VG Halle

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Zitieren als:
VG Halle, Urteil vom 16.04.2018 - 1 A 374/16 HAL - asyl.net: M26222
https://www.asyl.net/rsdb/M26222
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen ehemaligen Personenschützer eines Parlamentsabgeordneten wegen Gefahr der Verfolgung durch die Taliban.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Bodyguard, Personenschützer, Parlamentsabgeordneter, nichtstaatliche Verfolgung, Taliban, politische Verfolgung, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Flüchtlingsanerkennung, Existenzminimum,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b Abs. 2, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Zwar konnte der Kläger eine bereits vor seiner Ausreise erfolgte konkrete Bedrohung durch die Taliban oder regierungsfeindlichen Gruppen nicht glaubhaft machen, so dass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 QRL nicht zu gute kommt (dazu unter 1.). Allerdings begründet der Umstand, dass der Kläger in Afghanistan Personenschützer eines Parlamentsabgeordneten war und aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, nunmehr eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine an seine politische Überzeugung anknüpfende Verfolgung des Klägers durch die Taliban in seinem Heimatland (dazu unter 2.).

1. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Er hat nicht glaubhaft darlegen können, dass er aufgrund seiner dreijährigen Tätigkeit als Personenschützer für den Parlamentsabgeordneten ... verfolgt wurde. Zwar kann dem Kläger aufgrund seiner Angaben vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie der vorgelegten schriftlichen Bestätigung der National Assembly of the Islamic Republic of Afghanistan vom 06. September 1395 (= 26. November 2016) - an deren Echtheit für das Gericht keine Zweifel bestehen - abgenommen werden, dass er vom 01. Januar 2012 bis zum 06. Juli 2015 der behaupteten Tätigkeit nachgegangen ist. Aufgrund der Erkenntnismittel ist auch bekannt, dass afghanische Zivilisten, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft verbunden sind bzw. diese unterstützen oder unterstützt haben, bedroht, angegriffen oder getötet worden sind (vgl. UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 41, 48 m.w.N.). Allerdings ergibt sich hieraus keine flächendeckende Verfolgung dieses Personenkreises (vgl. Bay.VGH, Beschluss vom 30. Oktober 2014 - 13a ZB 14.30371 -, juris Rn. 4; VG Lüneburg, Urteil vom 21. November 2016 - 3 A 109/16 -, juris m.w.N.) Der Kläger vermochte vorliegend keine vorangegangene eigene individuelle Verfolgung aufgrund seiner Tätigkeit glaubhaft zu machen. [...]

2). Gleichwohl ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger nach verständiger Würdigung der gesamten Umstände seines Falles bei seiner Rückkehr nach Afghanistan wegen der durch ihm ausgeübten Tätigkeit für einen parlamentarischen Abgeordneten der Meshrano Jirga (Oberhaus der Nationalversammlung) und der Einreise aus Europa mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine politische Verfolgung droht.

Es gibt zum einen ein systematisches und fortwährendes Vorgehen bewaffneter regierungsfeindlicher Truppen wie der Taliban gegen Zivilisten, welche die afghanische Regierung oder die internationale Gemeinschaft tatsächlich oder vermeintlich unterstützen. Es werden eine Vielzahl von Fällen dokumentiert, in denen regierungsfeindliche Kräfte Personen, die der Zusammenarbeit mit regierungstreuen Kräften verdächtigt wurden, ermordet oder verstümmelt worden sind (vgl. UNHCR-Richtlinien, a.a.O, S. 38 f., 43 m.w.N.). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) geht davon aus, dass diese Personen ein besonderes Risikoprofil aufweisen (UNHCR-Richtlinien, a.a.O, S. 48). Die Taliban verfolgt die Strategie der gezielten Verfolgung deklarierter Feinde, um so die Kontrolle über Gebiete und Bevölkerungsgruppen zu erlangen. Die Bevölkerung wird durch Drohungen oder auch durch Anwendung von Gewalt gezwungen, regierungsfeindliche Gruppierungen zu unterstützen. Diese Einschüchterungstaktik wird verstärkt durch das verminderte allgemeine Vertrauen in die Kapazitäten der afghanischen Regierung und der internationalen Kräfte, die Sicherheit aufrechtzuerhalten. Schon Im November 2015 war die Ausdehnung der Taliban größer als zu Beginn des militärischen Eingreifens der NATO im Jahr 2001 (vgl. Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 5-6/2017, S. 193 m.w.N.). Gerichtsbekannt ist zudem, dass auch das Bundesamt davon ausgeht, dass afghanische Staatsangehörige und ihre Familien, die für die Regierung oder für ausländische Sicherheitskräfte und Hilfsorganisationen arbeiten, dem Risiko gezielter Übergriffe ausgesetzt sein können. Warum die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid die berufliche Tätigkeit des Klägers aber mit keinem Wort erwähnt, geschweige denn, sich mit diesem Vorbringen überhaupt nicht auseinandersetzt, ist nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht nachvollziehbar.

Die vorstehende beschriebene Bedrohungslage genügt zwar grundsätzlich - wie bereits oben erwähnt - für sich gesehen nicht, um von einer Verfolgung des Klägers aufgrund seiner beruflichen Tätigkeit auszugehen. Vorliegend ergibt sich ein gesteigertes Interesse der Taliban an der Person des Klägers jedoch ergänzend daraus, dass dieser aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt. Denn diese Rückkehrer sehen sich zusätzliche Risiken ausgesetzt, da sie dem generellen Verdacht unterliegen, ihr Land und ihre religiösen Pflichten verraten und sich dem Machtanspruch der Taliban entzogen zu haben oder Spione westlicher Staaten zu sein (Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 5-6/2017, S. 196 f. m.w.N., dies., Asylmagazin 2017, 82 (83); UNHCR-Richtlinien, a.a.O., S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.). Hierdurch unterliegt der Kläger nicht nur als ehemaliger Sicherheitsmann, der für die afghanische Regierung tätig gewesen ist, sondern auch durch seine Rückkehr aus Europa insgesamt einem deutlich erhöhtem Risiko, von Seiten der Taliban als Kollaborateur (der "Invasoren") wahrgenommen zu werden. Das Gericht ist nach Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel und dem anzuwendenden Prognosemaßstab der zu der Überzeugung gelangt, dass durch das Zusammenspiel "Tätigkeit für einen Parlamentsabgeordneten" und "Rückkehr aus dem westlichen Ausland" das Verfolgungsrisiko sich in einem derartigem Ausmaße erhöht hat, dass in Anbetracht der Willkürpraxis der Taliban und der drohenden Gefahren einer Tötung, Verstümmelung oder Misshandlung für den Kläger das tatsächliche Risiko besteht, Opfer einer solchen Verfolgung zu werden und ihm deshalb eine Rückkehr in seine Heimatregion nicht zuzumuten ist.

Dem Kläger wird darüber hinaus nach Überzeugung des Gerichts aufgrund seiner "Lebensgeschichte" eine von den Taliban eine gegen diese Organisation gerichtete abweichende Einstellung im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben. Bei dieser abweichenden Einstellung handelt es sich um eine politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Asylantragsteller in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Als politisch ist eine Überzeugung im Gegensatz zu einer rein privaten dann zu qualifizieren, wenn sie sich im weitesten Sinne auf die Auseinandersetzung um die Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen im gesellschaftlichen und staatlichen Raum bezieht und damit einen öffentlichen Bezug hat. Der verfolgende Akteur greift auf Leben, Leib oder persönliche Freiheit des Schutzsuchenden zu, um dessen oppositionelle Einstellung zu bekämpfen (Hoffmann, Ausländerrecht, 2. Aufl., 2016, § 3b AsylG Rn. 23). Aus Sicht der Taliban handelt es sich bei dem Kläger um eine Person, die gegen die Interessen der Taliban mit der afghanischen Regierung und mit den "Invasoren" zusammenarbeitet. [...]

Dem Kläger steht auch keine zumutbare inländische Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zur Verfügung. [...]

Offenbleiben kann, ob der Kläger in Kabul oder in anderen afghanischen Städten sein Existenzminimum wird sichern können. Denn das Gericht geht davon aus, dass der aus der Provinz Parwan stammende Kläger im vorliegenden Fall weder in der afghanischen Hauptstadt Kabul noch in einer anderen größeren Städten oder Gebieten des Landes, in der zumindest ein gewisses Reservoire an Arbeitsplätzen vorhanden ist, internen Schutz erlangen kann, sondern gerade dort die oben geschilderte Verfolgung zu befürchten hat.

Der Kläger hat in diesem Zusammenhang vorgetragen, dass seinem Vater telefonisch mitgeteilt worden sei, "der Sohn könne nicht entkommen", und dass er aufgrund vieler Fotos, auf denen er zusammen mit dem Abgeordneten zu sehen sei, sehr bekannt sei. Aufgrund der Erkenntnislage vermag das Gericht es zwar nicht als gesichert ansehen, dass die Taliban mit ihren in Afghanistan vorhandenen Netzwerken gezielt nach dem Verbleib des Klägers sucht bzw. dass sie diese Fähigkeit hierzu besitzt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Juli 2014 - 9 LB 2/13 -, juris m.w.N; ACCORD: Fähigkeit der Taliban, Personen in Afghanistan aufzuspüren, Schutzfähigkeit des Staates, 14. August 2013). Jedoch geht das Gericht davon aus, dass für den Kläger zumindest das tatsächliche Risiko ("real risk") besteht, durch Zufall von der Taliban entdeckt und identifiziert zu werden.

Grund dafür ist, dass sich Fremde nach der afghanischen Lebenswirklichkeit in ihrem neuen sozialen Umfeld glaubwürdig identifizieren müssen. Diese Überprüfungen haben im Zuge des Bürgerkriegs und aufbauend auf der Erfahrung, dass jede vertraute Person zum Feind werden kann, in den letzten Jahren neue Dimensionen erlangt. Es werden von der neuen Umgebung zu deren eigenem Schutz nun auch die Biografien der einzelnen Personen, ihre Beziehungen und Kontakte sowie Abhängigkeiten und Feindschaften überprüft, um einschätzen zu können, ob der neue Nachbar Beziehungen zu kriminellen Banden hat oder ob er für oder gegen die Taliban arbeitet (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, Asylmagazin 3/2017, S. 82, 88 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 05. Dezember 2017 - A 11 S 1144/17 -, juris Rn. 426). Werden unrichtige oder unstimmige Angaben gemacht, wird dies bald herausgefunden (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, a.a.O. S. 88 f.). Für von Verfolgung bedrohte Personen, die an einen anderen Ort Schutz suchen, sorgt die permanente Überprüfung der biografischen Angaben und Beziehungen auf zweierlei Arten für eine landesweite Kontinuität der Verfolgung: Einerseits bekommt das soziale Umfeld im Herkunftsort Kenntnis vom aktuellen Aufenthaltsort, andererseits sind Informationen für das neuen Lebensumfeld lukrativ, denn gerade die Taliban ist bereit, Denunzianten zu entlohnen, um ihre Durchsetzungskraft zu demonstrieren und ihren Einflussbereich zu erweitern (vgl. Stahlmann, Bedrohungen im sozialen Alltags Afghanistan, a.a.O., S. 88 f.).

Zu einer anderen Bewertung der Gefahrenprognose sieht das Gericht sich auch nicht dadurch veranlasst, dass die Stadt Kabul nach Schätzungen mindestens 4 Millionen Einwohner hat und der Kläger somit möglicherweise in der Anonymität dieser Großstadt "untertauchen" und sich vor den Taliban versteckt halten könnte. Der mittellose Kläger, der in Kabul - wie auch in anderen Städten des Landes - über kein familiäres Netzwerk verfügt, wird darauf angewiesen sein, sich "auf der Straße" um Arbeit als Tagelöhner zu bemühen und in einem Armenviertel bzw. Flüchtlingslager seine Unterkunft zu suchen (vgl. hierzu die ausführlichen Ausführungen des VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. Oktober 2017 - A 11 S 512/17 - juris Rn 105 ff m.w.N.). Bei der Arbeits- und Wohnungssuche wird der Kläger - nach den oben näher dargelegten Erkenntnissen - nicht umhinkommen, seine Identität und Herkunft an Orten zu offenbaren, in denen auch die Taliban oder mit ihnen verbundene Personen präsent sind. Denn nicht nur landesweit, sondern auch in Kabul bestehen Netzwerke der Taliban. So berichtet die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Auskunft vom 22. Juli 2014, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, S. 4 ff.), dass die Taliban über ein landesweit verzweigtes Netz an Informanten verfügten und damit beispielsweise auch in Kabul die Möglichkeit hätten, Druck auszuüben, einzuschüchtern, zu entführen oder zu töten. In Kabul würden sich dabei kriminelle Strukturen und Netzwerke von Aufständischen überlappen. Mithilfe geheimer Absprachen zwischen Aufständischen und korrupten Regierungsmitarbeitern seien die kriminellen Netzwerke in Kabul und Umgebung im Laufe der Jahre immer stärker geworden. Hinzu tritt - wie bereits oben ausgeführt - die reale Gefahr, dass die Taliban durch Dritte über die Anwesenheit des Klägers in Kenntnis gesetzt wird, weil der Verkauf von Informationen sehr lukrativ ist oder um die eigene Sicherheit zu gewährleisten. [...]

Der Kläger kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, internen Schutz außerhalb einer größeren Stadt in einem "sicheren" ländlichem Gebiet - etwa in der Provinz Bamyan und Panjshir - zu suchen, in dem möglicherweise keine Netzwerke der Taliban bestehen. Den Kläger wird dort sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern können. [...]

Ausgehend von diesen Erkenntnismitteln ist für den Kläger in den Provinzen Bamyan und Panjshir eine ausreichende Existenzgrundlage nicht gewährleistet. Es handelt sich aufgrund der geografischen Lage um vergleichsweise wenig entwickelte, im zentralen Hochland gelegene Provinzen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht ersichtlich, wie es dem Kläger, der in den genannten Provinzen über kein familiäres Netzwerk verfügt, möglich sein sollte, dort eine Arbeit zu finden, die es ihm ermöglichen könnte, sein Existenzminimum dauerhaft zu sichern. Grundsätzlich kann eine alleinstehende Person nach den genannten Erkenntnismitteln ihr Existenzminimum nur in urbanen bzw. semiurbanen Gebieten sichern. [...]