BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 04.10.2017 - 2 BvR 846/17 u.a. (Asylmagazin 3/2018, S. 89) - asyl.net: M25608
https://www.asyl.net/rsdb/M25608
Leitsatz:

Bei "Upgrade-Klagen" syrischer Schutzsuchender ist Prozesskostenhilfe zu gewähren:

1. Verfassungsbeschwerden in fünf Verfahren offensichtlich begründet. Die Ablehnung von Prozesskostenhilfe für "Aufstockungsklagen" von syrischen Schutzsuchenden durch das VG Hannover verstößt gegen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes.

2. Schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen können im Prozesskostenhilfeverfahren nicht durchentschieden werden.

3. Die Erfolgsaussichten der Verfahren sind offen, da das OVG Niedersachsen in einem ähnlichen Verfahren die Berufung zugelassen hat zu der Frage, ob Asylsuchenden aus Syrien wegen der illegalen Ausreise, Asylantragstellung und längerem Auslandsaufenthalt in Syrien Verfolgung aufgrund regimefeindlicher Gesinnung droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Flüchtlingsanerkennung, Prozesskostenhilfe, Aufstockung, Upgrade-Klage, Aufstockungsklage, Rückkehrgefährdung, Nachfluchtgründe, subsidiärer Schutz, Militärdienst, Asylantrag, illegale Ausreise, Auslandsaufenthalt, politische Verfolgung, faires Verfahren, rechtliches Gehör, effektiver Rechtsschutz, Erfolgsaussichten, Durchentscheiden, Upgrade-Klage
Normen: GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, GG Art. 3 Abs. 1, ZPO § 114 Abs. 1 S. 1, VwGO § 166, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Fachgerichte überschreiten ihren Entscheidungsspielraum, wenn sie die Anforderungen an das Vorliegen einer Erfolgsaussicht überspannen und dadurch den Zweck der Prozesskostenhilfe, dem Unbemittelten den weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen, deutlich verfehlen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357 f.>). Die Prüfung der Erfolgsaussicht soll nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vorzuverlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (vgl. BVerfGE 81, 347 <357>; vgl. ausführlich Bergner/Pernice, in: Emmenegger/Wiedmann, Linien der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Band 2, S. 241 <258 ff.>). Prozesskostenhilfe ist allerdings nicht bereits zu gewähren, wenn die entscheidungserhebliche Frage zwar noch nicht höchstrichterlich geklärt ist, ihre Beantwortung aber im Hinblick auf die einschlägige gesetzliche Regelung oder die durch die bereits vorliegende Rechtsprechung gewährten Auslegungshilfen-nicht in dem genannten Sinne als "schwierig" erscheint. Ein Fachgericht, das § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO dahin auslegt, dass auch schwierige, noch nicht geklärte Rechtsfragen im Prozesskostenhilfeverfahren "durchentschieden" werden können, verkennt jedoch die Bedeutung der verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsschutzgleichheit (vgl. BVerfGE 81, 347 <359>). Denn dadurch würde dem unbemittelten Beteiligten im Gegensatz zu dem bemittelten die Möglichkeit genommen, seinen Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen und von dort aus in die höhere Instanz zu bringen (vgl. BVerfGK 2, 279 <282>; 8, 213 <217>).

2. Diesen Maßstäben werden die angegriffenen Entscheidungen nicht gerecht. Sie lehnen die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ab und verneinen damit offene Erfolgsaussichten, nachdem das übergeordnete Oberverwaltungsgericht die Berufung zu den Fragen, ob weiterhin nach illegaler Ausreise im Rahmen der Einreisekontrolle Eingriffe im Sinne des § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohten und die syrischen Stellen bereits einen der oder jedenfalls die Kombination der Risikofaktoren illegale Ausreise, Asylantragstellung und Aufenthalt im westlichen Ausland generell und unterschiedslos als Ausdruck regimefeindlicher Gesinnung auffassen würden, wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hatte (vgl. zur Bedeutung der Rechtsmittelzulassung wegen grundsätzlicher Bedeutung für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Ersten Senats vom 4. Mai 2015 - 1 BvR 2096/13 -, juris, Rn. 16). Der Umstand, dass das Verwaltungsgericht selbst zu dieser Frage schon eine Hauptsacheentscheidung getroffen hat, rechtfertigt dieses Vorgehen nicht, da hierdurch auch angesichts der divergierenden Rechtsprechung der anderen Oberverwaltungsgerichte (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 23, November 2016 - 3 LB 17/16 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16. Dezember 2016 - 1 A 10922/16 -; Bayerischer VGH, Urteil vom 12. Dezember 2016 - 21 ZB 16.30338 -, einerseits; Hessischer VGH, Beschluss vom 27. Januar 2014 - 3 A 917/13.Z.A -; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Oktober 2013 - A 11 S 2046/13 -, andererseits) keine abschließende Klärung der vom Oberverwaltungsgericht formulierten Frage erfolgen konnte. Vielmehr musste den Beschwerdeführern Prozesskostenhilfe bewilligt werden, um ihnen eine Darstellung ihrer Position in der mündlichen Verhandlung und in der übergeordneten Instanz zu ermöglichen. [...]