VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 13.09.2017 - 4 B 2967/17 - asyl.net: M25535
https://www.asyl.net/rsdb/M25535
Leitsatz:

Bei ungeklärtem Alter ist die betroffene Person vorläufig in Obhut zu nehmen:

Wenn Zweifel an der Altersfeststellung eines früher zuständigen Jugendamtes bestehen, z.B. weil dessen Einschätzung, die betroffene Person sei volljährig, nicht nachvollziehbar begründet und dokumentiert ist, muss das Jugendamt am neuen Wohnort sich selbst ein Bild verschaffen.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf VGH Bayern, Beschluss vom 23.09.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - asyl.net: M22712)

Schlagwörter: Altersfeststellung, Jugendamt, Inobhutnahme, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, Bindungswirkung früherer Entscheidungen,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1 S. 2, SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, SGB VIII § 42a Abs. 1 S. 1, GG Art. 19 Abs. 4 S. 1,
Auszüge:

[…]

a) Der Antragsteller hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Die einstweilige Anordnung ist zur Wahrung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne von Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG geboten. Bei dem als richtig unterstellten Geburtsdatum des … 1999 käme die Entscheidung in der Hauptsache mit Blick auf die alsbaldige Volljährigkeit des Antragstellers zu spät, was zu einem Anspruchsverlust führen würde (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 20.10.2011 - OVG 6 S 51.11 und 6 M 63.11, juris Rn. 8). Der Antragsteller kann auch nicht darauf verwiesen werden, bis zur ordnungsgemäß durchgeführten Alterseinschätzung einstweilen in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene zu verbleiben. Denn die dortige Unterbringung und Leistungsgewährung sind mit denen in einer Jugendhilfeeinrichtung oder Pflegefamilie nicht vergleichbar (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.06.1999 - 5 C 24.98, juris Rn. 29 f.; Bayerischer VGH, B. v. 23.09.2014-12 CE 14.1833, juris Rn. 18). […]

Die Altersfeststellung des Jugendamtes der Stade Heidelberg ist für den Antragsgegner weder verbindlich (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/6392, S. 20; Bayerischer VGH, B. v. 23.09.2014 - 12 CE 14.1833, juris Rn. 21), noch kann er sich die Feststellungen erfolgreich zu Eigen machen. Entgegen der Ansicht des Antragsgegners können Einwendungen gegen die Altersfeststellung nicht (nur) gegenüber dem Jugendamt der Stadt Heidelberg geltend gemacht werden. Denn die Voraussetzungen einer Inobhutnahme durch den Antragsgegner hat dieser in einer eigenständigen Prüfung zu klären. Die Altersfeststellung selbst stellt mangels Regelungscharakter keinen Verwaltungsakt dar. Sie ist vielmehr "bloße" Vorfrage zu einem Verwaltungsakt - hier: der Inobhutnahme. Der Antragsgegner kann zwar eine bereits vorgenommene Altersfeststellung eines anderen Jugendamtes heranziehen. Allerdings ist dies nur insoweit tragfähig, als die Altersfeststellung nicht zu beanstanden ist. Das ist hier aber gerade nicht der Fall. Es bestehen konkrete, auf den Einzelfall bezogene Anhaltspunkte dafür, dass die Richtigkeit der Altersfeststellung ernstlich in Frage gestellt ist, weswegen auch eine Bindung an die Feststellung des Jugendamtes der Stadt Heidelberg nach § 33a SGB 1 nicht in Betracht kommt (vgl. Weselski in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB 1, 2. Aufl. 2011, § 33a Rn. 11). Dabei unterliegt die Altersfeststellung einer vollumfänglichen gerichtlichen Überprüfung. Dem Jugendamt steht bei der Altersfeststellung kein Beurteilungsspielraum zu, der die gerichtliche Überprüfung einschränken würde (vgl. Bayerischer VGH, B. v. 05.04.2017 - 12 BV 17.185, juris Rn. 34 ff.). [...]

(2) In dem Fall, dass - wie hier - die Erfolgsaussichten der Hauptsache offen sind, ist ein Anordnungsanspruch dann zu bejahen, wenn eine Nachteilsabwägung zu einem Überwiegen der Interessen des Antragstellers führt (vgl. Bayerischer VGH, B. v. 23.09.2014 -12 CE 14.1833, juris Rn. 25; B. v. 13.08.2014 - 19 CS 14.1196, juris Rn. 21). [...]

Im Falle des Unterbleibens der einstweiligen Anordnung und des späteren Erfolgs in der Hauptsache kann die Inobhutnahme nicht mehr umgesetzt werden. [...] Die fehlende Nachholbarkeit der Inobhutnahme ist deswegen als besonders schwerwiegend zu bewerten, weil damit der Sinn und Zweck von §§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII unterlaufen wird. Mit diesen Regelungen wollte der Gesetzgeber gerade sicherstellen, dass unbegleitet eingereiste Minderjährige nicht in asylrechtlichen Aufnahmeeinrichtungen oder Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. [...]

Soweit in der bis zur Entscheidung in der Hauptsache vorläufig angeordneten Inobhutnahme eine Vorwegnahme der Hauptsache zu sehen wäre, ist diese jedenfalls ausnahmsweise zulässig. Denn der Erlass der einstweiligen Anordnung ist zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes im Sinne des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, insbesondere mit Blick auf die alsbaldige Vollendung des 18. Lebensjahres des Antragstellers, unerlässlich. [...]