VG Gera

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Zitieren als:
VG Gera, Beschluss vom 20.02.2018 - 4 E 21312/17 Ge - asyl.net: M26116
https://www.asyl.net/rsdb/M26116
Leitsatz:

Kein Untertauchen nach der Dublin-VO bei bloßer Abwesenheit:

Daraus, dass eine antragstellende Person in ihrer Unterkunft nicht angetroffen wird, ist nicht zu schließen, dass sie flüchtig ist. Vielmehr ist es notwendig, dass sie sich bewusst und gezielt dem Zugriff der Behörden entzieht oder für längere Zeit abwesend ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, flüchtig, Untertauchen, Überstellungsfrist,
Normen: VwVfG § 24, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]
Ein "Flüchtigsein" in diesem Sinne ist nicht schon dann anzunehmen, wenn der Antragsteller in seiner Unterkunft lediglich nicht angetroffen wird und bei dieser Gelegenheit der aktuelle Aufenthaltsort nicht ermittelt werden kann. Erforderlich ist vielmehr darüber hinaus, dass er sich entweder gezielt und bewusst (jedenfalls im Sinne eines dolus eventualis) dem Zugriff der für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden entzieht, um die Überstellung zu vereiteln bzw. zu erschweren, oder er sich jedenfalls über einen längeren Zeitraum - als Orientierung mag in Anlehnung an die Anzeigepflicht in § 50 Abs. 4 AufenthG ein Drei-Tages-Zeitraum dienen - nicht mehr in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufhält und die Behörde nicht über seinen Verbleib informiert ist und deshalb eine geplante Überstellung nicht durchgeführt werden kann. Erforderlich sind insofern damit zwar kein dauerhaftes Verlassen der Wohnung, kein Ortswechsel und auch kein Untertauchen. Dass der Antragsteller aber nur für eine unerheblich kurze Zeit oder unverschuldet unangemeldet unauffindbar ist (etwa für einen Einkauf, eine sonstige private Erledigung, einen Arztbesuch oder infolge eines Unfalls), reicht für die Annahme eines Flüchtigseins ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht aus (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15. März 2017 - A 11 S 2151/16 -, juris Rn. 20; VG Ansbach, Beschlüsse vom 26. September 2017 - AN 14 E 17.51100 und AN 14 E 17.51101 - juris Rn. 38 ff., 47, und vom 29. August 2017 - AN 14 E 17.50998 - juris Rn. 30 ff., 36; VG Regensburg, Beschluss vom 11. September 2017 - RN 5 E 17.51915 -, juris Rn. 24; VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2017 - 12 L 3172/17.A -, juris Rn. 8; VG Potsdam, Urteil vom 21. April 2017 - 6 K 527/16.A -, juris Rn. 27 und 30; Funke-Kaiser in: Gemeinschaftskommentar zum AsylG (GK-AsylG), Stand: April 2017, § 29 Rn. 251, jeweils mit weiteren Nachweisen).
Ausweislich der Akte (Bl. 72 BA) ist es am 19.07.2017, gegen 00.05 Uhr zu dem Versuch einer Überstellung des Antragstellers gekommen, bei dem er in der Unterbringungseinrichtung nicht angetroffen werden konnten. Eine im Zuge dieser polizeilichen Maßnahme flüchtende Person konnte nicht als der Antragsteller identifiziert werden. Eine weitere geplante Überstellung am 06.09.2017 scheiterte ebenfalls, weil der Antragsteller nicht angetroffen werden konnte.
Insoweit ergibt sich aus der Abschlussmeldung des Landesverwaltungsamtes vom 06.09.2017 folgendes Ergebnis der erfolglosen Rückführung: "nach Mitteilung der Thüringer Landespolizei ist Herr ... unbekannten Aufenthalts". Weitere Ermittlungen, etwa Nachfragen bei der Einrichtungsleitung oder der zuständigen Ausländerbehörde, sind offenbar nicht erfolgt. Aus einer von dem Antragsteller vorgelegten Übersicht seiner Unterbringungseinrichtung (Bl. 20 ff. GA im Verfahren 4 K /17 Ge) ergibt sich aber, dass der Antragsteller im Zeitraum Februar 2017 bis September 2017 dort untergebracht war, dass ein Status "abgetaucht" für diesen Zeitraum nicht dokumentiert und dass der Antragsteller bei den versuchten Rückführungen lediglich nicht in der Einrichtung anwesend gewesen sei. Anhaltspunkte für ein mögliches Untertauchen des Antragstellers oder auch nur für eine längere, über einen nur unerheblich kurzen Zeitraum hinausgehende Abwesenheit, die zurechenbar die Ursache für den vergeblichen Versuch der Rückführung und letztlich für das Überschreiten der Sechsmonatsfrist gewesen sein könnte, haben sich nach Aktenlage bisher nicht ergeben. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Antragsteller möglicherweise lediglich zu den Versuchen der Rückführung nicht in der Einrichtung war. Angesichts dessen vermag das Gericht nach derzeitigem Sach- und Erkenntnisstand mangels entsprechender objektiver Anhaltspunkte nicht festzustellen, dass der Antragsteller vor Ablauf der Überstellungsfrist am 06.09.2017 flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO war.
Wenn die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 06.01.2018 meint, dass es Sache des Gerichts wäre, zur Klärung von Detailfragen hinsichtlich eines etwaigen Untertauchens des Antragstellers das Thüringer Landesverwaltungsamt oder die Polizei direkt zu kontaktieren. Wenn die Antragsgegnerin meint, dass der Antragsteller i.S.d. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung untergetaucht ist, so hat sie die hierfür erforderlichen Tatsachen insbesondere dann, wenn sie hieraus Rechtsfolgen zum Nachteil des Antragstellers zu ziehen beabsichtigt, gemäß § 24 Verwaltungsverfahrensgesetz in eigener Zuständigkeit und Verantwortung von Amts wegen zu ermitteln. [...]