BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 27.06.2017 - 1 C 26.16 - asyl.net: M25389
https://www.asyl.net/rsdb/m25389
Leitsatz:

1. Darf eine Unzulässigkeitsentscheidung auch dann getroffen werden, wenn die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge in dem schutzgewährenden anderen Mitgliedstaat nicht den Anforderungen der in Art. 20 ff. Qualifikationsrichtlinie für Schutzberechtigte vorgesehenen Rechte genügen?

2. Wirkt sich eine unterbliebene Anhörung auf die Rechtmäßigkeit der Unzulässigkeitsentscheidung aus, auch wenn die betroffene Person im gerichtlichen Rechtsmittelverfahren Gelegenheit hat, sich dazu zu äußern und auch bei Berücksichtigung ihres Vorgehens keine andere Entscheidung ergehen kann?

(Leitsätze der Redaktion; Antwort des EuGH: Urteil vom 16.07.2020 - C-517/17 Addis gg. Deutschland (Asylmagazin 9/2020, S. 314 f.) - asyl.net: M28645)

Schlagwörter: Vorlagebeschluss, EuGH, ausländische Anerkennung, Flüchtlingsanerkennung, internationaler Schutz in EU-Staat, Italien, Sekundärmigration, Drittstaatenregelung, sichere Drittstaaten, internationaler Schutz, unzulässig, Unzulässigkeit, Lebensbedingungen, Folgerechte, Anhörung, persönliches Gespräch, Beachtlichkeit, Verfahrensfehler, Heilung, Sachaufklärungspflicht, Umdeutung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Sozialleistungen, Zuständigkeitsübergang, Europäisches Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge, Addis,
Normen: GG Art. 16a Abs. 2, AEUV Art. 267, EMRK Art. 3, AsylG § 24, AsylG § 25, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2005/85/EG Art. 25 Abs. 2 Bst. a, RL 2011/95/EU Art. 20, RL 2013/32/EU Art. 33 Abs. 2 Bst. a, GR-Charta Art. 4, RL 2013/32/EU Art. 14 Abs. 1 S. 1, RL 2005/85/EG Art. 12 Abs. 1 S. 1, AsylG § 26a Abs. 1, AsylG § 31 Abs. 3, AsylG § 34a, AsylG § 37 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 1 S. 2, VO 604/2013 Art. 5 Abs. 2, EATRR Art. 2,
Auszüge:

[...]

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der ersucht wird, die Rechtssache gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen, zu folgenden Fragen eingeholt:

1. Ist ein Mitgliedstaat (hier: Deutschland) unionsrechtlich gehindert, einen Antrag auf internationalen Schutz wegen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Italien) in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG als unzulässig abzulehnen, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem anderen Mitgliedstaat, der dem Antragsteller bereits internationalen Schutz gewährt hat (hier. Italien), den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen?

2. Falls Frage 1 zu bejahen ist: Gilt dies auch dann, wenn anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien)

a) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates?

b) zwar die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährt werden, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben oder solchen Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen?

3. Steht Art. 14 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2013/32/EU bzw. die Vorgängerregelung in Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG der Anwendung einer nationalen Bestimmung entgegen, wonach eine unterbliebene persönliche Anhörung des Antragstellers bei einer von der Asylbehörde in Umsetzung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG ergangenen Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nicht zur Aufhebung dieser Entscheidung wegen fehlender Anhörung führt, wenn der Antragsteller im Rechtsbehelfsverfahren Gelegenheit hat, alle gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann? [...]

a) Das Bundesamt durfte die Prüfung des Asylantrags nicht mit der Begründung ablehnen, dass der Kläger aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist. Diese auf § 26a AsylG gestützte Entscheidung ist an der während des Revisionsverfahrens in Kraft getretenen Regelung in § 29 Abs. 1 Nr. 3 AsylG in der Fassung des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) zu messen. [...] Die Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen nicht vor, weil sicherer Drittstaat in diesem Sinne bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung nur ein Staat sein kann, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist. Dies hält der Senat für einen "acte clair", wie er näher in seinen Vorlagebeschlüssen vom 23. März 2017 (u.a. BVerwG 1 C 17.16 - juris Rn. 12 ff.) ausgeführt hat.

b) Die Vorlagefragen stellen sich im Rahmen der vom Senat zu prüfenden Frage, ob die vom Bundesamt getroffene Drittstaatenentscheidung in eine andere rechtmäßige Entscheidung umgedeutet werden kann. In Betracht kommt eine Unzulässigkeit des Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. [...]

bb) Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG liegen vor. [...]

dd) Klärungsbedürftig ist jedoch, ob es der Ablehnung des Asylantrags eines bereits als Flüchtling anerkannten Ausländers als unzulässig entgegensteht, wenn die Ausgestaltung des internationalen Schutzes, namentlich die Lebensbedingungen für anerkannte Flüchtlinge, in dem Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) den Anforderungen der Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU nicht genügt, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen. Diese Frage hat das Berufungsgericht zwar insofern verneint, als es die rechtswirksame Umsetzung der Regelungen der Art. 20 bis 35 Richtlinie 2011/95/EU festgestellt hat. Es hat aber keine hinreichenden Feststellungen dazu getroffen, inwieweit anerkannte Flüchtlinge faktisch erschwerten Zugang zu den durch die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU vermittelten Leistungen haben und ob sie Zugang zu den Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. Diese Frage ist entscheidungserheblich, denn im Fall der Bejahung eines rechtlichen Hindernisses für eine Unzulässigkeitsentscheidung in diesem Fall wäre das Verfahren an das Berufungsgericht zur weiteren Sachaufklärung hierzu zurückzuverweisen, im Fall der Verneinung wäre die Revision des Klägers hingegen zurückzuweisen. Die Frage ist klärungsbedürftig, weil in der nationalen Rechtsprechung divergierende Ansichten vertreten werden und der Gerichtshof sie noch nicht entschieden hat.

Vorlagefrage 1

Mit der Frage 1 möchte das vorlegende Gericht eine Klärung herbeiführen, ob ein anerkannter Flüchtling Anspruch auf ein weiteres Anerkennungsverfahren in einem anderen EU-Mitgliedstaat hat, wenn die Lebensbedingungen für Flüchtlinge dort zwar nicht gegen Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK verstoßen, es jedoch unterhalb dieser Schwelle tatsächliche Probleme beim Zugang zu den Leistungen gibt, die Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU vermitteln. Das vorlegende Gericht neigt aus zwei Gründen dazu, einen solchen Anspruch zu verneinen.

Zum einen würde eine Absenkung der durch Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK gezogenen Schwelle das Gemeinsame Europäische Asylsystem und das ihm zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen unterlaufen. Es würde die schon in erheblichem Umfang stattfindende Sekundärmigration von Schutzberechtigten und das sogenannte "asylum shopping" fördern, deren Verhinderung eines der Ziele des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ist. [...]

Zum anderen ergibt sich selbst im Fall der Bejahung eines über Art. 4 GRC und Art. 3 EMRK hinausgehenden Schutzbedarfs nicht die Notwendigkeit eines weiteren Asylverfahrens. Eine Alternative hierzu bietet eine aufenthaltsrechtliche Lösung, die den in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtlingen die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU in Deutschland oder jedenfalls eine gesicherte Rechtsstellung ohne Durchführung eines erneuten Anerkennungsverfahrens einräumt, solange ihm ein Aufenthalt in diesem anderen Mitgliedstaat nicht zumutbar ist. [...] Danach gilt das gesetzliche Abschiebungsverbot in den Verfolgerstaat nach § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auch für ausländische Flüchtlingsanerkennungen (BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - BVerwGE 150, 29 Rn. 29). Besteht für den Ausländer im Staat seiner Flüchtlingsanerkennung (ausnahmsweise) die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK, darf er auch in diesen Staat nicht abgeschoben werden (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG, "soll" dem Ausländer nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG von der Ausländerbehörde eine (humanitäre) Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn ihm auch die Ausreise in einen anderen Staat nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Auf diese Weise kann ein Betroffener auch ohne ein weiteres Asylverfahren einen legalen Aufenthalt in Deutschland erlangen und in den Genuss der damit verbundenen Integrationsrechte kommen. Der Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 Satz 1 AufenthG hat zwar nicht automatisch zu allen einem anerkannten Flüchtling in Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährten Rechten Zugang. Auf einen in einem anderen Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling findet aber Art. 2 des - von Deutschland ratifizierten - Europäischen Übereinkommens über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 Anwendung. Danach geht die Verantwortung für einen Flüchtling spätestens nach Ablauf von zwei Jahren des "tatsächlichen und dauernden Aufenthalts" im Bundesgebiet auf Deutschland über. Damit kann ein in einem anderen Mitgliedstaat anerkannter Flüchtling auch ohne Durchführung eines weiteren Asylverfahrens in Deutschland in den vollen Genuss der mit der Flüchtlingsanerkennung verbundenen Rechte kommen. [...]

Vorlagefrage 2

Mit der in zwei Varianten aufgegliederten Frage 2 möchte das vorlegende Gericht weitere Klärung für den Fall der Bejahung von Frage 1 herbeiführen. Dabei dient die Unterfrage a der Klärung, ob der Unzulässigkeit eines erneuten Asylverfahrens auch der Umstand entgegengehalten werden kann, dass anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates. Hierdurch soll geklärt werden, ob anerkannte Flüchtlinge einen Anspruch auf einen über eine formalrechtliche Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen hinausgehenden Mindeststandard haben.

Mit der Unterfrage b soll geklärt werden, ob der Unzulässigkeit eines erneuten Asylverfahrens auch der Umstand entgegengehalten werden kann, dass anerkannten Flüchtlingen im Mitgliedstaat der Flüchtlingsanerkennung (hier: Italien) zwar die Rechte nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährt werden, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben oder zu solchen Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. [...]

Aus den Feststellungen des Gerichts ergeben sich allerdings auch Hinweise auf tatsächliche Probleme bei der Wahrnehmung der durch Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU gewährten Rechte, etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt. Zum anderen wurde - vom Rechtsstandpunkt des Gerichts konsequent - nicht näher untersucht, in welchem Umfang Flüchtlinge erschwerten Zugang zu Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke haben, die staatliche Leistungen ersetzen oder ergänzen. Entsprechendes gilt für die Frage des Angebots von Integrationsmaßnahmen nach Art. 34 der Richtlinie 2011/95/EU. Es bedarf daher der Klärung durch den Gerichtshof, ob es hierauf für die Frage der Eröffnung eines erneuten Asylverfahrens ankommt.

ee) Klärungsbedürftig ist weiter, welche Folgen die fehlende Anhörung des Ausländers zur beabsichtigten Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts hat, die Art. 12 Abs. 1 Satz 1 der Richtlinie 2005/85/EG vorschreibt, wenn er im Rechtsbehelfsverfahren Gelegenheit hat, alle gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens aus Rechtsgründen keine andere Entscheidung in der Sache ergehen kann. Dieser Klärung dient die dem Gerichtshof unterbreitete Vorlagefrage 3. [...]

Das vom Bundesamt gewählte Verfahren verstieß gegen das bereits damals geltende deutsche Asylverfahrensrecht. Nach § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG ist das Bundesamt zu einer Anhörung des Ausländers gemäß § 25 AsylG verpflichtet (vgl. heute ergänzend § 29 Abs. 2 AsylG). Eine solche ist nicht erfolgt, der Kläger ist weder zu seinen Verfolgungsgründen noch zu seinem Aufenthalt in Italien und der dort erfolgten Flüchtlingsanerkennung angehört worden. Zwar kann nach § 24 Abs. 1 Satz 4 AsylG von einer Anhörung abgesehen werden, wenn der Ausländer "nach seinen Angaben aus einem sicheren Drittstaat (§ 26 a) eingereist ist". Die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestandes sind jedoch nicht erfüllt, denn der Kläger hat derartige Angaben nicht gemacht, das Bundesamt hat seine entsprechenden Erkenntnisse vielmehr über einen Eurodac- Treffer und dem folgende Informationen der italienischen Behörden erlangt.

Das vom Bundesamt gewählte Verfahren verstieß auch gegen Unionsrecht, denn Art. 12 Richtlinie 2005/85/EG schreibt eine Anhörung des Asylantragstellers vor. Einer der Ausnahmetatbestände des Art. 12 Abs. 2 Richtlinie 2005/85/EG lag nicht vor. [...]

Zu klären ist, ob die Ausnahmeregelungen des Art. 12 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2005/85/EG bzw. des Art. 14 Abs. 2 Richtlinie 2013/32/EU abschließend sind oder das Unionsrecht aufgrund der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten weitere im nationalen Recht ausdrücklich geregelte Ausnahmen und Heilungsmöglichkeiten zulässt. Das nationale Recht stuft einen Anhörungsmangel nach § 46 VwVfG als unerheblich ein, wenn offensichtlich ist, dass er die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat. Das ist hier zu bejahen, weil die Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine gebundene Entscheidung darstellt. In derartigen Fällen kann sich ein Anhörungsmangel im Ergebnis nicht auswirken, weil das Bundesamt und nachfolgend die Verwaltungsgerichte aufgrund der ihnen jeweils obliegenden Amtsermittlungspflicht verpflichtet sind, alle Tatbestandsvoraussetzungen der Norm von Amts wegen aufzuklären. Das gilt auch für eventuelle ungeschriebene Voraussetzungen, wie sie sich u.a. aus der Beantwortung der Vorlagefragen 1 und 2 aus unionsrechtlichen Gründen ergeben könnten (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 22. November 2016 - 16 A 5054/14 - juris Rn. 16, VG Lüneburg, Urteil vom 21. Dezember 2016 - 8 A 170/16 - juris Rn. 23). Allerdings hat es eine Kammer des Bundesverfassungsgerichts für den Anwendungsbereich der hier nicht maßgeblichen Dublin III-Verordnung als klärungsbedürftige Frage angesehen, ob die Anwendung von § 46 VwVfG dadurch beschränkt wird, dass Art. 5 Abs. 2 Dublin III-Verordnung - ähnlich wie hier Art. 12 Abs. 2 und 3 Richtlinie 2005/85/EG und Art. 14 Abs. 2 und Art. 34 Abs. 1 Richtlinie 2013/32/EU - Fallgruppen normiert, in denen von einem persönlichen Gespräch (Anhörung) abgesehen werden darf, sofern dies eine spezielle und insoweit abschließende Regelung des Verfahrens darstellt (BVerfG, Kammerbeschluss vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 - juris Rn. 20).

Der Gerichtshof hat sich zwar schon mit Heilungsmöglichkeiten bei Anhörungsmängeln befasst, nicht aber in Bezug auf Unzulässigkeitsentscheidungen nach Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG oder Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU. [...]

Ausgehend von der vorstehend dargestellten Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich zu dem Anhörungsmangel nach Art. 12 Richtlinie 2005/85/EG/Art. 14 i.V.m. Art. 34 Richtlinie 2013/32/EU ausführen, dass dieser nach nationalem Recht im gerichtlichen Verfahren in vollem Umfang kompensiert wird. [...]

Dem Kläger wurde nicht die Beweislast für das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem von ihm geltend gemachten Anhörungsmangel und dem Ergebnis der Verwaltungsentscheidung aufgebürdet. Vielmehr hat das Berufungsgericht unter Bezugnahme auf das oben zitierte Urteil des Gerichtshofs vom 15. Oktober 2015 die Beweislast hierfür der Behörde auferlegt (UA S. 11). Es hat den Kausalzusammenhang bejaht, weil sich dies aus Rechtsgründen ergebe. Zwar ist vorliegend noch nicht abschließend geklärt, ob eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG über die ausländische Flüchtlingsanerkennung hinaus aus unionsrechtlichen Gründen weitere ungeschriebene Voraussetzungen hat und welche dies gegebenenfalls sind (vgl. dazu etwa Vorlagefragen 1 und 2). Soweit dies der Fall sein sollte und das Vorliegen dieser Voraussetzungen vom Senat anhand der vom Berufungsgericht getroffenen Tatsachenfeststellungen - in denen auch das Vorbringen des Klägers im gerichtlichen Verfahren berücksichtigt ist - nicht feststellbar sein sollte, könnte die Entscheidung des Bundesamts, wegen der Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylverfahren durchzuführen, nicht in eine Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG umgedeutet werden. Sie wäre dann wegen materieller Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Auch im Normalfall, in dem es nicht um eine Umdeutung geht, hat ein Anhörungsmangel im deutschen Verwaltungsprozessrecht bei gebundenen Entscheidungen keine selbstständige Bedeutung. Die Amtsermittlungspflicht der Behörde und die umfassende gerichtliche Überprüfung durch die ebenfalls zur Amtsermittlung verpflichteten Verwaltungsgerichte, die überdies dem Kläger selbst rechtliches Gehör gewähren, führt dazu, dass sich eine derartige Verwaltungsentscheidung am Ende entweder als rechtmäßig oder aber als materiell rechtswidrig erweist, ohne dass dem Verfahrensfehler eigenständige Bedeutung zukommt. Der Gerichtshof wird zu würdigen haben, ob diese umfassende gerichtliche Überprüfung es rechtfertigt, einen Anhörungsmangel nach nationalem Recht für unbeachtlich zu erklären, soweit der Behörde bei ihrer Entscheidung - wie hier - kein Ermessen eröffnet ist.

Bei seiner Bewertung der Rechtslage könnte auch eine Rolle spielen, welchen unionsrechtlichen Einschränkungen Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. die Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG unterliegt und wie der Gerichtshof die Vorlagefragen 1 und 2 beantwortet. Denn wenn die Zurückführung eines anerkannten Flüchtlings in den EU-Mitgliedstaat, der ihn anerkannt hat, voraussetzt, dass über das Fehlen von Gründen nach Art. 4 GRC/Art. 3 EMRK hinaus kein faktisch erschwerter Zugang zu den Rechten nach Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU bestehen darf wie auch zu den damit verbundenen Leistungen einschließlich solcher familiärer oder zivilgesellschaftlicher Netzwerke, erweitert sich der Prüfungsumfang für Behörden und Gerichte. Aus einem derartig erweiterten Prüfungsumfang könnte der Gerichtshof eine erhöhte Bedeutung einer unterlassenen Anhörung ableiten.

Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, bei Beantwortung der Vorlagefrage 3 auch seine Rechtsprechung zu präzisieren, wie er sie in seinem Urteil vom 10. September 2013 zur Auslegung der Rückführungsrichtlinie 2008/115/EG formuliert hat (- C-383/13 PPU [ECLI:EU:C:2013:533] -). [...]

3. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, über die Vorlagefragen im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden, weil die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert. Die vorgelegten Fragen stehen im Zusammenhang mit der - unionsrechtlich unerwünschten - Sekundärmigration von Asylsuchenden, zu deren bevorzugten Zielen Deutschland seit geraumer Zeit gehört. Es ist davon auszugehen, dass beim Bundesamt und den Verwaltungsgerichten derzeit mehrere tausend Verfahren zu bearbeiten sind, in denen sich die aufgeworfenen Fragen (zumindest teilweise) stellen, und die aufgrund des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens nicht abschließend entschieden werden können.