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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 18.12.2017 - 2 BvR 2259/17 (Asylmagazin 3/2018, S. 87 f.) - asyl.net: M25861
https://www.asyl.net/rsdb/M25861
Leitsatz:

Unzureichende Sachaufklärung im Eilverfahren eines "terrorverdächtigen" Asylsuchenden aus der Türkei:

1. Zurückverweisung an das VG Gießen im Eilverfahren eines des Terrorismus verdächtigten Asylsuchenden gegen die qualifizierte Ablehnung des BAMF. Das VG hat Erkenntnismittel dafür, dass nicht nur PKK- und Gülen-Anhängern, sondern auch Salafisten in der Türkei Folter, Inhaftierung und unmenschliche Haftbedingungen drohen, im Eilverfahren nicht ausreichend berücksichtigt.

2. Das VG hätte den Sachverhalt weiter aufklären oder eine Abschiebung an geeignete Zusicherungen der Türkei knüpfen müssen (unter Bezug auf BVerfG, Beschluss vom 24.07.2017 - 2 BvR 1487/17 - asyl.net: M25275).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Islamisten, Salafisten, politische Verfolgung, Folter, Amnesty International, Erkenntnismittel, Beweismittel, Prognosemaßstab im Eilrechtsverfahren, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Ausschlussgrund, Begründungserfordernis bei qualifizierter Ablehnung des Asyantrags, Willkür, Amtsermittlung, terroristische Vereinigung, Freiheitsstrafe, Straftat, Strafurteil, Ausweisung, vorläufiger Rechtsschutz, Gefährder, Gülen-Bewegung, PKK, Al-Qaida, offensichtlich unbegründet, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, politische Verfolgung, Folter, rechtliches Gehör, einstweilige Anordnung, Sachaufklärungspflicht, Untersuchungsgrundsatz, Zusicherung, Haftbedingungen, Haft, Prognose,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 53, AsylG § 30 Abs. 4, AsylG § 3 Abs. 2, AsylG § 4 Abs. 2, AsylG § 3 Abs. 2 S. 1, EMRK Art. 3, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, GG Art. 16a Abs. 1, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, GG Art. 103 Abs. 1, GG Art. 16a, BVerfGG § 90 Abs. 1 BVerfGG § 93a Abs. 2 Bst. b, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, AufenthG § 58a,
Auszüge:

[...]

1. [...]

a) [...] Das Maß dessen, was wirkungsvoller Rechtsschutz ist, bestimmt sich entscheidend auch nach dem sachlichen Gehalt des als verletzt behaupteten Rechts (vgl. BVerfGE 60, 253 <297>), hier - angesichts der in Rede stehenden Foltergefahr und der Gefahr unmenschlicher und entwürdigender Inhaftierungsbedingungen -, der Menschenwürde sowie des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Verbindung mit der Gewährleistung des Art. 3 EMRK im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

b) Die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung haben dem hohen Wert dieser Rechte Rechnung zu tragen (vgl. zu den Anforderungen an einen wirkungsvollen Rechtsschutz im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG; BVerfGE 117, 71 <106 f.>) und die Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention zu berücksichtigen (vgl. BVerfGE 111, 307 <323 ff.>). In Fällen, in denen die möglicherweise bestehende Gefahr, Folter oder unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, in Rede steht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Dies gilt insbesondere in Situationen, in denen sich der Betroffene auf eine in seinem Abschiebungszielstaat bestehende Foltergefahr beruft und für diese auch ernsthafte Anhaltspunkte bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 1996 - 2 BvR 528/96 -, juris, Rn. 27 ff.).

c) Sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich ist es in solchen Konstellationen geboten, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Rückführung in den Zielstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen (vgl. BVerfGE 94, 49 <100>; EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - 8139/09 - Othman ./. U.K., Rn. 187). Diese Zusicherungen müssen geeignet sein, eine ansonsten bestehende beachtliche Gefahr einer Art. 3 EMRK verletzenden Behandlung wirksam auszuschließen (zu den diesbezüglichen Anforderungen vgl. zuletzt BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 -, juris, Rn. 46 ff.; EGMR, Urteil vom 17. Januar 2012 - 8139/09 - Othman ./. U.K., Rn. 188 f.); andernfalls kann es zur Sicherung effektiven Rechtsschutzes geboten sein, die aufschiebende Wirkung der Klage - zunächst - anzuordnen (vgl. zur Bedeutung des Verfahrens des einstweiligen Rechtsschutzes für das Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1; BVerfGE 126, 1 <27 ff.>; zuletzt BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Januar 2017 - 2 BvR 2013/16 -, juris, Rn. 17 und vom 14. Dezember 2017 - 2 BvR 1872/17 -). [...]

2. [...]

a) [...] Mit dieser Begründung verfehlt das Verwaltungsgericht die verfassungsrechtlichen Vorgaben. Es bestand im Hinblick auf das vom Beschwerdeführer überreichte Schreiben von amnesty international vom 5. September 2017 vor dem Hintergrund der als gerichtsbekannt einzustufenden allgemeinen Erkenntnisse zur politischen Situation in der Türkei von Verfassungs wegen Anlass zu weiterer Sachaufklärung oder zur Einholung von Zusicherungen der türkischen Behörden zur Behandlung des Beschwerdeführers. Denn es bestanden hinreichende Anhaltspunkte für das Bestehen einer Foltergefahr auch im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Unterstützung des "Islamischen Staates" und damit auch in Bezug auf den Beschwerdeführer. In dem Schreiben vom 5. September 2017 ist von ausgedehnter Folter von Terrorverdächtigen sowie davon die Rede, dass die Zellen, in denen die Betroffenen untergebracht waren, voller menschlicher Fäkalien gewesen seien. Diese mit eine Nachprüfung ermöglichenden Einzelheiten belegten Angaben hätten einer Überprüfung bedurft; jedenfalls konnte sich das Verwaltungsgericht nicht darauf beschränken, die in dem Schreiben ebenfalls erwähnte Unterbringung in einer Zelle für Behinderte für sich genommen als nicht menschenrechtswidrig zu bewerten. Vor dem Hintergrund dieser Besonderheiten des vorliegenden Falles kommt es für das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht auf die generelle Frage an, ob Personen, die wegen politischer Straftaten verdächtigt oder inhaftiert werden, auch dann Folter droht, wenn es sich nicht um kurdische Aktivisten oder Anhänger der Gülen-Bewegung handelt.

b) Entsprechendes gilt für die Frage der Haftbedingungen. Hierzu hat das Verwaltungsgericht sich zwar auf Quellen bezogen, die eine deutliche Verschlechterung der Haftbedingungen in der Türkei beschreiben. Es hat jedoch nicht eigenständig begründet, warum bei dem Beschwerdeführer eine der Europäischen Menschenrechtskonvention genügende Inhaftierung gewährleistet sein soll und deshalb ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK ausscheidet. In Anbetracht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in einem Verfahren nach § 58a AufenthG (Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 7/17 -, juris, Rn. 56) und zahlreicher Oberlandesgerichte in Auslieferungssachen zu den in der Türkei derzeit herrschenden Haftbedingungen (vgl. zuletzt OLG Celle, Beschluss vom 2. Juni 2017 - 2 AR (Ausl) 44/17 -, juris und Hanseatisches Oberlandesgericht in Bremen, Beschluss vom 28. September 2017 - 1 Ausl. A 13/17 -, juris) konnte das Verwaltungsgericht auch insoweit nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass dem Beschwerdeführer im Falle der Abschiebung keine menschenrechtswidrige Behandlung drohte.

c) Das Verwaltungsgericht war vor diesem Hintergrund verpflichtet, den Sachverhalt weiter aufzuklären oder eine Abschiebung an die Einholung von geeigneten Zusicherungen der türkischen Stellen hinsichtlich einer menschenrechtskonformen Behandlung des Beschwerdeführers zu binden (vgl. dazu BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 24. Juli 2017 - 2 BvR 1487/17 -, juris, Rn. 50). Im Hinblick auf den festgestellten Verstoß gegen die aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sich ergebende Aufklärungspflicht bedarf die Frage, ob neben dem Beschwerdeführer andere oder alle dem "Islamischen Staat" zuzurechnenden Personen nach einer Abschiebung in die Türkei generell mit Folter zu rechnen haben (Art. 2 Abs. 2 GG), im vorliegenden Verfassungsbeschwerdeverfahren keiner Entscheidung. [...]