BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 01.02.2018 - 2 BvR 1459/17 - asyl.net: M26010
https://www.asyl.net/rsdb/M26010
Leitsatz:

Kein Kindernachzug zu subsidiär schutzberechtigter Mutter im Eilverfahren:

1. Der Antrag auf vorläufige Aussetzung des § 104 Abs. 13 AufenthG (Aussetzung des Familiennachzugs) ist unzulässig, da insoweit kein Hauptsacheverfahren anhängig ist und eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen die Norm nach § 93 Abs. 3 BVerfGG verfristet wäre, da sie nicht innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten erhoben wurde.

2. Soweit es um die Erteilung von Visa zum Kindernachzug nach § 32 AufenthG geht, ist die Verfassungsbeschwerde nicht offensichtlich unbegründet. In der Hauptsache wäre voraussichtlich zu klären, ob der Ausschluss insbesondere auch des Kindernachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 104 Abs. 13 AufenthG mit dem Recht auf Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist.

3. Soweit Ansprüche auf Erteilung von humanitären Aufenthaltserlaubnissen nach § 22 AufenthG geltend gemacht werden, ist die Verfassungsbeschwerde mangels ausreichender Begründung unzulässig.

4. Da der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen ist, sind die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, einerseits wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber Erfolg hätte, und andererseits wenn sie erlassen würde, die Verfassungsbeschwerde jedoch erfolglos bliebe.

a. In ersterem Fall würde der Anspruch auf Herstellung der Familieneinheit bis zur Entscheidung in der Hauptsache vereitelt.

b. In zweiterem Fall würde den Betroffenen die Einreise nach Deutschland erlaubt, was ebenfalls nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte. Würde die einstweilige Anordnung mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen den gesetzlichen Ausschluss des Familiennachzugs begründet, käme dies einer weitgehenden Aussetzung des Vollzugs des Gesetzes gleich.

5. Der Grundsatz der Gewaltenteilung gebietet es dem BVerfG, ein Gesetz nur mit großer Zurückhaltung zu suspendieren, auch wenn die Abwägung der jeweiligen Folgen seiner Entscheidung in etwa gleichgewichtige Nachteile ergibt. Vorliegend würde die Aussetzung des Familiennachzugs für den Rest ihres Geltungszeitraums suspendiert, was das Ziel des Gesetzgebers vollständig vereiteln würde. Daher ergibt die Folgenabwägung, dass die einstweilige Anordnung nicht zu erlassen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch BVerfG, Beschluss vom 11.10.2017 - 2 BvR 1758/17 - asyl.net: M25554, Asylmagazin 12/2017 mit Anmerkung und Beschluss vom 20.03.2018 - 2 BvR 1266/17 - asyl.net: M26135, Asylmagazin 5/2018 mit Anmerkung)

 

Schlagwörter: einstweilige Anordnung, Familiennachzug, Kindernachzug, subsidiärer Schutz, minderjährig, Aussetzung, Aussetzung Familiennachzug, Visum, humanitäre Gründe, Härtefall, Vorlagepflicht, vorläufiger Rechtsschutz, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsbeschwerde, Verfassungsmäßigkeit, Prozesskostenhilfe, Familienzusammenführung, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, humanitäre Gründe, Ausschluss des Familiennachzugs, allgemeiner Gleichheitssatz, Gleichheitsgrundsatz, Familieneinheit, Vorwegnahme der Hauptsache, Erledigung, Erledigung der Hauptsache, Gewaltenteilung,
Normen: GG Art. 6, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 104 Abs. 13, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 22, AufenthG § 4 Abs. 1, AufenthG § 32, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 101 Abs. 1 S. 2, BVerfGG § 93 Abs. 3, BVerfGG § 32 Abs. 1, BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1, BVerfGG § 23 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

1. Die Beschwerdeführerinnen begehren die vorläufige Aussetzung der Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG, mit der der Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten für zwei Jahre ausgesetzt wurde, und die vorläufige Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrer als subsidiär Schutzberechtigte anerkannten Mutter, hilfsweise die Erteilung von Visa aus dringenden humanitären Gründen. [...]

2. Die Beschwerdeführerinnen sind somalische Staatsangehörige. Ihre Mutter reiste im Herbst 2012 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Urteil vom 18. Dezember 2015 verpflichtete das Verwaltungsgericht die Bundesrepublik Deutschland, ihr den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen. Dieser Verpflichtung entsprach das Bundesamt mit Bescheid vom 6. September 2016. Bei den Beschwerdeführerinnen handelt es sich um ihre drei Töchter im Alter von 17, 15 und 8 Jahren, die sie bei der Ausreise aus Somalia in der Obhut von Familienangehörigen zurückgelassen hatte und die derzeit allein in Nairobi/Kenia leben. [...]

3. Die Beschwerdeführerinnen haben Verfassungsbeschwerde erhoben und beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG vorläufig auszusetzen sowie ihnen vorläufige Visa zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland zu erteilen. Ferner begehren sie die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. [...]

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unzulässig, soweit die Beschwerdeführerinnen die vorläufige Aussetzung des § 104 Abs. 13 AufenthG begehren. Insoweit ist ein Verfahren in der Hauptsache nicht anhängig und kann auch nicht zulässigerweise anhängig gemacht werden. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen diese Norm wäre nach § 93 Abs. 3 BVerfGG verfristet.

Im Übrigen ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unbegründet. [...]

2. Die Verfassungsbeschwerde stellt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt, soweit die Beschwerdeführerinnen die Erteilung von Visa zum Familiennachzug begehren, weder als unzulässig noch als offensichtlich unbegründet dar. Soweit die geltend gemachten Ansprüche auf § 22 AufenthG gestützt sind, ist sie hingegen unzulässig.

a) Soweit es um die Erteilung von Visa zum Familiennachzug gemäß § 32 AufenthG geht, ist die Verfassungsbeschwerde insbesondere nicht offensichtlich unbegründet. In der Hauptsache wäre voraussichtlich zu klären, ob die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG, nach der ein Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten bis zum 16. März 2018 generell nicht gewährt wird und damit auch ein Kindernachzug ausgeschlossen ist, mit Art. 6 Abs. 1 GG in Einklang steht (vgl. einerseits Thym, NVwZ 2016, S. 409 <414>; andererseits Heuser, Asylmagazin 2017, S. 125 <127 ff.>). In diesem Rahmen kann auch von Bedeutung sein, inwieweit Härtefällen durch die Erteilung von Visa aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG Rechnung zu tragen ist.

b) Soweit es um die Erteilung von Visa aus dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 Satz 1 AufenthG geht, ist die Verfassungsbeschwerde aus Gründen materieller Subsidiarität (vgl. § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG) beziehungsweise mangels ausreichender Begründung unzulässig (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). [...] Substantiierte Einwände gegen den strengen Prüfungsmaßstab, den das Verwaltungsgericht im Hinblick auf das Begehren einer faktisch endgültigen Regelung zugrunde gelegt hat, erheben die Beschwerdeführerinnen ebenfalls nicht. Dass dringende humanitäre Gründe im Sinne des § 22 Satz 1 AufenthG allein aufgrund der bereits mehrere Jahre andauernden Trennung der nunmehr 17, 15 und 8 Jahre alten Beschwerdeführerinnen von ihren Eltern und ihres gemeinsamen Aufenthalts in Nairobi ohne weitere Familienangehörige oder Bezugspersonen bejaht werden müssten, wird ebenfalls nicht ausgeführt.

3. Aufgrund der vorzunehmenden Folgenabwägung ist eine einstweilige Anordnung dahingehend, den Beschwerdeführerinnen vorläufige Visa zum Familiennachzug zu erteilen, nicht zu erlassen.

a) Wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, das Begehren des Familiennachzugs aber in der Hauptsache Erfolg hätte, würde der Anspruch auf Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland für die Zwischenzeit, solange der Familiennachzug ausgesetzt bleibt, endgültig vereitelt. Dies könnte nicht mehr rückgängig gemacht oder ausgeglichen werden.

b) Erginge die einstweilige Anordnung, obwohl das Begehren des Familiennachzugs in der Hauptsache unbegründet wäre, so würde den Beschwerdeführerinnen die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland erlaubt, was ebenfalls nicht mehr rückgängig gemacht werden könnte.

Würde zudem die einstweilige Anordnung, was hier allein in Betracht kommt, mit verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Regelung des § 104 Abs. 13 AufenthG begründet, so müsste dies jedenfalls für alle anderen Fälle des Kindernachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten ebenso gelten, was im Ergebnis einer entsprechend weitgehenden Aussetzung des Vollzugs der gesetzlichen Regelung gleichkäme. Das Ziel des Gesetzgebers, „im Interesse der Integrationssysteme in Staat und Gesellschaft“ (vgl. BTDrucks 18/7538 S. 1) Einreisen der Familienangehörigen von subsidiär Schutzberechtigten in diesem Zeitraum gerade nicht zu ermöglichen, würde in diesem Umfang vereitelt.

c) Gilt aber für die Beurteilung der Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG bereits ohnehin ein strenger Maßstab, so erhöht sich diese Hürde noch, wenn der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt werden soll (vgl. BVerfGE 3, 41 <44>; 6, 1 <4>; 7, 367 <371>; 64, 67 <69>; 81, 53 <54>; 117, 126 <135>). Das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des Gesetzgebers darstellt (vgl. BVerfGE 104, 23 <27>; 104, 51 <55>; 112, 216 <220>; 112, 284 <292>; 122, 342 <361>; 131, 47 <61>; 140, 99 <106 f.>; 140, 211 <219>; stRspr). Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechenden Gründe schon im Regelfall so schwer wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben (vgl. BVerfGE 82, 310 <313>; 104, 23 <27 f.>; 117, 126 <135>; 122, 342 <361 f.>; 140, 99 <106 f. Rn. 12>; 140, 211 <219>; stRspr). Auch wenn die jeweiligen Nachteile der abzuwägenden Folgenkonstellationen einander in etwa gleichgewichtig gegenüberstehen, verbietet es die mit Blick auf die Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) notwendige Zurückhaltung des Bundesverfassungsgerichts, das angegriffene Gesetz auszusetzen, bevor geklärt ist, ob es vor der Verfassung Bestand hat (vgl. BVerfGE 104, 51 <60>; 106, 369 <376>; 108, 45 <51>; 140, 99 <107>). [...]