OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.09.2017 - 11 B 16.16 (Asylmagazin 3/2018, S. 91 ff.) - asyl.net: M25813
https://www.asyl.net/rsdb/M25813
Leitsatz:

Kein Nachzug eines über 16-Jährigen wegen mangelnder Sprachkenntnisse:

1. Kein Anspruch auf Kindernachzug des über 16-jährigen Sohnes eines türkischen Arbeitnehmers wegen mangelnden Nachweises ausreichender deutscher Sprachkenntnisse (Niveau C1).

2. Das gesetzliche Erfordernis von Sprachkenntnissen auf dem Niveau C1 des § 32 Abs. 2 AufenthG stellt eine neue Beschränkung i.S.d. Art. 13 ARB 1/80 dar. Diese ist aber auf dem zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, die erfolgreiche Integration des nachziehenden über 16-jährigen Kindes sicherzustellen (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 29.03.2017 - C-652/15 - Tekdemir gg. Deutschland - asyl.net: M24917, Asylmagazin 7-8/2017; Urteil vom 12.04.2016 - C-561/14 Genc gg. Dänemark - asyl.net: M23738, Asylmagazin 10/2016; Urteil vom 10.07.2014 - C-138/13 Dogan gg. Deutschland - asyl.net: M22072, Asylmagazin 7-8/2014).

(Leitsätze der Redaktion; siehe Anmerkung in InfoBrief AuslR 1/2018)

Schlagwörter: Familiennachzug, Kindernachzug, Türkischer Arbeitnehmer, Stillhalteklausel, Sprachkenntnisse, Deutschkenntnisse, Integrationsprognose, Härtefall, besondere Härte, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei, Sicherung des Lebensunterhalts, Wohnraumerfordernis, Assoziationsberechtigte, Beschränkung, Integration, Integrationsanforderungen, Grundsätzliche Bedeutung, Dogan, Integrationsprognose, Familienzusammenführungsrichtlinie, Familienzusammenführung, zwingender Grund, Allgemeininteresse, Genc, Tekdemir,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 2, AufenthG § 32 Abs. 4, AufenthG § 104 Abs. 3, AuslG § 20, AufenthG § 32 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 32 Abs. 1, AufenthG § 32, AuslG 1965 § 2 Abs. 1 S. 2, AufenthG § 6 Abs. 3, AufenthG § 2 Abs. 12, AEUV § 79 Abs. 4, EUV Art.3 Abs. 3 UAbs. 3,
Auszüge:

[...]

19 Der Kläger hat keinen Visumanspruch nach § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG. [...]

21 Zwar sind die genannten Regelungen vorliegend anwendbar (1.). Auch erfüllt der Kläger die Altersvoraussetzungen des § 32 Abs. 2 AufenthG (2.) und sind die allgemeinen Visumerteilungsvoraussetzungen gegeben (3.). Weiter ist sein Vater im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und des alleinigen Sorgerechts (4.). Es ist jedoch weder feststellbar, dass der Kläger die deutsche Sprache beherrscht (5.), noch gewährleistet, dass er sich in die hiesigen Lebensverhältnisse einfügen kann (6.). [...]

31 5. Der Kläger hat jedoch den ihm obliegenden Nachweis nicht erbracht, dass er bei Vollendung des 18. Lebensjahres im Februar 2016 die deutsche Sprache i.S.d. § 32 Abs. 2 S. 1 1. Alt. AufenthG beherrschte. Nichts anderes gilt bezogen auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat.

32 a. Das Spracherfordernis des § 32 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG steht in Übereinstimmung mit der die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung. [...]

39 c. Nach diesem Maßstab lässt sich vorliegend nicht zur Überzeugung des Senats feststellen, dass der Kläger im Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres im Februar 2016 über mündliche und schriftliche Sprachkenntnisse des Niveaus C1 verfügte und dass diese Fähigkeiten gegenwärtig vorhanden sind. [...]

47 6. Ebenso wenig erscheint es i.S.d. § 32 Abs. 2 S. 1 1. Alt. 2 AufenthG gewährleistet, dass der Kläger sich auf Grund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann. [...]

II.

55 Der Kläger kann eine Visumerteilung gemäß § 6 Abs. 3 AufenthG oder die Neubescheidung seines Visumbegehrens auch nicht zur Vermeidung einer besonderen Härte beanspruchen.

56 1. Der betreffende Anspruch richtet sich vorliegend, anders als erstinstanzlich angenommen, nicht nach 32 Abs. 4 AufenthG, sondern nach § 104 Abs. 3 AufenthG i.V.m. § 20 Abs. 4 Nr. 2 AuslG 1990. [...]

57 2. Dieses Ermessen ist im vorliegenden Fall nicht eröffnet, weil bereits das Tatbestandsmerkmal der besonderen Härte nicht erfüllt ist. [...]

III.

61 Ein Anspruch des Klägers auf Erteilung des beantragten Visums ergibt sich schließlich nicht aus der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – in Verbindung mit der zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens geltenden Nachzugsregelung in § 2 Abs. 1 Satz 2 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 – AuslG 1965 –. [...]

64 Zwar kann sich der Kläger, der als Kind eines türkischen Arbeitnehmers den Familiennachzug erstrebt, auf die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen (1.). Auch stellt die Nachzugsvoraussetzung des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, dass ein Kind, welches das 16. Lebensjahr vollendet hat, die deutsche Sprache beherrschen oder sich bundesdeutschen Lebensverhältnisse einfügen muss, eine neue Beschränkung im Sinne der Stillhalteklausel dar (2.). Diese ist jedoch im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union gerechtfertigt (3.).

65 1. Der Kläger kann sich auf die assoziationsrechtliche Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen. [...]

67 Dementsprechend hat der Gerichtshof bezüglich beider Stillhalteklauseln entschieden, dass diese nicht nur auf solche Regelungen anwendbar sind, die unmittelbar Bedingungen für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen behandeln, sondern auch auf solche, die Rechte von deren Familienangehörigen auf dem Gebiet der Familienzusammenführung betreffen (zu Art. 13 ARB 1/80: EuGH, Urteil vom 29. März 2017 – C-652/15 [Tekdemir] – , juris Rn. 25 sowie Urteil Genc, a.a.O., Rn. 42; zu Art. 41 Abs. 1 ZP: Urteil vom 10. Juli 2014 – C-38/13 [Dogan] –, juris Rn. 36). Denn eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert oder unmöglich macht, kann sich negativ auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen auswirken, in einem Mitgliedstaat dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen (EuGH, Urteil Genc a.a.O., Rn. 40, Urteil Dogan a.a.O., Rn. 35). Um dies zu verhindern kann sich auch ein enger Familienangehöriger, der – wie vorliegend – nicht den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern den Familiennachzug erstrebt, auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen (BVerwG, Urteil vom 6. November 2014 – 1 C 4/14 –, juris Rn. 14). [...]

70 2. Das in § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG geregelte Erfordernis der Sprachbeherrschung stellt eine neue Beschränkung im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 dar. [...]

72 In zeitlicher Hinsicht maßgeblich für den Vergleich ist, da hier zwischenzeitlich keine günstigere Regelung existierte, die Rechtslage, welche galt, als die Stillhalteklausel am 1. Dezember 1980 gemäß Art. 16 Abs. 1 ARB 1/80 in Kraft trat (vgl. EuGH, Urteil vom 9. Dezember 2010 – C-300/09 und C-301/09 [Toprak/Oguz] – juris Rn. 49, 55 f.). [...]

76 b. Nach diesem Maßstab ergibt sich vorliegend – entgegen der Ansicht des Klägers – eine "neue Beschränkung" nicht schon daraus, dass der Gesetzgeber mit der Anforderung der Sprachbeherrschung eine zusätzliche Tatbestandvoraussetzung eingeführt hat. Zwar hat der Gerichtshof in den Entscheidungen Dogan (a.a.O., Rn. 36 ) und Genc (a.a.O., Rn. 39) statuiert, dass eine Regelung, die die Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Angehörigen im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als die Stillhalteklausel in Kraft trat, eine neue Beschränkung i.S.d Art. 13 ARB 1/80 darstellt. Dem lagen jedoch jeweils Konstellationen zugrunde, in denen die Rechtsfolge der Nachzugsregelung – im Fall Dogan ein gebundener Anspruch nach § 30 Abs. 1 des deutschen Aufenthaltsgesetzes (vgl. a.a.O., Rn. 15), im Fall Genc eine Ermessensentscheidung nach § 9 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. d des dänischen Ausländergesetzes (vgl. a.a.O., Rn. 9) – im Rahmen der Änderung identisch blieb. In einem solchen Fall erweist sich die Einführung einer weiteren Tatbestandsvoraussetzung stets als nachteilig. Anders liegt der Fall, wenn sich nicht nur die Voraussetzungen – zulasten des Nachzugsberechtigten –, sondern auch die Rechtsfolgen der Nachzugsregelung – zugunsten des Nachzugsberechtigten – ändern. So liegt der Fall hier, da die Neuregelung des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG, falls eine zusätzlichen Voraussetzungen erfüllt ist, einen gebundenen Nachzugsanspruch begründet, während nach der Altregelung des § 2 Abs. 1 Satz 2 AuslG 1965 die Erteilung im Ermessen der Beklagten stand. In einem solchen Fall kann sich die Änderung im Einzelfall sowohl als vorteilhaft als auch als nachteilig erweisen. Daher bedarf es anderer Kriterien, um zu ermitteln, ob in ihr eine neue Beschränkung liegt. [...]

78 d. Für das Vorliegen einer neuen Beschränkung ist daher darauf abzustellen, ob in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen werden kann, dass unter den konkreten Gegebenheiten des Falls nach alter Rechtslage eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung ergangen wäre als nach neuer Rechtslage. Zu fragen ist mithin, ob dem Kläger, wenn er vor Dezember 1980 ein Visum zum Familiennachzug beantragt hätte, ein solches ungeachtet seiner fehlenden Beherrschung der deutschen Sprache erteilt worden wäre.

79 Diese Frage ist zu bejahen, weil sich in der Rechtspraxis bis zum Inkrafttreten der Stillhalteklausel des ARB 1/80 keine Hinweise darauf finden lassen, dass der Nachzug 16- bis 18-jähriger Kinder türkischer Arbeitnehmer generell oder im Hinblick auf fehlende Sprachkenntnisse Beschränkungen unterworfen war. [...]

84 Für 16- bis 18-jährige Kinder ausländischer Arbeitnehmer finden sich dagegen bis zum Inkrafttreten der Stillhalteklausel keine Vorgaben. Darauf, dass diese bei Erfüllung der in den Grundsätzen von 1965 genannten Voraussetzungen generell mit einer positiver Ermessenausübung rechnen durften, weist der Umstand hin, dass sich weder in der Kommentarliteratur (Kanein, Ausländerrecht 3. Aufl. 1980; Klösel/Christ, Deutsches Ausländerrecht, Stand März 1980) noch in der Rechtsprechung Fälle finden, die eine Nachzugsversagung bezüglich 16- bis 18jähriger Kinder thematisieren. [...]

85 Erst in den Jahren 1981 bis 1983, nachdem die Stillhalteklausel bereits wirksam geworden war, kam es zu erheblichen Beschränkungen in der Genehmigungspraxis. Nachdem die Bundesregierung die Bundesländer mit Kabinettsbeschluss vom 2. Dezember 1981 (zitiert in BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 1987 – 2 BvR 1226/83 u.a. –, Rn. 10 f.) gebeten hatte, zwecks sozialverantwortlicher Steuerung des Familiennachzugs zu Ausländern aus Nicht-EG-Staaten unverzüglich unter anderem 16- und 17-jährige ausländische Kinder vom Nachzug auszuschließen, erließen die Bundesländer – mit Ausnahme von Bremen, das insoweit verfassungsrechtliche Bedenken hegte – Verwaltungsvorschriften, welche den Nachzug von Kindern nach Vollendung des 16. Lebensjahres ausschlossen bzw. auf Härtefälle beschränkten (Berlin: Erlass vom 12. November 1981, dort Ziff. 2.3.1.1, InfAuslR 1981, 306; Baden-Württemberg: Erlass vom 30. März 1982, dort Ziff. 2.6.3.1 und 2.6.3.5 sowie Bayern: Erlass vom 17. Mai 1983, jeweils zitiert nach BVerfG, Beschluss vom 12.Mai 1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. –, juris Rn. 15 und 16; Hessen: Erlass vom 14. Dezember 1981, Hamburg: Erlass vom 7. Januar 1982; Nordrhein-Westfalen, Schnellbrief vom 3. Dezember 1982, jeweils zitiert nach Huber, InfAuslR 1982, 115). Rechtsprechung, die eine Nachzugsversagung für 16- bis 18-jährige Kinder thematisiert, findet sich dementsprechend auch erst nach dem Jahr 1980 (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Februar 1983 – 1 B 17/83 –, juris Rn. 4).

86 Auf dieser Grundlage ist die Annahme gerechtfertigt, dass dem Visumantrag des Klägers – dessen Vater die Vorgaben der Grundsätze von 1965 erfüllte, weil er zum Zeitpunkt der Visumantragstellung mehr als zehn Jahre im Besitz eines Aufenthaltstitels und legal beschäftigt war, eine weitere Beschäftigungsperspektive hatte und über eine Dreizimmerwohnung verfügte – vor Dezember 1980 auch ohne deutsche Sprachkenntnisse stattgegeben worden wäre. Dementsprechend stellt sich die Einführung des Spracherfordernisses im konkreten Fall als "neue Beschränkung" i.S.d Art. 13 ARB 1/80 dar.

87 3. Diese Beschränkung erweist sich jedoch im Sinne der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union als gerechtfertigt. [...]

91 a. Das Erfordernis der Sprachbeherrschung hat den Zweck, eine erfolgreiche Integration des nachziehenden über 16-jährigen Kindes in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht sicherzustellen und dient damit einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses. Dies ergibt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus der Bedeutung, die Integrationsmaßnahmen im Rahmen des Unionsrechts beigemessen wird. Denn aus Art. 79 Abs. 4 AEUV, der sich auf die Begünstigung der Integration der Drittstaatsangehörigen in den Aufnahmemitgliedstaaten als zu fördernde und zu unterstützende Bemühungen der Mitgliedstaaten bezieht, und aus den Richtlinien 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung und 2003/109/EG betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen, folgt, dass die Integration von Drittstaatsangehörigen entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts beiträgt, welcher seinerseits in Art. 3 Abs. 3 Unterabs. 3 des EU-Vertrages als eines der Hauptziele der Union benannt ist (EuGH, Urteil Genc, a.a.O., Rn. 55).

92 Entgegen der Ansicht des Klägers kann sich eine Rechtfertigung nicht nur aus neuen, d.h. zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Stillhalteklausel noch nicht relevanten, Gründen ergeben. Eine entsprechende Einschränkung ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes nicht. Sie wäre auch zweckwidrig, weil sie dazu führen würde, dass für eine Rechtfertigung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses kein praktischer Anwendungsbereich verbleibt. Denn die abstrakten Parameter, an denen sich jede Ausländergesetzgebung ausrichtet – Sicherheit und Ordnung, sozialer und wirtschaftlicher Zusammenhalt, Kontrolle von Migrationsströmen, Belange des Arbeitsmarktes und des Staatshaushaltes, Integration, familiärer und humanitärer Schutz –, sind von jeher so weit gefächert, dass das Bedürfnis für Änderungen auf diesem Gebiet regelmäßig nicht aus dem Hinzutreten gänzlich neuer Belange, sondern daraus erwächst, dass sich deren Bedeutung und Priorität untereinander verschiebt.

93 b. Das Erfordernis der Sprachbeherrschung ist auch geeignet, eine soziale und wirtschaftliche Integration zu gewährleisten. Denn je besser das nachziehende über 16-jährige Kind die deutsche Sprache beherrscht, desto wahrscheinlicher und schneller wird es ihm zum einen nach der Einreise gelingen, eine weiterführende Schulausbildung, eine Berufsausbildung oder ein Studium aufzunehmen und mit Erfolg zu durchlaufen und in der Folge eine qualifizierte Beschäftigungsposition zu erlangen, mittels derer es seinen Lebensunterhalt nach dem absehbaren Ausscheiden aus der elterlichen Bedarfsgemeinschaft selbst zu sichern vermag. Zum anderen wird es ihm desto schneller und leichter gelingen, die Gegebenheiten seines neuen sozialen Umfelds nachzuvollziehen und sich an ihnen zu beteiligen, insbesondere Bekanntschaften mit deutschsprachigen Personen zu schließen und dadurch seine Fremdheit in der neuen Heimat zu überwinden.

94 c. Das Erfordernis der Sprachbeherrschung ist zur Erreichung dieses Zweckes auch verhältnismäßig.

95 Hierfür ist es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes erforderlich, dass die Beschränkung nicht über das hinausgeht, was zum Erreichen des Integrationszweckes erforderlich ist (EuGH, Urteil Tekdemir, a.a.O., Rn. 40 ff., Urteil Genc, a.a.O., Rn. 51, Urteil Dogan, a.a.O., Rn. 40). Von fehlender Erforderlichkeit geht der Gerichtshof aus, wenn ein milderes Mittel existiert, um dem legitimen Zweck Rechnung zu tragen (EuGH, Urteil Tekdemir, a.a.O., Rn. 49 f.), aber auch dann, wenn die Beschränkung unstimmig ist, weil sie nach Maßgabe von Kriterien zur Anwendung kommt, die keinen hinreichenden Zusammenhang mit dem zu erreichenden Zweck aufweisen (EuGH, Urteil Genc, a.a.O., Rn 61- 65). Des Weiteren darf die Nichterfüllung der Tatbestands - voraussetzung nicht automatisch zur Ablehnung führen, ohne dass die besonderen Umstände des Einzelfalles berücksichtigt werden (EuGH, Urteil Dogan a.a.O., Rn. 37, Urteil Genc, a.a.O., Rn. 66); eine Anforderung dahingehend, dass jede Beschränkung eine bereichsspezifische Härtefallregelung haben müsste, stellt der Gerichtshof diesbezüglich jedoch nicht auf. Um eine Verwaltungspraxis der systematischen Ablehnung zu vermeiden, muss die Prüfung unter Berücksichtigung der persönlichen Situation des Betroffenen auf der Grundlage hinreichend genauer, objektiver und nicht diskriminierender Kriterien erfolgen, deren Anwendung zu einer mit Gründen versehenen Entscheidung führt, gegen die mit einem wirksamen Rechtsbehelf vorgegangen werden kann (EuGH, Urteil Genc, a.a.O., Rn. 66). Ferner ist die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf die Beeinträchtigung der Freizügigkeit des türkischen Arbeitnehmers zu beurteilen, hat also eine Zumutbarkeitsprüfung im engeren Sinn zu erfolgen (EuGH, Urteil Genc, a.a.O., Rn. 57).

96 Diesen Vorgaben trägt die streitgegenständliche Regelung hinreichend Rechnung.

97 aa. Es ist keine mildere Regelung ersichtlich, die dem legitimen Integrationsinteresse der Bundesrepublik mit gleicher Wirksamkeit Rechnung tragen würde.

98 Das Erfordernis der Sprachbeherrschung (§ 32 Abs. 2 S. 1 Alt. 1 AufenthG) kommt nur dann zum Tragen, wenn das alternative Erfordernis, dass das über 16-jährige Kind nicht anderweitig Gewähr dafür bietet, sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einzufügen (§ 32 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 AufenthG), nicht erfüllt ist. Dann aber erweist sich die Sprachbeherrschung als zur Gewährleistung der Integration erforderlich, denn die Festlegung eines niedrigeren Sprachniveaus wäre nicht in gleichem Maße geeignet, dieses zur Integration zu befähigen. [...]

99 Der Erforderlichkeit steht auch nicht entgegen, dass der nationale Gesetzgeber für den Nachzug von Ehegatten Grundkenntnisse des Sprachniveaus A1 genügen lässt. Denn die diesbezüglich niedrigere Nachzugsschwelle beruht nicht auf der gesetzgeberischen Annahme fehlender Integrationserheblichkeit weitergehender Sprachfertigkeiten des Ehegatten, sondern vielmehr auf Erwägungen der Zumutbarkeit des Eingriffs in Art. 6 Abs. 1 GG (vgl. BT-Ds. 16/5065 S. 173 f.) Auch der Gerichtshof geht davon aus, dass der Umstand, dass eine Ehe auf eine dauerhafte Lebensgemeinschaft zielt, während ältere Kinder nicht unbedingt lange mit den Eltern zusammenleben werden, es rechtfertigt, an ältere Kinder höhere Integrationsanforderungen zu stellen als an Ehegatten (EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006 – C-540/03 [Parlament./.Kommission]–, juris Rn. 75).

100 Eine fehlende Erforderlichkeit von Sprachkenntnissen auf C1-Niveau ergibt sich auch nicht daraus, dass – wie der Kläger meint – ein Spracherwerb nach der Einreise schneller möglich ist und den von der Regelung des § 32 Abs. 2 AufenthG erfassten über 16-jährigen Kindern üblicherweise leichter fällt als den von den geringeren Anforderungen des § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AufenthG betroffenen erwachsenen Ehegatten. Denn der bloße Umstand, dass ein weitergehender Spracherwerb leichter fällt, bietet keine Gewähr dafür, dass dieser im Nachgang einer erfolgten Einreise auch tatsächlich unternommen wird. Im Übrigen geht es gerade um einen Beitrag zur Verbesserung der Ausgangslage des Nachziehenden. Schulungen, die erst nach der Einreise einsetzten, wären daher nicht gleich wirksam (vgl. [zum Ehegattennachzug] BVerwG, Beschluss vom 26. Januar 2017 – 1 C 1.16 –, juris Rn. 19, m.w.N.).

101 bb. Das Erfordernis der Sprachbeherrschung gelangt vorliegend auch nach Maßgabe eines Kriteriums zur Anwendung, das in hinreichendem Zusammenhang zur bezweckten Integrationserleichterung steht. [...]

104 cc. Die Nichterfüllung der Tatbestandvoraussetzung führt – entgegen der Ansicht des Klägers – auch nicht automatisch zur Ablehnung des Nachzuges, ohne dass die besonderen Umstände des Einzelfalles

berücksichtigt werden.

105 Isoliert betrachtet trifft es zwar zu, dass im Rahmen der ersten Tatbestandsalternative des §§ 32 Abs. 2 S. 1 AufenthG einzelfallbezogene Umstände außer Betracht bleiben. Nach der Regelungssystematik des Gesetzes erfolgt die gebotene Einzelfallprüfung aber dadurch, dass im Rahmen der zweiten Tatbestandsalternative des § 32 Abs. 2 S. 1 AufenthG geprüft wird, ob sich das Kind, auch ohne die Sprache zu beherrschen, aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann, und dass – wenn dies nicht der Fall ist – im Rahmen von § 32 Abs. 4 AufenthG weiter geprüft wird, ob die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aufgrund der Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls und der familiären Situation zur Vermeidung einer besonderen Härte erforderlich ist. [...]

106 In diesem Zusammenhang könnte möglicherweise Fallkonstellationen Rechnung getragen werden, in denen das über 16-jährige Kind zum Spracherwerb außer Stande ist, seine rechtzeitigen Anstrengungen zum Erwerb des C1-Niveaus ohne Erfolg geblieben sind oder sich ein ursprünglich vor dem 16. Lebensjahr geplanter Nachzug aus unvorhersehbaren Gründen zerschlagen hat. [...]

107 dd. Schließlich erweist sich das Erfordernis der Sprachbeherrschung auch im engeren Sinne als zumutbar.

108 Anders als im Fall des Ehegattennachzugs, in dem die Lebensgemeinschaft auf Dauer angelegt ist und eine Versagung des Nachzugs dazu führt, dass der Stammberechtigte sich dauerhaft zwischen einer Lebensgemeinschaft in der Türkei und seiner Tätigkeit im Mitgliedsstaat entscheiden muss, war und ist die Beistandsgemeinschaft zwischen einem mehr als sechzehnjährigen Kind und seinen Eltern nur noch für den begrenzten Zeitraum bis zum Erreichen der Volljährigkeit geschützt (bei Inkrafttreten des ARB 1/80 gemäß den nach dem Anwerbestopp beschränkten Grundsätzen von 1965; heute gemäß § 32 AufenthG und Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2003/86/EG). Aus dem vom Kläger in der mündlichen Verhandlung angeführten, die Auslegung des Art. 7 ARB 1/80 betreffenden Urteil des EuGH vom 16. Juni 2011 – C-484/07 – [Pehlivan] ergibt sich für den vorliegenden Fall nichts Gegenteiliges. Nur noch bis zu diesem Zeitpunkt ist der Stammberechtigte dadurch beschwert, sich gegebenenfalls zwischen einer Tätigkeit im Mitgliedsstaat und einem Familienleben mit dem Kind in der Türkei entscheiden zu müssen.

109 Der Zumutbarkeit des Erfordernisses steht auch nicht entgegen, dass das Sprachniveau C1, für dessen Erlangungen zwischen 800 und 1200 Stunden zu veranschlagen sind (http://www.sprache.unihalle. de/deutschkurse/course_level/), durch das nachzugswillige Kind oft nicht mehr rechtzeitig zu erlangen sein wird, wenn dieses erst mit Erreichen des 16. Lebensjahres oder gar nach Ablehnung eines danach gestellten Visumantrages mit dem Spracherwerb beginnt. Zweck der Regelung ist es nämlich, die Integrationsfähigkeit des Kindes dadurch sicherzustellen, dass ein von den Eltern regelmäßig seit langem beabsichtigter Kindernachzug entweder bereits vor der Vollendung des 16. Lebensjahres durchgeführt wird, sodass das Kind nach der Einreise noch der Schulpflicht unterliegt, im Rahmen derer es deutsche Sprachkenntnisse erwerben kann, oder aber, sofern er erst nach Vollendung des 16. Lebensjahres erfolgen soll, durch das frühzeitige Erlernen der deutscher Sprache vorbereitet wird.

110 ee. Auch den formellen Voraussetzungen der Verhältnismäßigkeit ist Genüge getan. Die Kriterien, nach denen sich die Einzelfallprüfungen der §§ 32 Abs. 2 S. 1 Alt. 2 und § 32 Abs. 4 AufenthG vollziehen, sind durch langjährige Rechtsprechung fixiert und im Übrigen in den Verwaltungsvorschriften festgelegt (vgl. Ziffern 32.2.3 bis 32.2.6 und 32.4.3.1 bis 32.4.49 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz), sie sind hinreichend genau und objektiv und lassen keine Diskriminierung erkennen. [...]

111 4. Der klägerseits begehrten Aussetzung des Verfahrens zur Einholung einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes gemäß Art. 267 AEUV bedurfte es nicht. [...]