VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 05.06.2018 - 4 K 543/16.DA.A - asyl.net: M26315
https://www.asyl.net/rsdb/M26315
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen regierungskritischen algerischen Journalisten.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Algerien, politische Verfolgung, Folter, Journalist, Flüchtlingseigenschaft, Flüchtlingsanerkennung, Auslandsaufenthalt, Familienangehörige, Medien, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, EMRK Art. 15 Abs. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]
Der Kläger hat in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4, Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, hält sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen einer vom algerischen Staat bei ihm vermuteten politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes auf. Die zu besorgenden Verfolgungshandlungen knüpfen auch an eine ihm vom algerischen Staat zugeschriebene politische Gesinnung an. [...]

Eine begründete Furcht vor Verfolgung besteht nach Auffassung des Gerichts für den Kläger aber deshalb, weil er sich schon in Algerien als politischer Journalist betätigt hat und während seines Auslandsaufenthalts sowohl in Dubai als auch bis heute in Deutschland wegen zahlreicher, das Regime und die innenpolitische Situation in Algerien kritisierender Artikel politisch in Erscheinung getreten ist und diese politischen Meinungsäußerungen über die in London ansässige Internetzeitung ..., im Internet abrufbar unter ..., öffentlich geworden sind.

Die aktuelle Situation in Algerien ist nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 4. April 2018 im wesentlichen wie folgt gekennzeichnet:

Die Unklarheit über die Handlungsfähigkeit von Präsident Bouteflika aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit, interne Rivalitäten, Planwirtschaft und ein starker Beharrungswille der "Pouvoirs Publics" lähmen das politische System. Die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes sorgt für Beunruhigung in der Bevölkerung, zumal durch die Erhöhung von Steuern und Tarifen die Lebenshaltungskosten spürbar gestiegen, die meisten Gehälter aber konstant geblieben sind. Auf Fälle von Misshandlung oder Folter durch die Sicherheitsdienste an Personen in Gewahrsam gibt es seit Anfang 2015 keine Hinweise mehr, nachdem der für derartige Fälle verantwortlich gemachte Sicherheitsdienst PRS im Jahr 2016 offiziell aufgelöst wurde. Unabhängige Zeitungen in Algerien sind zwar zahlreich, doch sehen sich Medien insgesamt verstärktem staatlichem Druck und verschärfter Regulierung ausgesetzt. Das Vereinigungs- und Versammlungsrecht engt den Raum für private bzw. staatskritische Initiativen ein.

Der Verein "Reporter ohne Grenzen" berichtet am 29. Dezember 2016 ("Repression hinter Fassade der Medienvielfalt"), dass Strafverfolgung, willkürliche Festnehmen und Behördenschikanen unabhängigen Journalismus in Algerien zu einem unkalkulierbaren Risiko machten. Radio und Fernsehen würden trotz der Öffnung für private Anlieger staatlich nicht geregelt, unabhängige Zeitungen durch wirtschaftlichen Druck ausgetrocknet. In diesem Bericht wird auch die Verurteilung eines freien Journalisten- und Menschenrechtsaktivisten wegen Beamtenbeleidigung sowie der Beleidigung und Verleumdung staatlicher Institutionen beschrieben, der drei Video-Interviews zu Korruptions- und Unterschlagungsvorwürfen gegen Polizei und Justiz veröffentlicht hatte. Auch auf den im Dezember 2016 in Gefängnishaft verstorbenen Journalisten und Menschenrechtsverteidiger Mohammed Tamalt wird hingewiesen; er sei zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, weil er mit kritischen Veröffentlichungen den algerischen Präsidenten beleidigt habe. Nach diesem Bericht seien nach der Reform von 2012 im Zuge der Öffnung des Rundfunksektors für private Medien rund fünfzig neue algerische Fernsehsender entstanden. Die meisten von ihnen hätten allerdings bis heute keine Lizenz erhalten. Ihre Firmensitze befänden sich im Ausland, was einerseits die Akkreditierung ihrer Journalisten erschwere und zum anderen willkürliche Beschlagnahmen und Schließungen ermögliche. So sei beispielsweise der Sender "El Watan TV" im Jahr 2015 nach Bouteflika-kritischen Äußerungen eines Studiogasts kurzerhand geschlossen worden. Auch viele der 150 Printmedien hielten sich mit Kritik an der politischen Führung zurück, um keine ihre wirtschaftliche Basis sichernden Werbeanzeigen zu verlieren. Die Schaffung einer gesetzlich vorgesehenen unabhängigen Medienaufsicht, die über Unabhängigkeit und Meinungsvielfalt wachen soll, werde seit Jahren verzögert. Die Steuerung von Werbeanzeigen durch staatliche Institutionen und die Existenz staatlicher Druckereien, auf die ein Großteil der gedruckten Presse angewiesen ist, würden unverhohlen als Druckmittel gegen kritische Medien eingesetzt. Insgesamt nehme Algerien Platz 129 von 180 Ländern auf der Rangliste der Pressefreiheit ein. Seitdem hat sich die Situation für die Presse in Algerien derart weiter verschlechtert, dass dieses Land auf der im April 2018 veröffentlichten Rangliste nunmehr Platz 136 von 180 einnimmt.

Art. 144 ff. des Algerischen Strafgesetzbuches ermöglichen eine Strafanklage wegen Diffamierung bzw. Beleidigung von Einzelpersonen oder staatlichen Stellen durch Medienorgane. Wenngleich hiernach in der Regel statt Gefängnisstrafen ausschließlich Geldbußen verhängt werden, gab es in der Vergangenheit auf Grundlage dieser Artikel mehrfach Verurteilungen einzelner Journalisten in erster Instanz, was Rechtsanwälte und kritische Journalisten als "Schuss vor den Bug" der betroffenen Personen werten und nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen ihre Wirkung im Sinne einer Bereitschaft zur Selbstzensur ebenso wenig verfehlt wie die vorläufigen Festnahmen von Journalisten. Darüber hinaus kam es nach berichteten Einzelfällen zuletzt 2016 auch zur Verhängung von (mehrjährigen) Haftstrafen (vgl. insgesamt: Lagebericht Algerien des Auswärtigen Amts, a.a.O.).

Vor diesem Hintergrund ist es zur Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nach den vorliegenden Erkenntnisquellen beachtlich wahrscheinlich, dass dem Kläger bei einer hypothetischen Rückkehr unter den Bedingungen einer Abschiebung menschenrechtswidrige Maßnahmen drohen, insbesondere Folter als schwerwiegende Verletzung eines notstandsfesten Menschenrechts (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Artikel 15 Abs. 2, Art. 3 EMRK). [...]