BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 25.10.2017 - 1 C 34.16 - asyl.net: M25872
https://www.asyl.net/rsdb/M25872
Leitsatz:

Keine Aufenthaltserlaubnis für den drittstaatsangehörigen Vater eines minderjährigen Unionsbürgers ohne Unterhaltsleistungen:

1. "Familienangehörige" von EU-Staatsangehörigen im Sinne des § 1 FreizügG/EU sind nur die in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU genannten Personen, die auch die materiellen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts erfüllen.

2. Bei Verwandten in gerader auf- oder absteigender Linie ist die Gewährung von Unterhalt Voraussetzung für die materielle Freizügigkeitsberechtigung. Liegt diese Voraussetzung nicht vor, dann sind die Voraussetzungen des § 3 FreizügG/EU nicht erfüllt, ist auch der Anwendungsbereich des § 1 FreizügG/EU nicht eröffnet.

3. In diesem Fall findet das AufenthG Anwendung. Für den Erlass einer Abschiebungsandrohung ist kein vorgeschaltetes Verlustfeststellungsverfahren durch die Ausländerbehörde notwendig. Die Abschiebungsandrohung ergeht nach § 59 AufenthG.

4. Diese Auslegung entspricht der Systematik des Freizügigkeitsrechts und dessen Sinn und Zweck. Ihr stehen Gründe der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Verwaltungsvollzug nicht entgegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienangehörige, Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Abschiebungsandrohung, Daueraufenthaltsberechtigte, Verlust des Freizügigkeitsrechts, Anwendungsbereich, Aufenthaltserlaubnis, Duldung, Rechtsschutzinteresse, Berufung und Revision, Drittstaatsangehörige, Unterhaltsanspruch, Sprungrevision,
Normen: FreizügG/EU § 1, FreizügG/EU § 3 Abs. 2, FreizügG/EU § 3 Abs. 2 Nr. 2, AufenthG § 59 Abs. 1, AufenthG § 59 Abs. 2, FreizügG/EU § 7, AufenthG § 59, AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2, FreizügG/EU § 11 Abs. 2, AufenthG § 1 Abs. 2 Nr. 1
Auszüge:

{...]

Mit Bundesrecht unvereinbar (§ 137 Abs. 1 VwGO) ist die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts, bei drittstaatsangehörigen Familienangehörigen von Unionsbürgern sei der Anwendungsbereich nach § 1 FreizügG/EU unabhängig davon eröffnet, ob der Drittstaatsangehörige auch im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU "Familienangehöriger" sei. [...]

Entgegen der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts sind aber bereits für die Bestimmung des Anwendungsbereichs (§ 1 FreizügG/EU) "Familienangehörige" nur die von § 3 Abs. 2 FreizügG/EU erfassten Personen; bei den in § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU benannten Personen fallen Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) und das Recht auf Einreise und Aufenthalt (§ 2 Abs. 1 i.V.m. § 3 FreizügG/EU) insoweit zusammen. Dies folgt nicht schon eindeutig aus dem Wortlaut (2.1), wohl aber aus der Systematik (2.2) des Gesetzes und seinem Sinn und Zweck (2.3); Gründe der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit im Verwaltungsvollzug stehen dieser Auslegung im Ergebnis nicht durchgreifend entgegen (2.4). [...]

2.2 Bereits die Systematik des Freizügigkeitsgesetzes/EU ergibt, dass der Begriff des "Familienangehörigen" auch für den Anwendungsbereich (§ 1 FreizügG/EU) durch § 3 Abs. 2 FreizügG/EU legaldefiniert wird und mithin für diesen Personenkreis bereits der Anwendungsbereich die materielle Freizügigkeitsberechtigung (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) voraussetzt.

a) § 3 Abs. 2 FreizügG/EU definiert den Begriff des "Familienangehörigen". Diese Legaldefinition ist allerdings nicht ausdrücklich auch auf den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU bezogen ("Familienangehörige im Sinne dieses Gesetzes sind …") und wählt auch sonst nicht die Regelungstechnik, einer Regelung über den Anwendungsbereich eine Reihe von Legaldefinitionen folgen zu lassen, die dann für das gesamte Gesetz gelten (s. etwa §§ 1, 2 AufenthG oder Art. 1, 2 UnionsbürgerRL); die systematische Stellung der Legaldefinition bei den Regelungen zum materiellen Recht auf Einreise und Aufenthalt oder ihr Wortlaut schließen nicht eindeutig aus, den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU anders und weiter zu fassen als in § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 1 FreizügG/EU. [...]

b) Für einen Gleichklang der Auslegung des Begriffs des "Familienangehörigen" in § 1 und § 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU spricht systematisch mit erheblichem Gewicht Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL. Für die Zwecke der Sicherung des Freizügigkeitsrechts der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen definiert Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL den Begriff des Familienangehörigen für die Richtlinie insgesamt und damit auch für den Regelungsgegenstand, und zwar in einer Weise, die inzwischen im Wortlaut weitestgehend und in der Sache vollständig in § 3 Abs. 2 FreizügG/EU aufgegriffen ist. Ohne klare und gewichtige Gegengründe ist dann aber davon auszugehen, dass der nationale Gesetzgeber den Anwendungsbereich des zur Umsetzung der Unionsbürgerrichtlinie geschaffenen Gesetzes nicht auf Drittstaatsangehörige erweitert hat, die im Sinne der Richtlinie keine Familienangehörigen sind, und für den Anwendungsbereich den Begriff des "Familienangehörigen" in § 1 FreizügG/EU abweichend von Art. 2 Nr. 2 UnionsbürgerRL, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU bestimmt hat. [...]

c) Durchgreifend gegen einen Anwendungsbereich, der nicht an den Begriff des Familienangehörigen im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU anknüpft, spricht, dass bei einem nicht weiter bestimmten (und dadurch eingegrenzten) Begriff des Familienangehörigen Besserstellungen bei Einreise und Aufenthalt nach dem Freizügigkeitsgesetz/EU (und partiell auch dem Visumrecht) in Betracht kommen, ohne dass für die Anwendung des Freizügigkeitsgesetzes/EU die materiellen Voraussetzungen in einem vorgelagerten Visumverfahren wirksam geprüft werden könnten. Nach § 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU sind diese Erleichterungen für Familienangehörige, die nicht Unionsbürger sind, zwar insoweit eingeschränkt, als sie für die Einreise eines Visums nach den Bestimmungen für Ausländer bedürfen, für die das Aufenthaltsgesetz gilt. Hiervon wiederum ausgenommen sind indes drittstaatsangehörige Familienangehörige, die im Besitz eines anerkannten oder sonst zugelassenen Passes sind und die den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen, für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten (§ 2 Abs. 5 FreizügG/EU), ebenso drittstaatsangehörige Personen, die im Besitz einer gültigen Aufenthaltskarte (auch der eines anderen Mitgliedstaates der EU) sind (§ 2 Abs. 4 Satz 3 FreizügG/EU). [...]

2.3 Sinn und Zweck der Schaffung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und dessen Entstehungsgeschichte sprechen jedenfalls nicht positiv dafür, den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU auf drittstaatsangehörige Personen zu erstrecken, die nicht im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügG/EU Familienangehörige sind. [...]

2.4 Diese Auslegung bewirkt auch für den Verwaltungsvollzug keine Rechtsunsicherheit oder Rechtsunklarheit, die bei materiell nicht zur Einreise berechtigten Familienangehörigen (§ 2 Abs. 1, § 3 Abs. 2 FreizügG/EU) eine erweiternde Auslegung des Anwendungsbereichs des Freizügigkeitsgesetzes/EU geböten. [...]