OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 11.09.2002 - 4 BS 228/02 - asyl.net: M2555
https://www.asyl.net/rsdb/M2555
Leitsatz:

Die bislang angewendeten pauschalen Erlasse des Sächsischen Staatsministerium des Innern (SMI) sind nicht mit dem Inhalt von § 2 Abs. 2 AsylbLG vereinbar.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: D (A), Asylbewerber, Gemeinschaftsunterkünfte, Asylbewerberleistungsgesetz, Barleistungen, Sachleistungen, Ermessen, Örtliche Umstände, Ermessensfehler, Neubescheidung, Vorwegnahme der Hauptsache, Einstweilige Anordnung
Normen: AsylbLG § 2 Abs. 2; VwGO § 123; GG Art. 19 Abs. 4; AsylbLGDVO § 1 Nr. 2
Auszüge:

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass die Antragsgegnerin seinen Rechtsanspruch auf eine fehlerfreie Ausübung des dieser durch § 2 Abs. 2 AsylbLG eingeräumten Ermessens verletzt hat und sie deshalb im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten ist, über den von ihm gestellten Antrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der darauf gerichtete Antrag ist im weitergehenden Leistungsantrag enthalten.

Der Antragsteller hat entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Zwar darf das Gericht entsprechend dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO grundsätzlich nicht vorwegnehmen, was der Antragsteller im Hauptsacheverfahren erreichen könnte (vgl. zum sog. Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache: Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl., § 123, RdNr. 13; Finkenburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., RdNr. 202 ff.). Im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot der (auch nur vorläufigen) Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung aber ausnahmsweise dann nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes notwendig ist, insbesondere wenn ohne sie schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile für den Antragsteller entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfG, Beschl. v. 25.10.1988, NJW 1989, 827 und Beschl. v. 19.10.1977, NJW 1978, 693).

Ein solcher unwiederbringlicher Rechtsverlust wäre im vorliegenden Fall aber gegeben, da mit dem Verbrauch der - anstatt von Geldleistungen bis zum rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens gewährten - Sachleistungen wegen der hierdurch eintretenden Bedarfsdeckung der Rechtsanspruch des Antragstellers auf Geldleistungen bzw. auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Antragsgegnerin nach § 2 Abs. 2 AsylbLG erlöschen würde. Dem Antragsteller ist deshalb das Abwarten der Hauptsacheentscheidung nicht zumutbar (vgl. SächsOVG, Beschl. v. 8.12.1994, SächsVBl. 1995, 104; VG Leipzig, Beschl. v. 11.8.2000, NVwZ-Beilage I 3/2001, 33).

Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Die zuständige Behörde hat bei ihrer Ermessenentscheidung auf die örtlichen Umstände abzustellen. Der Senat geht davon aus, dass mit "örtlichen Umständen" im Sinne der Vorschrift des § 2 Abs. 2 AsylbLG vom Gesetzgeber die konkrete Gemeinschaftsunterkunft, in der der betreffende Leistungsberechtigte untergebracht ist und nicht etwa der gesamte Einzugsbereich der jeweils zuständigen Behörde (nach § 1 Nr. 2 AsylbLGDVO sind dies die Landratsämter der Landkreise und die Stadtverwaltungen der kreisfreien Städte) in Bezug genommen worden ist (so auch VG Leipzig, Beschl. v. 11.8.2000, aaO).

Im vorliegenden Fall liegt nach Auffassung des Senats ein Ermessensfehlgebrauch seitens der Antragsgegnerin vor, denn diese hat ihr durch § 2 Abs. 2 AsylbLG eingeräumtes Ermessen hinsichtlich der Bestimmung der Form der dem Antragsteller zustehenden Leistungen nicht dem Zweck der Ermächtigung entsprechend ausgeübt. Die Ablehnung einer Geldleistung unter Berufung auf den Erlass des Sächsischen Staatsministeriums des Innern zu § 2 Abs. 2 AsylbLG vom 11.5.2000 (Az.: 46-1353.70/1) und mit der Begründung, dass es in der Gemeinschaftsunterkunft, in der der Antragsteller untergebracht sei, bei unterschiedlichen Formen der Leistungsgewährung an Leistungsberechtigte aus unterschiedlichen Kulturkreisen vermutlich zu Spannungen kommen könne und außerdem dadurch die für alle Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft eingerichtete Sachleistungsversorgung nicht mehr aufrechterhalten werden könne, entspricht nicht den vorstehend angeführten Anforderungen an die Antragsgegnerin bei der ihr obliegenden Ermessensausübung nach § 2 AsylbLG. Denn mit dieser pauschalen Ablehnung einer Geldleistungsgewährung an (alle) Leistungsberechtige(n) in der Gemeinschaftsunterkunft ... in Dresden allein wegen der bloßen Möglichkeit des Entstehens sozialer Spannungen wäre faktisch immer allein die Bestimmung der Sachleistung ermessensgerecht.