VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 26.07.2017 - 6 L 6363/17.F.A - asyl.net: M25367
https://www.asyl.net/rsdb/M25367
Leitsatz:

Keine Abschiebung eines Straftäters nach Tunesien bei unzureichender Zusicherung der menschenrechtskonformen Behandlung:

1. Die gerichtlich für die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung geforderte Zusicherung, während der Inhaftierung des Betroffenen in Tunesien der konsularischen Vertretung Deutschlands Zugang zu gewährleisten, genügt eine Verbalnote des tunesischen Außenministeriums nicht, die lediglich das Besuchsrecht internationaler und tunesischer Organisationen bestätigt.

2. Jedenfalls wird die gerichtlich festgelegte Bedingung der Zusicherung, dass gegen den Betroffenen nicht die Todesstrafe verhängt wird, nicht erfüllt. Das tunesische Außenministerium hat diesbezüglich lediglich auf ein Vollstreckungsmoratorium bei Todesstrafe verwiesen. Eine auf den Einzelfall bezogene bindende Zusicherung ist nicht erfolgt und bietet daher dem Betroffenen nicht hinreichenden Schutz.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, einstweilige Anordnung, Tunesien, Zusicherung, Verbalnote, Besuchsrecht, Abschiebung, Vollziehbarkeit, Todesstrafe, Haft,
Normen: AsylG § 40 Abs. 1 S. 1, VwGO § 123, IRG § 8, EMRK Art. 3, IRG § 11,
Auszüge:

[…]

Der Antragsteller möchte im Kern erreichen, dass keine Abschiebemaßnahmen auf Basis des Beschlusses des Gerichts vom 05. April 2017 unter Heranziehung der Verbalnote der tunesischen Regierung vom 11. Juli 2017 vorgenommen werden. Für solche Abschiebemaßnahmen ist die Antragsgegnerin zwar nicht zuständig (§§ 71, 58 AufenthG). Sie ist jedoch verpflichtet, die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde gemäß § 40 Abs. 1 Satz 1 AsylG über das Vorliegen einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung zu unterrichten, und leitet insofern das Abschiebungsverfahren ein. […]

Ein in dieser Weise ausgelegter und auf die (vorläufige) Unterlassung der Unterrichtung der zuständigen Ausländerbehörde gerichteter Antrag ist gemäß § 123 VwGO statthaft und auch im Übrigen zulässig. […]

Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zwar hat das angerufene Gericht mit Beschluss vom 05. April 2017 den Antrag des Antragstellers auf vorläufigen Rechtsschutz gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. März 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung grundsätzlich abgelehnt. Eine vollziehbare Abschiebungsandrohung im Sinne von § 40 Abs. 1 Satz 1 AsylG - und damit die Vorbedingung für Abschiebemaßnahmen der zuständigen Ausländerbehörde - liegt gleichwohl erst dann vor, wenn alle im Beschluss vom 05. April 2017 enthaltenen Bedingungen erfüllt sind, solange diese vom beschließenden Gericht nicht abgeändert worden sind. Die nunmehr eingeholte Verbalnote der tunesischen Regierung vom 11. Juli 2017 (s. Bl. 9 und 10 der Gerichtsakte - GA - sowie die deutsche Übersetzung durch das Auswärtige Amt Bl. 11 und 12 GA) erfüllt diese Bedingungen nicht vollständig.

In dem genannten Beschluss hat das Gericht die Abschiebungsandrohung für rechtmäßig erachtet, wenn die Bundesregierung von der tunesischen Regierung völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen darüber einholt, (1.) dass gegen den Antragsteller nicht die Todesstrafe verhängt werden wird, (2.) dass seine Behandlung und Unterbringung in allen Stadien des Ermittlungs- bzw. Strafverfahrens einschließlich einer sich etwaig anschließenden Strafvollstreckung den Anforderungen der EMRK entsprechen wird, (3.) dass der zuständigen konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland jederzeit ungehinderter Zugang zu dem Antragsteller gewährt werden wird, solange sich dieser in Haft befindet, und (4.) dass dem Rechtsbeistand des Antragstellers neben einem ungehinderten Zugang zum Antragsteller während seiner Haftzeit das Recht eingeräumt werden wird, bei jeder Vernehmung des Antragstellers anwesend zu sein. Auch wenn die Zusicherungen in der Verbalnote hinsichtlich der Bedingungen Nr. 2 und Nr. 4 von den Formulierungen im Beschluss vom 05. April 2017 abweichen, so kann doch - ohne dass dies hier näherer Ausführungen bedarf - entgegen der Auffassung der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers von der Erfüllung des Sinns und Zwecks dieser Bedingungen ausgegangen werden.

Bei der Kammer verbleiben jedoch in tatsächlicher Hinsicht Zweifel, ob die in der Verbalnote abgegebene Zusicherung, dass das Internationale Rote Kreuz, der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschen-rechte, die tunesische Menschenrechtsliga und die Nationale Instanz zur Verhütung von Folter das Recht erhalten, den Antragsteller während der Zeit seiner Inhaftierung in Tunesien zu besuchen, die unter Nr. 3 des Beschlusses vom 05. April 2017 festgelegte Bedingung, der konsularischen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland ein Besuchsrecht einzuräumen, in gleichwertiger Weise erfüllt. Es sei hier in Erinnerung gerufen, dass die Bedingung Nr. 3 der verfahrensrechtlichen Absicherung der menschenrechtskonformen Behandlung und Unterbringung des Antragstellers in allen Verfahrensstadien (Bedingung Nr. 2) gerade durch die Bundesrepublik dient, da diese die rechtliche (Mit-)Verantwortung für etwaige menschenrechtswidrige Folgen der von ihr veranlassten Abschiebung trifft. Die Antragsgegnerin hat keinerlei Ausführungen dazu gemacht, dass die nunmehr zugesicherten Besuchsrechte eine gleichwertige objektive Überprüfung der Behandlung und Unterbringung des Antragstellers durch deutsche Behörden und Gerichte ermöglichen und damit dem vom EGMR angemahnten Monitoring entsprechen (vgl. EGMR, Urteile vom 05.04.2011 - 25716/09 -, NVwZ 2012, 1159 ff., vom 17.01.2012 - 8139/09 -, NVwZ 2013, 487 ff., und vom 15.05.2012 - 33809/08 -), wie dies etwa der Fall sein könnte, wenn sich eine der in der Zusicherung genannten Organisationen zu regelmäßigen Besuchen beim inhaftierten Antragsteller und Berichten über ihre Feststellungen an die Deutsche Botschaft verpflichten würde. Die Antragsgegnerin hat auch nicht stattdessen dargelegt, dass unter Berücksichtigung dieser Zusicherung insgesamt ein garantiertes Schutzniveau erreicht wird, das dem hohen Rang der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter des Antragstellers gerecht wird. […]

Unabhängig von den im Eilverfahren auf Grund seiner summarischen Natur nicht ausräumbaren Zweifeln an der Gleichwertigkeit der tatsächlich zugesicherten Besuchsrechte bzw. der Verzichtbarkeit der konsularischen Betreuung sieht die Kammer jedenfalls aber die Bedingung Nr. 1 durch die Verbalnote vom 11. Juli 2017 als nicht erfüllt an. […]

Hinsichtlich einer möglichen Nichtanwendung der Todesstrafe im Fall des Antragstellers hat das tunesische Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten in der Verbalnote nämlich lediglich allgemein betont, dass Tunesien ein (Vollstreckungs-)Moratorium einhalte, auch wenn im tunesischen Strafgesetzbuch die Todesstrafe vorgesehen sei. Eine speziell auf den Antragsteller bezogene explizite und bindende Zusicherung in Anlehnung an §§ 8, 11 IRG, dass ihm bei Rückkehr nicht die Todesstrafe droht, enthält die Verbalnote dagegen nicht. Sie vermittelt ihm damit keinen hinreichenden Schutz vor der Todesstrafe, weil das generelle Moratorium - das die Vollstreckung lediglich aussetzt bzw. aufschiebt - eines Tages auslaufen und nicht verlängert werden könnte. [...]