber gelten, wenn die Lebensbedingungen im schutzgewährenden Mitgliedstaat lediglich in einzelnen Punkten den Anforderungen der Art. 20-35 Qualifikations-RL nicht genügen, ohne bereits gegen Art. 3 EMRK / Art. 4 GR-Charta zu verstoßen (BVerwG, ebd., Vorlagefrage 3b, zweiter Spiegelstrich, sowie Rn. 35). Denn in diesem Fall ist dem Antragsteller eine Rückkehr in den schutzgewährenden Staat gerade nicht unzumutbar, da ihm dort keine unmenschliche Behandlung droht. In diesem Fall kann er kann nach Ansicht der Kammer auch darauf verwiesen werden, einzelne Rechte aus den Art. 20-35 Qualifikations-RL im schutzgewährenden Mitgliedstaat einzuklagen. Angesichts des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten (vgl. EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 –, Rn. 52 f., juris, und vom 16. Februar 2017 – C 578/16 –, Rn. 70, NVwZ 2017, 691 [693]; BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 –, Rn. 16, juris; BVerwG, Beschluss vom 23. März 2017 – 1 C 17.16 –, Rn. 29, juris) besteht eine starke Vermutung dahingehend, dass ausreichender innerstaatlicher Rechtsschutz gewährt wird. Hinzukommt, dass eine weitere Absenkung des Maßstabs das Gemeinsame Europäische Asylsystem unterlaufen würde (BVerwG, ebd., Rn. 35). Auch nach dem aktuellen Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 16. Februar 2017 (– Rs. C 578/16 –, NVwZ 2017, 691) ist vor der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat lediglich zu prüfen, ob dem Ausländer dort eine unmenschliche Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK / Art. 4 Grundrechte-Charta droht (Rn. 73).

Ausgehend hiervon ist eine Unzulässigkeitsentscheidung allenfalls unter eben jenen Voraussetzungen als rechtswidrig anzusehen, unter denen auch ein nationales Abschiebungsverbot festzustellen ist und der Eilantrag daher bereits aus diesem Grund mit dem Ergebnis Erfolg hat, dass auch dann gem. § 37 Abs. 1 AsylG die Ablehnung des Asylantrages als unzulässig unwirksam wird und das Bundesamt das Asylverfahren fortzuführen hat (vgl. VG Trier, Beschluss vom 16. März 2017 – 5 L 1846/17.TR –, juris, Rn. 14 f. m.w.N.). Die gerichtliche Prüfung im Fall der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst gem. § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG nämlich auch die Prüfung, ob Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) in Bezug auf den Zielstaat der Abschiebung vorliegen (siehe BVerwG, Beschluss vom 27. April 2017 – BVerwG 1 B 6.17 –, Rn. 5, juris, m.w.N.). [...]

Bei der Prüfung der unmenschlichen Behandlung genügt dabei der Verweis auf eine Inländergleichbehandlung nicht, um eine unmenschliche Behandlung auszuschließen. Zum einen berücksichtigt das Gebot der Inländerbehandlung nicht, dass eine Inländer und Ausländer gleichermaßen unmenschlich treffende Behandlung eben eine unmenschliche Behandlung ist. Zum anderen kann ein und dieselbe Behandlung für einen Inländer nicht unmenschlich, für einen besonders schutzbedürftigen Ausländer aber sehr wohl unmenschlich sein, wenn die Gleichbehandlung dessen besonderes Schutzbedürfnis unzureichend berücksichtigen sollte. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bedarf es daher einer Auseinandersetzung mit der Einschätzung, dass es sich bei anerkannt Schutzberechtigten um eine besonders verletzliche Gruppe handelt, die zumindest für eine Übergangszeit auf staatliche Hilfe bei der Integration in den Aufnahmestaat angewiesen ist (BVerfG, Beschluss vom 8. Mai 2017 – 2 BvR 157/17 –, Rn. 21 f., juris; unter Verweis auf Hess. VGH, Urteil vom 4. November 2016 – 3 A 1292/16.A –, NVwZ 2017, 570 [572]; siehe auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. März 2017 – A 11 S 2151/16 –, juris, Rn. 25). Danach handelt es sich bei Personen, denen in einem anderen Staat bereits internationaler Schutz zuerkannt wurde, typischerweise um verletzliche und entwurzelte Menschen, die nicht ohne weiteres in der Lage sein werden, ihr Recht auf menschliche Behandlung in all seinen Ausprägungen effektiv in Anspruch zu nehmen. Zusätzlich zur Inländergleichbehandlung sei daher ein "spezifisch kompensatorisches" Element erforderlich (VGH Baden-Württemberg, ebd., Rn. 25). Um eine unmenschliche Behandlung besonders schutzbedürftiger Ausländer auszuschließen, bedürfe es daher Feststellungen dazu, ob bei deren Rückführung – insbesondere, wenn die von Art. 34 Qualifikations-RL vorgeschriebenen Integrationsmaßnahmen nicht existieren – zumindest "in der ersten Zeit" nach seiner Ankunft "der Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen sichergestellt" wird (BVerfG, ebd., Rn. 21).

Nach diesen Maßstäben besteht nach Ansicht der Kammer anhand der Erkenntnislage in dem nach § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung in Italien eine Gefahr einer unmenschlichen Behandlung des Antragstellers in dem dargelegten Sinn.

Zwar sind nach den vorliegenden Erkenntnissen in Italien Ausländer, denen dort internationaler Schutz zuerkannt wurde, italienischen Staatsangehörigen rechtlich im Wesentlichen gleichgestellt, d.h., es wird grundsätzlich von ihnen erwartet, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen (vgl. Schweizer Flüchtlingshilfe [SFH], Italien: Aufnahmebedingungen, August 2016, S. 49 f.; Auswärtiges Amt (AA), Auskunft an OVG NRW, 23. Februar 2016, S. 5 f.; Asylum Information Database [Aida], Country Report: Italy, 6. März 2017, S. 104 ff.; dazu auch OVG NRW, Urteil vom 24. August 2016 – 13 A 63/16.A –, juris, Rn. 53 f., m.w.N.). Auch bei der Gesundheitsversorgung werden anerkannt Schutzberechtigte in Italien wie italienische Bürger behandelt. Der kostenlose Zugang zur Notfallversorgung steht ihnen immer zur Verfügung (vgl. SFH, a.a.O., S. 54 f.). [...]

Aber es fehlen kompensatorische Maßnahmen, die erforderlich wären, um der besonderen Schutzbedürftigkeit anerkannter Schutzberechtigter gerecht zu werden.

Diese werden in besonderer Weise davon betroffen, dass es in Italien kein allgemeines System der Sozialhilfe gibt. Etwaige gemeindliche Unterstützungsleistungen reichen jedenfalls dauerhaft nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts aus. So betragen derartige Leistungen in Rom derzeit lediglich bis zu 500 Euro im Jahr oder in Mailand bis zu 250 Euro im Monat für bis zu sechs Monate. Für einen anerkannten Schutzberechtigten sind gemeindliche Unterstützungsleistungen zudem in der ersten Zeit nach seiner Ankunft faktisch unzugänglich, da deren Gewährung an einen offiziellen Wohnsitz in der Gemeinde geknüpft ist (vgl. SFH/Juss-Buss, Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien, Mai 2011, S. 35 f.; SFH, a.a.O., S. 50).

Anerkannten Schutzberechtigten stehen in Italien nach den derzeitigen Erkenntnissen auch keine ausreichenden staatlichen Hilfen bei der Integration zu Verfügung. Zwar bietet Italien in den Zweitaufnahmeeinrichtungen des SPRAR (sistema di protezione per richiedenti asilo e refugati) Netzwerkes, den sog. SPRAR-Zentren, Sprachkurse sowie Unterstützung bei der Stellensuche und weiteren Belangen an (SFH, a.a.O., S. 35 f.). Diese Einrichtungen, in denen auch Asylsuchende untergebracht werden, stehen aber nicht in ausreichendem Umfang zur Verfügung (vgl. Aida, a.a.O., S. 110 f.; SFH, a.a.O., S. 35 ff.). [...] Außerhalb der SPRAR-Zentren gibt es nach aktuellen Erkenntnissen nur wenige Integrationsprojekte für Asylsuchende und anerkannte Schutzberechtigte in Italien. Diese werden zumeist nicht vom Staat, sondern von Hilfswerken organisiert (SFH, a.a.O., S. 53 f.). Es handelt sich hierbei lediglich um einige kleine informelle Integrationsprojekte. Diese erhalten zudem keine staatliche Förderung (Report of the fact-finding mission to Italy by Ambassador Tomáš Boček Special Representative of the Secretary General on migration and refugees 16-21 October 2016, 22. März 2017, Ziff. VII).

Im Falle der Rückkehr anerkannt schutzberechtigter Personen nach Italien ist ferner nicht sichergestellt, dass diese, zumindest in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft, Zugang zu Obdach, Nahrungsmitteln und sanitären Einrichtungen haben. Nach ihrer Rückkehr können sie sich etwa am Flughafen in Rom von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) beraten lassen (vgl. AA, a.a.O., S. 5; SFH, a.a.O., S. 33). Dort erfahren sie auch, welche Questura für sie zuständig ist. Bei dieser können sie dann einen Antrag auf Unterkunft stellen (vgl. AA, a.a.O., S. 5). Allerdings ist nicht gewährleistet, dass ihnen auf diesen Antrag zeitnah eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird. Da die Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende bestimmt sind und nach Zuerkennung des internationalen Schutzes – abhängig von der jeweiligen örtlichen Praxis – innerhalb kurzer Zeit verlassen werden müssen (vgl. Aida, a.a.O., S. 111), kann nicht davon ausgegangen werden, dass dort Plätze für zurückkehrende Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Hinsichtlich der Zweitaufnahmeeinrichtungen des SPRAR-Netzwerkes sind anerkannt Schutzberechtigte nach den entsprechenden internen Richtlinien des Italienischen Innenministeriums zwar berechtigt, ab Zuerkennung des Schutzstatus für sechs Monate untergebracht zu werden. Da die dort verfügbaren Plätze – wie oben dargelegt – aber nicht ausreichen, erscheint es zumindest wahrscheinlich, dass anerkannt Schutzberechtigte dort in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr keine Unterkunft erhalten. Sie werden daher jedenfalls in dieser Zeit darauf angewiesen sein, einen Schlafplatz in von caritativen Einrichtungen oder Gemeinden zur Verfügung gestellten Notunterkünften zu erhalten (vgl. SFH, a.a.O., S. 41 ff.). Dabei lässt sich den aktuellen Erkenntnissen nicht entnehmen, dass die außerhalb des staatlichen Aufnahmesystems für Flüchtlinge bestehenden Notunterkünfte, die zumindest teilweise auch einheimischen Obdachlosen offen stehen, zur Deckung des Bedarfs ausreichen. Überdies müssen sich anerkannt Schutzberechtigte nach ihrer Rückkehr selbständig um einen solchen Platz bemühen. Ob es ihnen in der ersten Zeit nach ihrer Rückkehr stets gelingen wird, einen gegebenenfalls verfügbaren Schlafplatz ausfindig zu machen und zu diesem zu gelangen, erscheint ungewiss. Zumal sie sich in dieser Zeit auch hinsichtlich der Versorgung mit Nahrung und Hygiene aktiv um die Unterstützung karitativer Organisationen bemühen müssen. [...]