VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 28.06.2017 - A 11 S 664/17 (Asylmagazin 9/2017, S. 349 ff.) - asyl.net: M25278
https://www.asyl.net/rsdb/M25278
Leitsatz:

Zurückweisung der Berufung des BAMF: Flüchtlingsanerkennung für palästinensische Personen aus Syrien und wegen Wehrdienstentziehung

1. Staatenlosen palästinensischen Volkszugehörigen aus Syrien, die nachweisen können, förmlich von UNRWA registriert worden zu sein und Syrien bürgerkriegsbedingt verlassen zu haben, ist nach Art. 12 Abs. 1 Bst. a Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU "ipso facto", also ohne Einzelfallprüfung, der Flüchtlingsschutz zuzuerkennen, da UNRWA keinen Schutz mehr leisten kann.

2. Rückkehrern aus Syrien im wehrdienstfähigen Alter, die das Land ohne Genehmigung verlassen und sich im Ausland aufgehalten haben, droht Verfolgung aus politischen Gründen (der VGH hält an seiner Rechtsprechung fest, vgl. Urteil vom 02.05.2017 - A 11 S 562/17 - asyl.net: M25201 und setzt sich mit entgegenstehender OVG Rechtsprechung auseinander, insbesondere mit dem Urteil des OVG NRW vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A - asyl.net: M25072, Asylmagazin 7-8/2017, mit Anmerkung von Julia Idler).

(Leitsätze der Redaktion; Der VGH folgt nur im Ergebnis dem VG Stuttgart, welches dem Kläger allein wegen des längeren Auslandsaufenthalts die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen hatte.)

Schlagwörter: Syrien, UNRWA, Palästinenser, minderjährig, Staatenlosigkeit, staatenloser Palästinenser, Schutz, Wehrdienstentziehung, Militärdienst, politische Verfolgung, Wehrpflicht, Verfolgungsgrund, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, subsidiärer Schutz, illegale Ausreise, Flüchtlingseigenschaft, Verknüpfung, Bestrafung, unverhältnismäßige Strafverfolgung, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3 Abs. 3 S. 2, RL 2011/95 Art. 12 Abs. 1 Bst. a, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte – nur im Ergebnis – zu Recht verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Der Kläger ist zunächst als palästinischer Volkszugehöriger Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (I.). Ungeachtet dessen ist aber auch Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG (II.).

I.

1. Flüchtling ist nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (vgl. auch Art. 12 Abs. 1 lit. a Satz 2 Anerkennungsrichtlinie) ein Ausländer, der den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen gem. Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention genossen hat, ihm aber ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen endgültig geklärt worden ist; er genießt dann den Schutz der Richtlinie "ipso facto", d.h. unmittelbar ohne dass es einer Einzelfallprüfung der Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft bedürfte. [...] Als Nachweis einer Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistandes genügt es, wenn die Betroffenen von UNWRA förmlich registriert wurden (vgl. EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - a.a.O. Rn. 76; vom 17.06.2010 - C-31/09 -, InfAuslR 2010, 227 Rn. 52). Dabei ist die Flüchtlingseigenschaft nicht auf den 1948 betroffenen und in der Folge registrierten Personenkreis beschränkt, sondern bezieht insbesondere alle Abkömmlinge mit ein (vgl. UNHCR, Note on UNHCR’s Interpretation of Article 1D of the 1951 Convention relating to the Status of Refugees and Article 12(1)(a) oft he EU Qualification Directive in the context of Palestinian refugees seeking international protection, S. 2 f.; EuGH, Urteil vom 17.06.2010 - a.a.O., Rn. 47 f.; Marx, AsylG, 9. Aufl., § 3 Rn. 70). [...]

2. Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung, insbesondere aufgrund der vom Kläger in Kopie vorgelegten "Family Registration Card", die von UNWRA in Damaskus für seine Eltern und seine Schwestern ausgestellt wurde, sowie aufgrund seiner weiteren glaubhaften Schilderung steht zur Überzeugung des Senats fest, dass der Kläger zunächst den Schutz von UNWRA genossen hatte. [...] Dass der Schutz oder Beistand im hier maßgeblichen Gebiet des gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. hierzu EuGH, Urteil vom 19.12.2012 - a.a.O. Rn. 77), nämlich Syrien, aus Umständen weggefallen ist, die vom Willen des Klägers unabhängig waren, folgt unschwer aus der Tatsache, dass ihm - zu Recht - wegen der Bürgerkriegssituation in Syrien die subsidiäre Schutzberechtigung zugesprochen wurde. Da die Lage der Palästinenser bis heute nicht endgültig geklärt wurde, ist der Kläger unmittelbar Flüchtling im Sinne der Konvention, was die Beklagte förmlich festzustellen haben wird. [...]

2. Gemessen hieran droht dem 1999 geborenen Kläger, der im Falle der Rückkehr in Syrien der Wehrpflicht unterliegen wird, Verfolgung, weil er bei einer Rückkehr konkret von Strafverfolgung oder Bestrafung bedroht ist, zumindest aber muss er mit menschenwidriger Behandlung oder Folter bei Verhören bzw. Befragungen durch den syrischen Staat rechnen, weil er einer jederzeit möglichen erneuten Einberufung nach seinen Bekundungen nicht Folge leisten und sich damit dem Militärdienst entziehen wird. Der Senat hält an seiner Rechtsprechungslinie, wie er sie mit Urteil vom 2. Mai 2017 begründet hat (A 11 S 562/17), weiterhin fest und sieht auch unter Berücksichtigung des in der Sache gegenläufigen Urteils des 14. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Mai 2017 (14 A 2023/16.A -, juris) keinen Anlass, diese Linie zu modifizieren. [...]

Ausnahmen von der Wehrpflicht werden - von Bestechungen abgesehen - in eng begrenzten Fällen gemacht, so etwa bei Personen jüdischen Glaubens oder bei Untauglichkeit. Gesetze und Regelungen über Ansprüche auf Aufschub vom Antritt des Grundwehrdienstes gibt es etwa für Einzelkinder oder Studenten - hier je nach Art des Studiums gestaffelt, regelmäßig höchstens bis zum Alter von 27 Jahren (SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015). Die Regelungen gelten wohl teilweise zwar formal weiter, in der Praxis finden sie allerdings aufgrund des stark zunehmenden Personalbedarfs nur mehr sehr eingeschränkt und zunehmend willkürlich Anwendung (UNHCR, Ergänzende aktuelle Länderinformationen Syrien: Militärdienst vom 30.11.2016, S. 3; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20.10.2015 zu Syrien: Umsetzung der Freistellung vom Militärdienst als "einziger Sohn"; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee vom 28.03.2015; Finnish Immigration Service, a.a.O., S. 9).

Ebenso geraten zunehmend auch noch nicht 18 Jahre alte Jugendliche, wie der Kläger, der in Kürze das 18. Lebensjahr vollenden wird, vornehmlich an den zahlreichen im ganzen Land verstreuten Checkpoints in den Blick der Sicherheitskräfte und des Militärs und laufen Gefahr, Repressalien ausgesetzt zu werden. [...]

b) Die Überzeugung des Senats, dass Rückkehrern im wehrdienstfähigen Alter im Zusammenhang mit den drohenden Ermittlungen und Bestrafungen auch Folterungen drohen, gründet sich neben den zitierten Quellen auch auf die folgenden Erkenntnisse, die sich auf die allgemeine Situation bei Inhaftierungen beziehen. [...]

Bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel ist der Senat davon überzeugt, dass syrische Männer im wehrdienstfähigen Alter bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter durch syrische Sicherheitskräfte zu gewärtigen haben. [...]

Die Wahrscheinlichkeit, den genannten Foltermaßnahmen unterworfen zu werden, ist deshalb beachtlich, weil die Identifizierung der Betroffenen als männliche Personen im wehrdienstfähigen Alter bei der Einreise oder bei Kontrollstellen innerhalb des Landes leicht, schon nach äußerlichen Kriterien vornehmbar ist, und zwar sowohl bei der Einreise an den Grenzübergangstellen wie aber auch an einer der angesprochenen Kontrollstellen (vgl. auch Auswärtiges Amt vom 02.01.2017 an VG Düsseldorf; SFH, Syrien: Mobilisierung in der syrischen Armee vom 28.03.2015; BFA S. 24). Zumindest droht eine vorübergehende Festnahme, auch wenn der Betroffene dann ohne Bestrafung direkt einer militärischen Einheit zugeführt werden sollte (vgl. hierzu Immigration and Refugee Board of Canada vom 19.01.2016; UNHCR, "Illegal Exit", S. 5).

Schon bei der ersten Befragung ist nach den obigen Ausführungen mit erheblichen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit, nämlich Misshandlung und Folter zu rechnen. Dass hier nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, dass alle Einreisenden ausnahmslos betroffen sein werden (vgl. Deutsches Orient Institut vom 01.02.2017 an Hess.VGH), ist für die Erfüllung des Maßstabs der beachtlichen Wahrscheinlichkeit unerheblich. Der Umstand, dass der hier infrage kommende Personenkreis infolge der konkret bestehenden Wehrpflicht in besonderer Weise in das Visier der Sicherheitsorgane gekommen ist, wird dazu führen, dass er auch hervorgehobenem Maße gefährdet ist, wovon insbesondere UNHCR ausgeht (UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. Aktualisierte Fassung, November 2015, S. 26 und UNHCR, "Illegal Exit", S. 24 ff.). [...]

3. Im Falle des Klägers liegt auch die für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderliche Verknüpfung der Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG vor.

Auf der Grundlage der vorliegenden Erkenntnismittel lässt sich feststellen, dass die den syrischen Männern im wehrdienstfähigen Alter drohenden staatlichen Maßnahmen, die das übliche Maß einer strafrechtlichen Ahndung eines Wehrdienstentzugs auch in Kriegszeiten deutlich übersteigen, an eines der in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmale anknüpfen.

Eine realitätsnahe Bewertung des Charakters des gegenwärtigen syrischen Regimes und seiner bereits vorstehend eingehend beschriebenen Handlungen und Aktivitäten gegenüber seiner Bevölkerung lässt nach Überzeugung des Senats keine andere Deutung zu, als dass diese nach der allein maßgeblichen objektiven und nicht nach der auf die höchst subjektiven Motive der jeweiligen Akteure abstellenden Betrachtungsweise an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal im Sinne von jedenfalls § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG anknüpfen und im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG die erforderliche Verbindung gegeben ist.

Die gegenläufige Auffassung der Beklagten und insbesondere des OVG Nordrhein-Westfalen (vgl. Urteil vom 21.02.2017 - 2316/16.A -, juris), des OVG Rheinland-Pfalz (vgl. Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16.OVG -, juris) wie auch des OVG des Saarlandes (Urteile vom 11.03.2017 - 2 A 215/17 - , juris und vom 18.05.2017 - 2 A 176/17 -, juris) würdigt den Charakter des Regimes nach Auffassung des Senats nicht zutreffend.

Das Regime ist dadurch gekennzeichnet, dass es sich nicht nur in besonderes abstoßender Weise über das Lebensrecht und die Menschenwürde der Personen, die in die Hände seiner Exekutoren fallen, hinwegsetzt, sondern auch bereits seit längerem eine durch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekennzeichneten Vernichtungskrieg vornehmlich auch gegen die Zivilbevölkerung führt, die in den von einer anderen Bürgerkriegspartei gehaltenen Gebieten, d.h. auf der "anderen Seite" steht (vgl. nur beispielhaft die ins Einzelne gehende Darstellung und Auflistung der General Assembly in ihrem "Report of the Independent International Commission of Inquiry on the Syrian Arab Republik" vom 02.02.2017 und vom 11.08.2016; vgl. auch Human Rights Watch, "Syria: Coordinates Chemical Attacks on Aleppo - Security Council should impose Sanctions" vom 13.02.2017; BFA S. 27).

Hinzu kommt schließlich, dass das Regime mittlerweile - wenn nicht schon seit vielen Jahren - vollständig von einem "Freund-Feind-Schema" als alles durchziehendes Handlungsmuster geprägt ist, das vereinfacht und etwas plakativ ausgedrückt damit beschrieben werden kann, dass "jeder, der nicht für mich ist, gegen mich ist", jedenfalls solange als er nicht vom Gegenteil überzeugt hat (vgl. hierzu auch Deutsches Orient-Institut an Hess.VGH vom 01.02.2017; SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 12.03.2015: Arbeitsverweigerung).

Auch weiterhin (vgl. bereits VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 29.10.2013 A 11 S 2046/13 -, juris) vermag der Senat kein realistisches anderes Erklärungsmuster für das Vorgehen der syrischen Grenz- und Sicherheitsbehörden erkennen als dass hier an ein flüchtlingsrelevantes Merkmal angeknüpft wird. Schon die besondere Intensität der real drohenden Verfolgungshandlungen indizieren hier die bestehende Gerichtetheit auf ein flüchtlingsrelevantes Merkmal hin (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 29.04.2009 - 2 BvR 78/08 -, NVwZ 2009, 1035 <1036>). Eine abweichende Einordnung könnte allenfalls dann gerechtfertigt sein, wenn die Eingriffe nur die Funktion hätten, der Befriedigung sadistischer Machtphantasien der Sicherheitsorgane zu dienen oder Gelder von Einreisenden zu erpressen, was aber in dem aktuellen Kontext eines diktatorischen Systems, das mit allen Mitteln um seine Existenz kämpft, fernliegt.

Der Annahme der Gerichtetheit steht es nicht entgegen, dass die Maßnahmen bei der Einreise möglicherweise im Rahmen der Aufklärung des zunächst allein bestehenden Verdachts einer abweichenden politischen Gesinnung zur Anwendung gelangen. Eine solche Differenzierung nach "Vorfeldmaßnahmen" und einer "endgültigen" Verfolgung nach Erhärtung des Verdachts einer abweichenden Gesinnung ist weder in der Anerkennungsrichtlinie, noch in der GFK noch im Asylgesetz angelegt. [...]

Sie ist auch inhaltlich nicht zu rechtfertigen. Gerade im Falle eines totalitären Regimes, das sich rücksichtslos über die Integrität und Freiheit seiner Bürger um jeden Preis und mit jedem Mittel hinwegsetzt und sich in einem existentiellen Überlebenskampf befindet, liegt es vielmehr nahe, dass dieses - gewissermaßen bis zum Beweis des Gegenteils - von einer potentiellen Gegnerschaft bei den misshandelten und sogar gefolterten Rückkehrern ausgeht.

Dieser Schluss drängt sich bei Personen, die sich dem Wehrdienst durch Ausreise entzogen haben, bereits deswegen auf, weil ihr Verhalten aus Sicht des syrischen Regimes - und vermutlich auch bei objektiver Betrachtungsweise tatsächlich - zur Schwächung des totalitären Machtapparats in seinem Existenzkampf beigetragen hat. Bestehen ausgehend von der zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nach realistischer Lagebeurteilung keine naheliegenden Deutungsmöglichkeiten für eine fehlende Gerichtetheit, so ist - auch unter Berücksichtigung der Beweisnot der Betroffenen und der humanitären Zielsetzungen des Flüchtlingsrechts - von der naheliegenden und realistischen Alternative auszugehen. Aussagekräftige verwertbare Erkenntnismittel, die es nahe legen könnten, andere Schlussfolgerung auch nur in Betracht zu ziehen, existieren nicht; im Gegenteil: Das angesprochene "Freund-Feind-Schema" ist seither nur noch viel deutlicher zutage getreten. [...]

Auch wenn die politische Gerichtetheit einer generellen Maßnahme oder Regelung wie der Verpflichtung zum Waffendienst nicht immer offen zutage liegt, kann gleichwohl einer solchen Wehrpflicht neben ihrer allgemeinen - flüchtlingsrechtlich nicht einschlägigen - Zielrichtung auch eine Verfolgungstendenz innewohnen; eine solche kann etwa darin liegen, dass zugleich eine politische Disziplinierung und Einschüchterung von politischen Gegnern in den eigenen Reihen, eine Umerziehung von Andersdenkenden oder eine Zwangsassimilation von Minderheiten bezweckt wird. Anhaltspunkte für derartige Intentionen können sich aus der besonderen Ausformung der die Wehrpflicht begründenden Regelungen, aus ihrer praktischen Handhabung, aber auch aus ihrer Funktion im allgemeinen politischen System der Organisation ergeben. Der totalitäre Charakter einer Staatsform, die Radikalität ihrer Ziele, das Maß an geforderter und durchgesetzter Unterwerfung sowie die menschenrechtswidrige Art und Weise ihre Umsetzung sind wichtige Gradmesser für Verfolgungstendenzen. Deutlich werden kann der politische Charakter von Wehrdienstregelungen nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts etwa daran, dass Verweigerer oder Deserteure als Verräter an der gemeinsamen Sache angesehen und deswegen übermäßig hart bestraft, zu besonders gefährlichen Einsätzen kommandiert oder allgemein geächtet werden.

Deswegen ist gerade im Falle des totalitären syrischen Regimes nach der gegenwärtigen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die drohende Bestrafung wegen Wehrdienstentzugs oder Desertion nicht lediglich der Sicherstellung der Wehrpflicht und der Ahndung des mit der Dienstverweigerung verbundenen kriminellen Unrechts dient, vielmehr ist die Bestrafung des Wehrdienstentzugs auch auf eine vermutete regimefeindliche Gesinnung gerichtet, die - auch zum Zwecke der Abschreckung anderer - eliminiert werden soll. In besonderem Maße gilt dies vor dem Hintergrund der mit den Ermittlungen und Verhören einhergehenden Misshandlungen. [...]

Die Annahme des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.2016 - 1 A 10922/16 -, juris Rn. 154), es sei syrischen Machthabern bekannt, dass die Flucht aus Syrien oftmals nicht durch politische Gegnerschaft zum Staat, sondern durch Angst vor dem Krieg motiviert sei, steht angesichts des vorgenannten Befundes dem nicht entgegen. Vielmehr lassen die vorliegenden Erkenntnismittel nur den Schluss zu, dass die Verfolgung von Wehrdienstverweigerern oder Deserteuren nicht allein der auf rationalen Überlegungen fußenden Vollstreckung des syrischen Wehrstrafrechts dient, sondern dass es sich hierbei auch ganz maßgeblich um Verfolgung aufgrund der und Vergeltung der (bis zum Beweis des Gegenteils unterstellten) regimekritischen politischen Überzeugung der Betreffenden handelt (so auch BayVGH, Urteil vom 12.12.2016 - 21 B 16.30372 -, juris; Österr. BVwG, Entscheidung vom 22.03.2017 - W221 2134862-1/E; vgl. auch, wenn auch auf zusätzliche Risikogesichtspunkte abstellend, Schweizer. BVerwG, Urteil vom 18.02.2015 - D-5553/2013). [...]

Ebenso vermag der Senat den Schluss des Oberverwaltungsgerichts des Saarlandes nicht nachzuvollziehen, wonach gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Falle bloßer Wehrdienstentziehung das erhebliche Mobilisierungsinteresse der syrischen Armee spreche (Urteile vom 02.02.2017 - 2 A 515/16 -, juris Rn. 31 und vom 18.05.2017 - 2 A 176/17 -, juris Rn. 31). Aus diesem Umstand könnte sich allenfalls ein Interesse des syrischen Staates, nicht alle Wehrpflichtigen einer langjährigen Haftstrafe zuzuführen, ableiten lassen. Abgesehen davon, dass auch dieser Ansatz spekulativ ist und ein nach rationalen Maßstäben handelndes Regime unterstellt, verhält er sich nicht zu der Gefahr der vorherigen schwerwiegenden Misshandlung oder Folter unmittelbar nach der Ergreifung.

Ebenso wenig teilt der Senat die Auffassung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 04.05.2017 - 14 A 2023/16.A -, juris), dass "die Annahme einer politischen Verfolgung von Wehrdienstentziehern […] noch ferner als für einfache Asylbewerber ohne Zusammenhang mit einer Wehrdienstentziehung [liege]." [...]

Dieser Begründungsansatz des 14. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen ist offenkundig verfehlt. Bereits der Ausgangspunkt der Überlegungen zur Frage der Furcht von Wehrdienstleistenden vor Kriegsgefahren und der Verknüpfung mit dem deutschen Wehrstrafgesetz ist weder überzeugend noch zielführend.

Nicht überzeugend ist der Ausgangspunkt, weil er Verpflichtungen eines Soldaten der Bundeswehr mit angeblichen Verpflichtungen eines Soldaten der syrischen Armee, die einem totalitären Herrscher dient und für eine Vielzahl von Kriegsverbrechen verantwortlich ist, gleichsetzt. Eine solche Gleichsetzung ist aber inakzeptabel und lässt angesichts der Ausblendung der fraglosen Grenzen zulässigen soldatischen Handelns ein erhebliches Maß an Geschichtsvergessenheit erkennen. Nicht zielführend ist dieser Ausgangspunkt, weil mit ihm die entscheidungserhebliche Frage, was der Betroffene im Falle seiner (hypothetischen) Rückkehr zu erwarten hat, aus dem Blick zu geraten droht. Hier bleibt das Urteil des 14. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen allein bei der Wertung, dem syrischen Regime würde ohne greifbaren Anhalt Realitätsblindheit unterstellt, wenn man ihm unterstelle, es schreibe jedem Wehrdienstentzieher eine gegnerische politische Gesinnung zu. Wenn es in dem Urteil weiter heißt, die gegenteilige, also auch die vom erkennenden Senat vertretene, Auffassung sei derartig unplausibel, dass darauf die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung nicht gestützt werden könne, ist der Senat, wie dargelegt, zu einer anderen Auffassung gelangt. In Ermangelung rational nachvollziehbarer Argumente des 14. Senats des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen ist dessen Urteil einer weiteren Auseinandersetzung nicht zugänglich.

c) Dem Kläger steht auch kein die Flüchtlingseigenschaft ausschließender interner Schutz im Sinne des § 3e AsylG offen. [...]