VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.08.2017 - 11 S 1724/17 - asyl.net: M25429
https://www.asyl.net/rsdb/M25429
Leitsatz:

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach §123 VwGO gegen die drohende Abschiebung einer psychisch kranken Person darf nicht mit der Auflage abgelehnt werden, dass am Tag der Abschiebung die Reisefähigkeit positiv ärztlich festgestellt werden müsste, da die Erfüllung dieser Auflage dann nicht mehr der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Ein solches Vorgehen widerspricht dem Grundsatz von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG (Rechtsweggarantie).

2. In der Entscheidung über den einstweiligen Rechtsschutzantrag hat das Verwaltungsgericht von der Situation im Entscheidungszeitpunkt auszugehen. Stellt das Gericht nach allein möglicher summarischer Prüfung fest, dass nach seiner Überzeugung ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vorliegt, ist dem Eilantrag stattzugeben.

3. Die vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätze für die Standards ärztlicher Stellungnahmen gelten auch für Stellungnahmen, die von Behörden, z.B. für den Beweis der Reisefähigkeit, vorgelegt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Reisefähigkeit, Suizidgefahr, einstweilige Anordnung, fachärztliches Attest, psychische Erkrankung,
Normen: GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 60a Abs. 2, AufenthG § 60a Abs. 2c, VwGO § 123,
Auszüge:

[...]

1. Die Abweisung des Eilantrages durfte nicht mit der Maßgabe erfolgen, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Algerien nur durchgeführt werden darf, wenn zuvor seine Reisefähigkeit durch ein ärztliches Attest bestätigt worden ist. Die Beschwerde rügt insoweit zu Recht, dass die gerichtliche Entscheidung auf der Grundlage einer zum maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung ausreichenden und selbstständigen richterlichen Prüfung der Reisefähigkeit erfolgen muss, die nicht durch eine in die spätere Vollstreckung verlagerte und dann nicht mehr der gerichtlichen Kontrolle unterliegenden Auflage ersetzt werden kann.

Es ist schon umstritten, ob die Ablehnung eines Eilantrages überhaupt mit einer Auflage oder Bedingung zu Lasten des Antragsgegners erfolgen darf (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 32. EL Oktober 2016, § 80 VwGO Rn. 438 ff., m.w.N. zum Meinungsstand; Funke-Kaiser, in: Bader, VwGO, 6. Aufl. 2014, § 80 VwGO Rn. 105). § 80 Abs. 5 S. 4 VwGO sieht zwar vor, dass die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden kann, diese gerichtliche Gestaltungsbefugnis betrifft allerdings ausdrücklich nur Fälle eines erfolgreichen Aussetzungsantrags. Es spricht viel dafür, dass das Schweigen des Gesetzes zu Auflagen bei ablehnenden Entscheidungen beredt ist, mit der Folge, dass hier keine Regelungslücke gesehen werden kann, die eine entsprechende Anwendung ermöglicht. Eine solche wäre mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung und die spezifische Funktion der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch problematisch, da eine entsprechende Anwendung der Vorschrift auf eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltung unter Korrektur der Verwaltungsentscheidung und eine Übernahme von Verwaltungsfunktionen durch die Gerichte hinauslaufen würde, und dies zu Lasten der Rechtsunterworfenen in Konstellationen, in denen das Verwaltungshandeln Anlass zur Anrufung der Verwaltungsgerichte gegeben hat (so: Schoch, a.a.O.). Die Auflage nach § 80 Abs. 5 S. 4 VwGO dient dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Vollziehung eines Verwaltungsaktes; sie ist aber nicht dazu da, um verfehlte Verwaltungsentscheidungen in der Sache selbst zu korrigieren (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 11.01.1984 - 10 S 2773/83 -, NJW 1985, 449).

Für Eilanträge nach § 123 VwGO gilt insoweit nichts anderes. Weder Wortlaut noch Sinn und Zweck der Vorschrift geben einen Anhalt dafür, dass die Ablehnung eines solchen Antrags mit Auflagen erfolgen dürfte. Zwar besteht im Rahmen des § 123 Abs. 1 VwGO grundsätzlich und im Rahmen des Rechtsschutzzieles eine weite gerichtliche Gestaltungsbefugnis, allerdings nur für die Ausgestaltung und die Reichweite stattgebender Entscheidungen. Zudem findet diese Befugnis ihre Grenze in der dem Gericht zugewiesenen Aufgabe der Gewährung effektiven Rechtsschutzes. Dieser wird ein Gericht nicht gerecht, wenn es den Eilantrag trotz fehlerhaften behördlichen Handelns unter Berufung auf eine Auflage zurückweist und die effektive Möglichkeit der gerichtlichen Überprüfung der Einhaltung dieser Auflage nicht sichergestellt ist (vgl. zu letzterem Erfordernis: BVerfG, Beschluss vom 30.04.2015 - 2 BvR 746/15 -, NVwZ 2015, 896, zu einer Abschiebung nach Italien unter der Maßgabe, dass die Antragsgegnerin die zuständigen italienischen Behörden vor der Abschiebung der Antragsteller über die Ankunft einer Familie mit Kindern zu informieren und in Abstimmung mit den italienischen Behörden sicherzustellen hat, dass die Antragsteller zusammen als Familie unmittelbar im Anschluss an die Übergabe an die italienischen Behörden eine gesicherte Unterkunft erhalten; Beschluss vom 24.07.2017 - 2 BvR 1487/17 -, Rn. 50, BeckRS 2017, 118574 zu § 58a AufenthG).

Unbeschadet dieser grundsätzlichen Bedenken ist die vorliegend erfolgte Maßgabe des Verwaltungsgerichts aber auch aus weiteren Gründen unzureichend. Die Maßgabe, dass die Abschiebung des Antragstellers nach Algerien nur durchgeführt werden darf, wenn zuvor seine Reisefähigkeit durch ein ärztliches Attest bestätigt worden ist, ist jedenfalls zu unbestimmt (vgl. hierzu: BVerfG, Beschluss vom 24.07.2017 - 2 BvR 1487/17 - Rn. 47 f., a.a.O.). Sie erfasst die Voraussetzungen einer zulässigen Abschiebung in vorliegendem Fall eines ernsthaft drohenden Suizids aus Anlass der Abschiebung nicht hinreichend. Hält man eine Auflage auch in Fällen der Abschiebung bei Suizidgefahr für grundsätzlich zulässig - woran für den Senat aber auch unter Berücksichtigung der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Maßgaben bei Abschiebungsanordnungen nach § 58a AufenthG wegen der dort betonten besonderen Konstellation des § 58a AufenthG, die mit dem der Auslieferung vergleichbar sei, erhebliche Zweifel bestehen -, muss die Auflage jedenfalls so bestimmt abgefasst sein, dass über deren Inhalt im Rahmen der Vollstreckung keine ernsthaften Zweifel aufkommen können. [...]

Darüber hinaus gilt, dass die Ablehnung eines Antrags nach § 123 VwGO mit einer die Feststellung des Gesundheitszustands am Tage der Abschiebung betreffenden Maßgabe regelmäßig vor Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG keinen Bestand haben kann. Denn einerseits gibt das Verwaltungsgericht die Prüfung einer Voraussetzung, die von ihm erkennbar als entscheidungserheblich erachtet wird, zunächst aus der Hand und überlässt die Überprüfung der Exekutive. Dies dürfte - unbeschadet der oben dargelegten Zweifel an der Zulässigkeit nach Verwaltungsprozessrecht - verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig sein. Jedoch muss die zutreffende Beachtung der Maßgabe durch die Ausländerbehörde einer erneuten gerichtlichen Überprüfung zugänglich sein, was angesichts der zeitlichen Nähe von ärztlicher Untersuchung, Festhalten des Untersuchungsergebnisses und Vollzug der Abschiebung bei Maßgaben wie der hier verfügten regelmäßig nicht der Fall sein kann.

Zudem gibt der Fall Anlass, darauf hinzuweisen, dass an die ärztliche Bescheinigung einer Reisefähigkeit nach § 60a Abs. 2 AufenthG keine geringeren Anforderungen zu stellen sind, als die, die nach Gesetz und Rechtsprechung grundsätzlich auch von den Betroffen erfüllt werden müssen, wenn sie eine krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit geltend machen (vgl. § 60a Abs. 2c S. 2 und 3 AufenthG), nämlich eine qualifizierte Bescheinigung, die in Fällen psychischer Erkrankungen regelmäßig durch einen Facharzt - oder gegebenenfalls Psychologischen Psychotherapeuten - erteilt werden muss, der eine hinreichende fachliche Expertise mit Blick auf das zu beurteilende Krankheitsbild hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 - 10 C 8.07 -, NVwZ 2008. 330; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60a AufenthG, April 2017 Rn. 117.5). Für eine Privilegierung der die Abschiebung durchführenden Behörde gäbe es keine Rechtfertigung. Davon kann hier bei der Bescheinigung durch einen Arzt für Chirurgie angesichts der in Frage stehenden Suizidgefahr durch die Abschiebung nicht ausgegangen werden.

Soweit sich aus der beigezogenen Behördenakte ergibt, dass für den hier im Streit stehenden Abschiebungstermin Frau Dr. ... - ohne weitere ärztliche Bezeichnungen - im Rahmen eines Dienstvertrages den Flug als Ärztin begleiten sollte, würde nichts anderes gelten. Zudem bestünden angesichts der laut Dienstvertrag vom 23./27. Juli 2017 zeitabhängigen Vergütung und insbesondere des Umstandes, dass diese Ärztin mit Schreiben vom 22. Januar 2010 gegenüber dem Stadtamt XXXX ihr Tätigkeitsfeld als - alleine darauf spezialisierte - medizinische Begleiterin von Abzuschiebenden nebst Flugreisetauglichkeits- und Gewahrsamsfähigkeitsuntersuchungen angeboten hat (www....), Bedenken, soweit diese am Tag der Abschiebung auch die Reisefähigkeit bescheinigen sollte. Es liegt auf der Hand, dass hier fachlich-ethische und handfeste monetäre Interessen in Konflikt geraten können, die bei der Bewertung nicht außer Betracht bleiben können.

2. Ergibt die auf dargelegte Gründe beschränkte Prüfung des Beschwerdegerichts (§ 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO), dass die tragende Begründung des Verwaltungsgerichts die Ablehnung des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht rechtfertigt, hat der Senat umfassend zu prüfen, ob vor-läufiger Rechtsschutz nach allgemeinen Maßstäben zu gewähren ist (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 14.03.2013 - 8 S 2504/12 -, VBlBW 2013, 384 m.w.N.).

Davon ausgehend ist vorliegend ein Anordnungsanspruch gegeben. Dem Senat ist sehr wohl bewusst, dass Suiziddrohungen in etlichen Fällen appellativen Charakter haben und auch aus taktischen Gründen vorgebracht werden. Um einen solchen Fall handelt es sich hier allerdings ersichtlich nicht und dem muss das Behördenhandeln gerecht werden.

Aufgrund der im verwaltungsgerichtlichen wie auch im Beschwerdeverfahren vorgelegten ärztlichen Atteste bzw. Befundberichte hat der Antragsteller den erforderlichen Anordnungsanspruch ausreichend glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 VwGO, § 920 Abs. 2 ZPO). Hiernach ist als über-wiegend wahrscheinlich davon auszugehen, dass er aktuell reiseunfähig ist und daher ein nicht zielstaatsbezogener Duldungsgrund im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegt. Deshalb war die beantragte Sicherungsanordnung zu erlassen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, § 60a AufenthG Rn. 328), wobei die Frage offen bleiben kann, ob hier zur ausreichenden Glaubhaftmachung bereits ausreicht, dass die Erfolgsaussichten als offen an-zusehen sind (so OVG LSA, Beschluss vom 20.06.2011 - 2 ME 38/11 -, InfAuslR 2011, 390 und Funke-Kaiser, a.a.O., Rn. 330). [...]