VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 21.03.2018 - 14 K 11105/16.A - asyl.net: M26217
https://www.asyl.net/rsdb/M26217
Leitsatz:

1. Flüchtlingsanerkennung für zwei Töchter - nicht aber für die Mutter - einer afghanischen Familie wegen westlicher Prägung.

2. Abschiebungsverbot für die übrigen Familienmitglieder - einschließlich des volljährigen Sohnes - wegen fehlender Sicherung der Existenzgrundlage.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, soziale Gruppe, geschlechtsspezifische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Abschiebungsverbot, interner Schutz, interne Fluchtalternative, westliche Prägung, Existenzgrundlage, minderjährig, Familienangehörige,
Normen: AsylG § 3, AufenthG § 60 Abs. 5, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[…]

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass Personen, die infolge eines längeren Aufenthalts in Europa in einem solchen Maße in ihrer Identität westlich geprägt worden sind, dass sie entweder nicht mehr dazu in der Lage wären, bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ihren Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder ihnen dies infolge des erlangten Grads ihrer westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden kann, eine bestimmte soziale Gruppe sind. […]

Dies zu Grunde gelegt, haben die Klägerinnen zu 3. und 5. sich in identitätsprägender Weise von den Sitten und Gebräuchen ihres Heimatlandes entfernt und einen "westlichen" Lebensstil angenommen.

Nach der Anhörung der Klägerinnen zu 3. und 5. in der mündlichen Verhandlung ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Lebensweise der Klägerinnen überwiegend derjenigen von in den westlichen Industrieländern aufwachsenden Jugendlichen entspricht. Die Klägerinnen haben glaubhaft geschildert, wie sie ihren Alltag verbringen, etwa Singen im Chor, Musizieren mit der Gitarre, Tanzen in der Tanzschule und Fußball spielen. Die Klägerinnen verfügen über beachtliche deutsche Sprachkenntnisse und konnten in der mündlichen Verhandlung das Gespräch mit dem Gericht fast durchgehend in deutscher Sprache führen. Auch in äußerlicher Hinsicht unterschieden sich die Klägerinnen nicht von anderen Frauen/Mädchen ihres Alters in Deutschland. Sie waren modisch/modern gekleidet und trugen - wie die meisten in Deutschland lebenden Frauen - kein Kopftuch.

Die Klägerinnen haben sich in einem nur kurzen Zeitraum bereits in beachtlichem Maße in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert. Sie habe beide glaubhaft geschildert, wie sehr sie sich an das Leben in Deutschland gewöhnt hätten. Beide betonten, unabhängig voneinander befragt, wie wichtig für sie das Gefühl sei, in Deutschland frei sein zu können. Sie gaben glaubhaft an, sich nicht mehr vorstellen zu können, in Afghanistan sich wieder an die dortigen Konventionen anpassen zu müssen.

Das Gericht hält die Angaben der Klägerinnen auch deshalb für glaubhaft und geht von einer nachhaltigen Prägung der Klägerinnen aus, da diese von ihren Eltern in ihren Überzeugungen unterstützt werden. Schon in der Anhörung hatte die Klägerin zu 2. angegeben, aus einer "modernen" Familie zu stammen, die die Eigenständigkeit von Frauen respektiere. Der Kläger zu 1. gab an, stets seine Frau - trotz des Unverständnisses und Einwendungen seiner Familie - darin unterstützt zu haben. Auch in der mündlichen Verhandlung wurde deutlich, dass die Kläger zu 1. und 2. sich ein selbstbestimmtes Leben für ihre Töchter wünschen. Schließlich geht das Gericht davon aus, dass es sich auf die Identität der Klägerinnen zu 3. und 5. besonders prägend ausgewirkt hat, dass sie sich in einem für die Bildung der eigenen Persönlichkeit besonders wichtigen Alter im Bundesgebiet aufgehalten haben.

Die Klägerinnen zu 3. und 5. sind als "westlich geprägte" Jugendliche bzw. junge Frauen in ihrer Heimatprovinz individuell von Verfolgung bedroht. […]

D e Klägerin zu 2. ist nicht wegen "Verwestlichung" in Afghanistan von Verfolgung bedroht. Das Gericht geht davon aus, dass eine Anpassung an die afghanische Lebensweise für sie nicht unzumutbar ist.

Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die Klägerin zu 2. schon vor der Ausreise Konflikten ausgesetzt war, da sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte und hierin auch von ihrem Mann unterstützt worden war. Anders als bei ihren Töchtern kann das Gericht nach der ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung aber nicht erkennen, dass sie zwischenzeitlich eine Prägung erhalten hat, die ihr die Einhaltung von afghanischen Konventionen unzumutbar machen würde. Die Klägerin zu 2. gab in der mündlichen Verhandlung an, dass Hauptgrund ihrer Ausreise der Angriff auf ihren Friseurladen gewesen sei. Mit ihren Schwägern, die sie zur Aufgabe des Geschäfts und der Einhaltung von Bekleidungsvorschriften hätten zwingen wollen, habe sie sich arrangieren können. Die Klägerin zu 2. hat zudem viele Jahre unter diesen Umständen in Afghanistan gelebt, ohne - abgesehen von dem Streit mit der Familie ihres Mannes - sich sichtbar und offen von afghanischen Wertvorstellungen zu distanzieren. Zwar hält das Gericht es für glaubhaft, dass sie sich schon für längere Zeit ein anderes Leben gewünscht hatte. Dass es für sie unzumutbar ist, unter diesen Regeln zu leben, kann das Gericht aber nicht erkennen. […]

Die Kläger zu 1., 2., 4., 6. und 7. haben aber Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.

Den Klägern droht im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung von Art. 3 EMRK wegen der dortigen Versorgungslage. Hinsichtlich der Kläger zu 1., 2., 6. und 7. kann insoweit auf die vorstehenden Ausführungen im Rahmen des Anspruchs der Klägerinnen zu 3. und 5. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verwiesen werden. Auch der sechs Tage vor der mündlichen Verhandlung volljährig gewordene Kläger zu 4. wird die Existenz in Afghanistan nicht sichern können. Im Familienverband wird die Existenzsicherung schon wegen der Größe der Familie nicht gelingen, auch insofern wird auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen. Isoliert betrachtet würde der Kläger dazu ebenfalls nicht in der Lage sein. Der Kläger zu 4. hat noch nie außerhalb seines Elternhauses gelebt. Auch die Reise nach Europa erfolgte im Familienverband. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat das Gericht den Eindruck gewonnen, dass der Kläger zu 4. insgesamt noch eher kindlich wirkte. Er gab glaubhaft an, sich überhaupt nicht vorstellen zu können, wie er alleine in Afghanistan leben sollte. Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass der Kläger zu 4. restlos damit überfordert wäre, eigenständig die schwierigen humanitären Bedingungen in Kabul zu bewältigen. [...]