BVerwG

Merkliste
Zitieren als:
BVerwG, Beschluss vom 26.03.2018 - 1 VR 1.18 - Asylmagazin 6/2018, S. 206 f. - asyl.net: M26170
https://www.asyl.net/rsdb/M26170
Leitsatz:

[Kein Abschiebungsverbot trotz drohender Verhängung einer Todesstrafe:]

Die drohende Verhängung einer Todesstrafe begründet kein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK, wenn die Todesstrafe im Zielstaat der Abschiebung stets in eine lebenslange oder zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt wird und der Verurteilte eine Überprüfung der Strafe mit Aussicht auf Herabsetzung der Haftdauer bewirken kann.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Tunesien, Todesstrafe, Abschiebungsverbot, Europäische Menschenrechtskonvention, lebenslange Freiheitsstrafe, Zusicherung, Begnadigung,
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Der Senat ist auf der Grundlage der eingeholten Auskünfte und Erklärungen tunesischer Stellen nunmehr davon überzeugt, dass dem Vollzug der Abschiebungsanordnung keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote entgegenstehen. Auf die Zusicherung der Möglichkeit einer Überprüfung einer (etwaigen) lebenslangen Freiheitsstrafe mit der Aussicht auf Umwandlung und Herabsetzung der Haftdauer kann daher verzichtet werden. [...]

Der Senat sieht allerdings weiterhin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ("real risk"), dass dem Antragsteller die Verhängung der Todesstrafe, die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe oder die Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe droht. [...]

Unter Würdigung der unter aa) (1) bis (4) näher bezeichneten Strafverfolgungsmaßnahmen sieht der Senat weiterhin eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ("real risk"), dass gegen den Antragsteller die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird. [...] Da die dem Antragsteller unter Ziffer 2. c) des aufgeführten Schreibens zur Last gelegten Taten unter anderem auch Tötungsdelikte und Gewaltdelikte umfassen, ist nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen, dass ihm insoweit die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe droht. Denn Art. 14 LAT sieht bereits bei dem Versuch der Tötung eines Menschen die Todesstrafe und bei Gewalttätigkeiten eine lebenslange Freiheitsstrafe vor (vgl. Anlage 4 der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 sowie Ziffer 3 des Schreibens des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018). Vor dem Hintergrund des in Tunesien praktizierten Moratoriums (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 16. Januar 2017 S. 17) mündet auch eine verhängte Todesstrafe aufgrund der Umwandlung anlässlich einer Begnadigung in eine lebenslange (oder zeitige) Freiheitsstrafe ein (vgl. dazu unten b)).

b) Die drohende Verhängung der Todesstrafe begründet im Fall des Antragstellers kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot. Dem Antragsteller droht weder die Vollstreckung der Todesstrafe (aa) noch die faktische lebenslange Inhaftierung ohne Überprüfungsmöglichkeit infolge der Nichtvollstreckung der Todesstrafe (bb).

aa) Es steht nicht zu befürchten, dass eine gegen den Antragsteller etwaig verhängte Todesstrafe vollstreckt würde. Dies steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des in Tunesien seit Jahren bestehenden Moratoriums und der Ausführungen in der Verbalnote des tunesischen Außenministeriums vom 11. Juli 2017 fest (vgl. Beschluss vom 19. September 2017 - 1 VR 8.17 - Rn. 48 ff.; siehe auch die Auskünfte des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 <Bl. 410 der Gerichtsakte> und vom 20. März 2018 <Bl. 556 der Gerichtsakte>).

bb) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK liegt auch insoweit nicht vor, als dem Antragsteller die Möglichkeit eröffnet ist, die nicht vollstreckte Todesstrafe, die faktisch wie eine lebenslange Freiheitsstrafe wirkt, mit der Aussicht auf Entlassung überprüfen zu lassen.

Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verbietet die Europäische Menschenrechtskonvention grundsätzlich nicht, einen erwachsenen Straftäter zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen. Ebenso wenig verstößt es gegen die Konvention, wenn ein zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter seine Strafe bis zu seinem Lebensende verbüßen muss. Gegen Art. 3 EMRK kann indes eine de jure und de facto nicht reduzierbare lebenslange Freiheitsstrafe verstoßen (EGMR <GK>, Urteil vom 12. Februar 2008 - Nr. 21906/04, Kafkaris/Zypern - Rn. 97). Reduzierbar in diesem Sinne ist eine lebenslange Freiheitsstrafe dann, wenn sie überprüft werden kann und eine Aussicht auf Entlassung für den Gefangenen besteht (EGMR <GK>, Urteil vom 9. Juli 2013 - Nr. 66069/09, 130/10 und 3896/10, Vinter u.a./U.K. - Rn. 110 ff.). [...]

Selbst wenn man die nicht vollstreckte Todesstrafe wie eine lebenslange Freiheitsstrafe behandeln würde und wie bei einer solchen die Möglichkeit der Überprüfung der Strafe und Aussicht auf Entlassung voraussetzen müsste, stünde dies hier der Abschiebung nicht entgegen. Der Antragsteller hat nämlich auch für den Fall der Verhängung der Todesstrafe im Ergebnis eine hinreichende, dem in der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 3 EMRK angestrebten Schutzniveaus genügende Gewähr, dass er eine Überprüfung seiner Strafe bewirken kann.

Dies folgt aus dem in den Art. 353 und 354 der tunesischen Strafprozessordnung (CPP) verankerten Recht auf eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung in Kombination mit dem in den Art. 371 und 372 CPP statuierten Begnadigungsrecht des Staatspräsidenten. [...]

Sie genügen den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an die Überprüfbarkeit einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Es bestehen objektive und vorher bestimmte Kriterien, die der Betroffene bereits bei Verhängung der Freiheitsstrafe kennt. Diese Kriterien knüpfen unter anderem auch an eine erfolgte Resozialisierung an. Die Art. 353, 354 CPP gelten gemäß Art. 4 LAT auch für Personen, die auf der Grundlage des Antiterrorismusgesetzes vom 7. August 2015 verurteilt wurden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. Februar 2018 S. 2 f.< Bl. 225 ff. der Gerichtsakte> und Schreiben des tunesischen Justizministeriums vom 1. März 2018, Anlage 1 der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 7. März 2018 <Bl. 318 ff. der Gerichtsakte>). Das Auswärtige Amt hat zudem mitgeteilt, dass von dieser Möglichkeit der Strafrestaussetzung in der Praxis auch Gebrauch gemacht wird. Damit besteht auch de facto für nach dem Antiterrorismusgesetz vom 7. August 2015 verurteilte Personen die Möglichkeit, einen Antrag auf Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu stellen und die Freiheit wiederzuerlangen. [...]