VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.09.2017 - A 11 S 2067/17 - asyl.net: M25540
https://www.asyl.net/rsdb/M25540
Leitsatz:

[Zur Darlegungslast im Berufungszulassungsverfahren bei Einführung von Erkenntnismitteln und zur diesbezüglichen richterlichen Sachaufklärungspflicht:]

1. Wird eine Tatsachenfeststellung auf verschiedene Erkenntnismittel gestützt und ist eines oder sind mehrere davon ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt, so ist mit dem Zulassungsantrag zur ordnungsgemäßen Darlegung des Verfahrensmangels der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - durch die verfahrens­fehlerhafte Verwendung weiterer Erkenntnismittel - darzutun, weshalb diese verfahrensfehlerfrei eingeführten Erkenntnismittel das gefundene Ergebnis nicht eigenständig stützen (Rn.19).

2. Aus § 108 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO ist im Asylprozess eine Pflicht zur Auseinandersetzung mit von den Beteiligten vorgelegten Tatsachen- und Lageeinschätzungen in den schriftlichen Urteilsgründen abzuleiten, sofern diese Einschätzungen jeweils in sich schlüssig sind. Eine ordnungsgemäße richterliche Überzeugungs­bildung setzt eine ausreichende Aufklärung des Sachverhalts voraus, die sich in den Urteilsgründen widerspiegeln muss (Rn.28).

(Amtliche Leitsätze; keine Zulassung der Berufung gegen Urteil des VG Stuttgart vom 20.7.2017, A 1 K 6337/16)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufungszulassungsantrag, Erkenntnismittel, rechtliches Gehör, Verfahrensmängel, grundsätzliche Bedeutung, Berufungszulassung, Verfahrensfehler,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 3, AsylG § 78 Abs. 4 S. 4, VwGO § 86 Abs. 1, VwGO § 138, GG Art. 103 Abs. 1, VwGO § 108 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1 Die Anträge auf Zulassung der Berufung, der auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) sowie des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG) gestützt sind, haben keinen Erfolg. [...]

3 a) Die grundsätzliche Bedeutung der von den Klägern aufgeworfenen und formulierten Frage,

4 "Besteht in Afghanistan insgesamt bzw. im gesamten Staatsgebiet Afghanistans ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG"

5 ist deswegen nicht hinreichend dargelegt, weil bereits die Ausgangsüberlegung im Zulassungsvorbringen, das Verwaltungsgericht habe diese Frage verneint, indem es in seiner Entscheidung festgestellt habe, dass die Kläger keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes hätten, unzutreffend ist. [...]

6 b) Auch hinsichtlich der weiteren Frage,

7 "Hat eine afghanische Familie mit einem am … 2011 in Teheran (Iran) geborenen Kind im Hinblick auf die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage in Afghanistan eine realistische Chance, dort eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden?"

8 verfehlt der Zulassungsantrag das Darlegungsgebot. [...]

12 c) Die Frage schließlich,

13 "Sind schwere psychische Erkrankungen in Afghanistan als solche behandelbar?"

14 ist in ihrer Allgemeinheit in einem Berufungsverfahren weder klärungsfähig noch -bedürftig, da allein die Behandelbarkeit der konkreten Erkrankungen der Klägerin zu 2 in einem Berufungsverfahren entscheidungserheblich wäre. [...]

17 1. Soweit die Kläger eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht rügen, die in § 86 Abs. 1 VwGO geregelt ist, kann dies schon deshalb nicht zur Zulassung der Berufung führen, weil nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG nur das Vorliegen von in § 138 VwGO bezeichneten Verfahrensmängeln zur Berufungszulassung führt, wenn diese Verfahrensmängel geltend gemacht werden. [...]

18 2. Soweit die Kläger die Verletzung ihres grundrechtsgleichen Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das Verwaltungsgericht darin sehen, dass das Verwaltungsgericht die im Urteil zitierte Rechtsprechung nicht in das Verfahren eingeführt habe, führt dieser Vortrag nicht zum Erfolg des Zulassungsantrags. [...]

20 [...] Wird eine Tatsachenfeststellung auf verschiedene Erkenntnismittel gestützt und ist eines oder sind mehrere davon ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt, so ist mit dem Zulassungsantrag zur ordnungsgemäßen Darlegung des Verfahrensmangels der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör - durch die verfahrensfehlerhafte Verwendung weiterer Erkenntnismittel - darzutun, weshalb diese verfahrensfehlerfrei eingeführten Erkenntnismittel das gefundene Ergebnis nicht eigenständig stützen.

21 b) aa) Ausgehend hiervon führt der vom Zulassungsvorbringen angegriffene Verweis auf verschiedene obergerichtliche Entscheidungen zum Beleg der Aussage, dass nicht ersichtlich sei, dass die Kläger zu 1 und zu 2 nicht in der Lage sein könnten, das notwendige Existenzminimum in ihrem Heimatland nicht sicherstellen könnten, auf keinen Verfahrensfehler. Abgesehen davon, dass der Verweis mit "vgl. auch" eingeführt wird und es klar erkennbar ist, dass es dem Verwaltungsgericht nicht darum ging, Tatsachen einzuführen, die sich unmittelbar mit den Klägern zu 1 und zu 2 beschäftigen, wird im gesamten Absatz konkret anhand der beruflichen Argumentation der Kläger argumentiert. Die angeführten Gerichtsentscheidungen sind hier also gar nicht als Erkenntnismittel zur - entscheidungstragenden - Tatsachenfeststellung herangezogen worden. [...]

23 cc) Soweit schließlich die Feststellungen zur Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen auf landesüblichem Standard auch auf Gerichtsentscheidungen gestützt sind (Urteil S. 19 2. Abs.) und diese nicht in das Verfahren eingeführt worden sind, ist dies zwar erkennbar verfahrensfehlerhaft. Das Zulassungsvorbringen geht jedoch nicht darauf ein, dass diese Feststellung auch auf das "Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan" vom 27. Juni 2017 und eine Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland vom 22.08.2007 gestützt ist. Nach den oben dargelegten Maßstäben hätte es den Klägern aber oblegen, darzutun, dass das ausweislich der Sitzungsniederschrift ausdrücklich in die mündliche Verhandlung eingeführte "Länderinformationsblatt" alleine die relevante Tatsachenfeststellung nicht hinreichend zu tragen vermag. Auch zur Auskunft der Botschaft vom 22.08.2007 verhält sich das Zulassungsvorbringen nicht.

24 3. Die Rüge, das Verwaltungsgericht habe den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es sich mit den aktuellen Auskünften der relevanten Stellen und der von den Klägern eingeführten Beiträgen von Stahlmann und der Auskunft der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 5. April 2017 nicht auseinandergesetzt, führt nicht zur Zulassung der Berufung.

25 a) Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, das tatsächliche und rechtliche Vorbringen eines Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in seine Erwägungen einzubeziehen. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass das Gericht dieser Verpflichtung nachgekommen ist (BVerfG, Beschluss vom 01.02.1978 - 1 BvR 426/77 -, BVerfGE 47, 182; vom 25.03.1992 - 1 BvR 1430/88 -, BVerfGE 85, 386; vom 19.05.1992 - 1 BvR 986/91 -, BVerfGE 86, 133; Kammerbeschluss vom 17.04.2012 - 1 BvR 3071/10 -, juris; vom 15.05.2012 - 1 BvR 1999/09 -, juris). Es ist nicht gehalten, sich mit jedem Vorbringen des Klägers in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Nur die wesentlichen der Rechtsverteidigung und -verfolgung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden. Daher kann aus der fehlenden Erörterung von Teilen des Vorbringens nicht ohne weiteres der Schluss gezogen werden, diese seien gar nicht erwogen worden. Eine derartige Annahme ist vielmehr nur dann gerechtfertigt, wenn sich im Einzelfall klar ergibt, dass Tatsachen oder Tatsachenkomplexe übergangen wurden, deren Entscheidungserheblichkeit sich aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12.10.1988 - 1 BvR 818/88 -, BVerfGE 79, 51). [...]

28 Aus § 108 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO ist im Asylprozess eine Pflicht zur Auseinandersetzung mit von den Beteiligten vorgelegten Tatsachen- und Lageeinschätzungen in den schriftlichen Urteilsgründen abzuleiten, sofern die Einschätzungen jeweils in sich schlüssig sind. Eine ordnungsgemäße richterliche Überzeugungsbildung setzt eine ausreichende Aufklärung des Sachverhalts voraus (BVerwG, Urteil vom 31.07.2002 - 8 C 37.01 -, NVwZ 2003, 224 <225>), die sich in den Urteilsgründen widerspiegeln muss (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, BVerwGE 140, 319 Rn. 28). Denn das Verwaltungsgericht muss das Ergebnis seiner Entscheidungsfindung in nachvollziehbarer Weise darlegen, wozu die Auseinandersetzung mit gegenläufigen tatsächlichen Einschätzungen gehört. Ein Verstoß gegen § 108 Abs. 1 VwGO ist aber kein in § 138 VwGO aufgeführter Verfahrensmangel und kann daher - sollte er hier vorliegen - nicht zur Berufungszulassung führen. [...]

30 4. Auch soweit die Kläger die Ablehnung der Beweisanträge als verfahrensfehlerhaft rügen, führt dies nicht zur Zulassung der Berufung. [...]