OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.05.2018 - 9 LA 64/18 - asyl.net: M26296
https://www.asyl.net/rsdb/M26296
Leitsatz:

Bei einer Familie bestehend aus über 50 Jahre alten afghanischen Eltern und einem volljährigen afghanischen Sohn, der nie in Afghanistan gelebt hat, die keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen in Afghanistan hat, mehrere Jahre im europäischen Ausland lebte und der Volksgruppe der Hazara angehört, sprechen ohne das Hinzutreten weiterer spezifischer individueller Einschränkungen oder Handicaps der betreffenden Personen humanitäre Gründe nicht zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Iran, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, Familienangehörige, Kabul, Existenzminimum, EGMR,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

3 Die Kläger, die sich gegen die Ablehnung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK durch das Verwaltungsgericht wenden, halten insoweit folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam:

4 "Hat eine Familie, bestehend aus über 50-jährigen Eltern und einem volljährigen Sohn, der nie in Afghanistan gelebt hat, die keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen in Afghanistan haben, mehrere Jahre im europäischen Ausland lebte und der Volksgruppe der Hazara angehört, eine reale Chance, in Afghanistan eine ausreichende Existenzgrundlage zu finden, mit der er in der Lage ist, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft zu sichern?"

5 Diese Frage kann in einem Berufungsverfahren nicht fallübergreifend geklärt werden. Ihre Beantwortung hängt von den Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab. [...]

10 Bei einer afghanischen Familie, bestehend aus mehr als 50 Jahre alten Eheleuten und ihrem volljährigen Sohn, der nie in Afghanistan gelebt hat, die keine tragfähigen verwandtschaftlichen Beziehungen in Afghanistan hat, mehrere Jahre im europäischen Ausland lebte und der Volksgruppe der Hazara angehört, kann nicht generell davon ausgegangen werden, dass ein vergleichbarer ganz besonderer Ausnahmefall vorliegt. Die Kumulation der genannten Umstände verdichtet sich nicht ohne das Hinzutreten weiterer spezifischer individueller Einschränkungen oder Handicaps der betreffenden Personen zu einer derart außergewöhnlichen Situation, dass humanitäre Gründe zwingend gegen eine Aufenthaltsbeendigung sprechen. So sind nach bisheriger Ansicht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter ohne besonderen Schutzbedarf grundsätzlich in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen in Afghanistan zu leben, die die notwendige Infrastruktur sowie Erwerbsmöglichkeiten zur Sicherung der Grundversorgung bieten und unter tatsächlicher staatlicher Kontrolle stehen (vgl. UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016, S. 10 und 99; insoweit unverändert durch UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Inneren, Dez. 2016, S. 7 f.). In der Stadt Kabul – auf die hier vorrangig abzustellen ist – leben auch vergleichsweise viele Hazara (siehe den "DFAT Thematic Report: Hazaras in Afghanistan" der australischen Regierung vom 18. September 2017, S. 3) und Rückkehrer aus dem europäischen Ausland und aus dem Iran. Erkenntnismittel dazu, dass gerade die von den Klägern benannten Personengruppen bei einer Rückkehr in die Stadt Kabul in sehr großer Zahl und unabhängig von ihren sonstigen persönlichen Umständen mangels Sicherung des Existenzminimums typischerweise einem ernsthaften, schnellen und unumkehrbaren Verfall ihres Gesundheitszustands ausgesetzt wären, haben die Kläger nicht aufgezeigt. Dies ist insbesondere nicht den von ihnen zitierten Ausführungen auf den Seiten 221 und 226 im Gutachten von Frau Friederike Stahlmann vom 28. März 2018 zu entnehmen. Sie betreffen die Frage: "Kann eine alleinstehende Person zwischen 18 und 40 Jahren, die gesund und arbeitsfähig ist und die als aus dem westlichen Ausland abgelehnter Asylbewerber nach Afghanistan zurückkehrt, in den Provinzen Kabul, Pandjir, Bamyan, Mazar-i-Sharif und Herat jeweils auch ohne Hilfe der Familie und Freunde eine Unterkunft finden?" Ungeachtet der Frage, inwieweit sich aus ihnen – wie die Kläger meinen – verallgemeinerungsfähige Rückschlüsse für die von ihnen bezeichneten Personengruppen ziehen lassen, begründen sie für diese Personengruppen angesichts des strengen Prüfungsmaßstabs nicht ohne ein Hinzutreten spezifischer individueller Einschränkungen oder Handicaps ein generelles Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK (so auch das von den Klägern in Bezug genommene Urteil des VGH BW vom 11.4.2018, a.a.O., Leitsatz und Rn. 336 ff. betreffend die Gruppe der leistungsfähigen erwachsenen Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne familiäres oder soziales Netzwerk, die der Volksgruppe der Hazara angehören, bei einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland nach Kabul). Entsprechendes gilt für die Ausführungen in dem von den Klägern zitierten Bericht "Afghanistan Networks" des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen von August 2017 zu den Verdienstmöglichkeiten von Tagelöhnern und Mietkosten auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt in Kabul. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die von den Klägern bezeichneten Personengruppen regelmäßig keinen Zugang zu einer auch nur einfachen Unterkunft unterhalb des Preisniveaus auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt haben, lässt sich daraus nicht ableiten. [...]