OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 27.03.2018 - 6 B 14.17 - Asylmagazin 6/2018, S. 216 - asyl.net: M26144
https://www.asyl.net/rsdb/M26144
Leitsatz:

Das minderjährige Kind verlegt den Lebensmittelpunkt unter Umständen auch dann "zusammen" mit dem fraglichen Elternteil ins Bundesgebiet, wenn es nicht gleichzeitig mit diesem umzieht. Im Rahmen des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist insoweit allerdings zu fordern, dass ein dies rechtfertigender sachlicher Grund besteht und darüber hinaus ein ausreichender zeitlicher Zusammenhang gewahrt ist. Wann dies anzunehmen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Kindernachzug, gemeinsame Verlegung des Lebensmittelpunktes, Umzug, sachlicher Grund, zeitlicher Zusammenhang,
Normen: AufenthG § 32 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 6 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 32 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 3, AufenthG § 32 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

22 Das minderjährige Kind verlegt den Lebensmittelpunkt zwar unter Umständen auch dann "zusammen" mit dem fraglichen Elternteil ins Bundesgebiet, wenn es nicht gleichzeitig mit diesem umzieht (OVG Münster, a.a.O., Rn. 6 bei juris). Im Rahmen des § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist insoweit allerdings zu fordern, dass ein dies rechtfertigender sachlicher Grund besteht und darüber hinaus ein ausreichender zeitlicher Zusammenhang  gewahrt ist. Wann dies anzunehmen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Dieses Verständnis rechtfertigt sich aus der Gesetzesbegründung. Dort heißt es:

23 "Wenn die gesamte Familie zusammen zuwandert und damit der Lebensmittelpunkt der Kinder gemeinsam mit den Eltern oder im zeitlichen Zusammenhang mit der Zuwanderung der Eltern ins Bundesgebiet verlagert wird, ist es gerechtfertigt, den Nachzugsanspruch allen minderjährigen Kindern einzuräumen. Für einen Umzug der ganzen Familie bedarf es oft weitreichender Vorbereitungen (Wohnungssuche, Suche eines Kindergarten- oder Schulplatzes, Auswahl von Betreuungspersonen etc.). Es kann sachgerecht sein, dem Kind vor dem Umzug die Beendigung des laufenden Schuljahres zu ermöglichen. Die gemeinsame Verlagerung des
Lebensmittelpunktes ist daher nicht mit einer gleichzeitigen Einreise aller Familienangehörigen gleichzusetzen, sondern bezeichnet einen Vorgang, dessen Dauer sich nach den Umständen des Einzelfalles bestimmt" (BT-Drucks. 15/420, S. 83 zu § 32 Nr. 3, 2. Absatz).

24 Nach der Vorstellung des Gesetzgebers kann demnach von einer gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes der Eltern und des bereits sechzehnjährigen Kindes nach § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG auch dann ausgegangen werden, wenn er zwar nicht zeitgleich erfolgt, aber ein nachvollziehbarer sachlicher Grund für den erst später erfolgenden Nachzug des betreffenden Kindes vorliegt. Ein ausreichender zeitlicher Zusammenhang besteht, wenn die Einreisezeitpunkte nicht mehr als einige Monate auseinander liegen. Denn die in der Gesetzesbegründung beispielhaft aufgezählten Sachgründe, führen regelmäßig nur für einige Monate zu einer verzögerten Einreise. Eine diesen zeitlichen Rahmen überschreitende Einreiseverzögerung des minderjährigen Kindes wäre von der gesetzgeberischen Vorstellung einer gemeinsamen Verlegung des Lebensmittelpunktes - ungeachtet des Vorliegens eines Sachgrundes - deshalb nicht mehr gedeckt.

25 Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe sind die Voraussetzungen für einen Kindernachzug nach § 32 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegend nicht erfüllt. Im Zeitpunkt des Zuzugs seiner Mutter in das Bundesgebiet am 20. Juni 2016 war ein sachlicher Grund für eine spätere Einreise des Klägers nicht (mehr) vorhanden. Insbesondere war der bei Antragstellung im Februar 2016 eine spätere Einreise zunächst rechtfertigende Grund, der Abschluss der Schulausbildung in der Ukraine im Mai 2016, bereits entfallen. [...]