VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.03.2018 - A 4 S 544/18 - Asylmagazin 6/2018, S. 211 f. - asyl.net: M26115
https://www.asyl.net/rsdb/M26115
Leitsatz:

[Unzulässiger Asylantrag eines Kindes von im Ausland Schutzberechtigten:]

Zur Unzulässigkeit des Asylantrags eines in Deutschland geborenen Kindes von im Dublin-Ausland anerkannten Schutzberechtigten (Rn.10).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: internationaler Schutz in EU-Staat, Drittstaatenregelung, in Deutschland geborene Kinder, Unzulässigkeit, Zuständigkeit,
Normen: VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 9, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

7 Die Kläger zeigen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür auf, dass die Klage in grundsätzlich bedeutsamer Weise zu Unrecht abgewiesen wurde bzw. sich an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bundesamtsbescheids vom 20.09.2017 etwas durch die Geburt des weiteren Kindes am 07.10.2017 in Deutschland geändert haben könnte.

8 1. Das Verwaltungsgericht hat im angegriffenen Urteil insoweit auf Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO Bezug genommen und in Verbindung mit dem Grundsatz der Wahrung der Familieneinheit eine Zuständigkeit Litauens auch für einen Asylantrag des Neugeborenen angenommen. Die Kläger greifen mit ihrem Zulassungsantrag diese Argumentation an, weil Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO ausdrücklich von einem Kind von „Antragstellern“ spreche, was sie seit ihrer Anerkennung in Litauen am 16.05.2017 nicht mehr seien. Weiter verweisen die Kläger auf Art. 9 Dublin III-VO, wonach ihnen die Option zustünde, für das Neugeborene den schriftlichen Wunsch kundzutun, ein Asylverfahren in Litauen durchzuführen, was sie bisher jedoch ausdrücklich nicht getan hätten, um keine dortige Zuständigkeit zu begründen.

9 2. Nach Auffassung des Senats spricht viel dafür, dass die vom Verwaltungsgericht angenommene Falllösung über Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO bei in Deutschland geborenen Kindern von im Dublin-Ausland anerkannten Schutzberechtigten zutreffend ist. Ob diese Norm erweiternd ausgelegt oder analog anzuwenden ist, kann dabei offen bleiben. Für eine erweiternde Auslegung spricht, dass die Kläger vor ihrer Anerkennung unstreitig „Antragsteller“ (vgl. Art. 2 c Dublin III-VO sowie EuGH, a.a.O. Rn 35 ff.) waren und Art. 20 Abs. 3 Satz 2 nur von Kindern spricht, die „nach der Ankunft des Antragstellers im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten geboren werden“, was - trotz zwischenzeitlicher Anerkennung - unstreitig der Fall ist. Da es im Lichte von Art. 9 und 10 Dublin III-VO allerdings naheliegt, dass der Verordnungsgeber die Problematik der nach Schutzgewährung im Dublinraum im Familienverband geborenen Kinder übersehen hat, d.h. insoweit eine Regelungslücke vorliegen dürfte, ist auch die analoge Anwendung der Norm möglich (vgl. VG Hamburg, Gerichtsbescheid vom 08.05.2017 - 16 A 808/15 -, Juris Rn. 19 ff. und Broscheit, InfAuslR 2018, 41/43, m.w.N.). Denn die Dublin III-Verordnung (s. nur deren Erwägungsgründe 13 - 17) ist nach dem jedenfalls bei Neugeborenen zwingend grundrechtlich vorgegebenen Grundsatz der untrennbaren Familieneinheit konstruiert, der anderenfalls durchbrochen werden könnte.

10 Ist Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO damit anwendbar, hat dies zum einen zur Folge, dass vom Bundesamt kein neues bzw. separates Zuständigkeitsverfahren für das Neugeborene eingeleitet werden muss. Damit dürften auch die Aufnahmegesuchsfristen des insoweit teleologisch reduzierten Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO in diesem Fall nicht eingreifen, d.h. es dürfte hierüber insbesondere kein - mit der Flüchtlingsverantwortung für Anerkannte und ihren Familienverband im GEAS unvereinbarer - isolierter Zuständigkeitsübergang nur für das Neugeborene auf die Bundesrepublik konstruiert werden können. Das Bundesamt kann vielmehr ohne Beachtung von Dublinfristen einen Asylantrag dieses Kindes, sei er direkt oder über die Fiktion des § 14a Abs. 2 Satz 3 AsylG (die keinen Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO bedeuten kann) gestellt, folgerichtig unmittelbar gemäß Art. 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO als unzulässig ablehnen und für das Kind nach § 34a Abs. 1 AsylG die Abschiebung in den die Flüchtlingsverantwortung für die gesamte Familie tragenden Dublin-Staat der Anerkennung anordnen, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann (ebenso offenbar die derzeitige herrschende Praxis der Verwaltungsgerichte, vgl. die Nachweise bei Broscheit, InfAuslR 2018, 41 Fn. 4). Ebenfalls möglich könnte es für das Bundesamt sein, in analoger Anwendbarkeit von §§ 29 Abs. 1 Nr. 2, 35 AsylG (und Art. 33 AsylVf-RL 2013/32/EU) oder in erweiterter Anwendung von § 34 AsylG dem Kind die Abschiebung dorthin anzudrohen; jedenfalls dürfte durch eine solche Abschiebungsandrohung keine Verletzung des Kindes in subjektiv-öffentlichen Rechten angenommen werden können. In beiden Fällen kann durch das Bundesamt bzw. die Ausländerbehörde hinreichend berücksichtigt werden, falls es gesundheitliche Probleme gibt, die die Reisefähigkeit des Neugeborenen beeinträchtigen.

11 Zum anderen dürfte die Anwendbarkeit von Art. 20 Abs. 3 Satz 2 Dublin III-VO dazu führen, dass diese Spezialnorm die allgemeine Regelung des Art. 9 Dublin III-VO im derzeitigen Verfahrensstadium verdrängt bzw. Art. 9 Dublin III-VO zumindest dahingehend einschränkend auszulegen ist, dass die Ablehnung eines Asylantrags in Deutschland als unzulässig sowie die Rückführung des Neugeborenen im Familienverband nach Litauen hierdurch nicht gesperrt wird. Denn anderenfalls würde es Sinn und Zweck der Dublin III-VO zuwiderlaufen, eine verbindliche normative Zuständigkeitsverteilung zwischen den EU-Mitgliedstaaten für den gesamten Familienverband vorzugeben, die es ausschließt, dass sich Schutzsuchende den für die Prüfung ihres Schutzbegehrens zuständigen Mitgliedstaat selbst aussuchen können (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2016 - 1 C 10.15 -, Juris Rn. 26). Nach Rückführung steht es den Eltern in Litauen dann gemäß Art. 9 Dublin III-VO frei, ob sie dort einen Asylantrag für ihr Neugeborenes stellen oder die in den Art. 23 Abs. 2 i.V.m. 24 bis 35 Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Leistungen ohne ein solches Asylverfahren beziehen. [...]