VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 12.02.2018 - 4 A 36/17 - asyl.net: M26413
https://www.asyl.net/rsdb/M26413
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für homosexuellen Drusen im wehrfähigen Alter aus Syrien:

1. Homosexuelle unterliegen in Syrien keiner asylrechtlich relevanten Verfolgung. Homosexuelle Handlungen sind zwar strafbar, tatsächlich werden aber keine Haftstrafen verhängt.

2. Keine politische Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Drusen.

3. Keine politische Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Drusen, Sippenhaft, Wehrdienstentziehung, homosexuell, Strafbarkeit, Familienflüchtlingsschutz, sexuelle Orientierung, soziale Gruppe, illegale Ausreise, subsidiärer Schutz, Upgrade-Klage,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 4 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

19 Ob die Verhältnisse in Syrien, die durch einen seit Jahren andauernden Bürgerkrieg gekennzeichnet sind, politische Verfolgung und damit die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG allein wegen der illegalen Ausreise aus Syrien, der Asylantragstellung im westlichen Ausland, des längeren Auslandsaufenthaltes, der Gefahr des Einzugs zum Militärdienst sowie der Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, der Religionszugehörigkeit und/oder des Herkunftsortes rechtfertigen, sind für den hiesigen Gerichtsbezirk seit dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 27.06.2017 hinreichend geklärt. An dieser Einschätzung hält das Oberverwaltungsgericht nunmehr in ständiger Rechtsprechung fest (vgl. etwa Beschlüsse v. v. 05.09.2017, 2 LB 186/17 und v. 12.9.2017, 2 LB 750/17 beide veröffentlicht in JURIS, v. 12.10.2017, 2 LB 1510/17, v. 19.01.2018, 2 LA 91/18 unveröffentlicht). Nach der (von anderen Gerichten zwar nicht geteilten, hier aber maßgeblichen) Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg droht aus Syrien stammenden Personen – auch im Hinblick auf die unklare, mosaikartige Erkenntnislage zu den allgemeinen politischen Verhältnissen – bei einer Rückkehr nach Syrien allein aus den zuvor genannten Umständen keine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

29 Es liegt keine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, dass dem Kläger allein aufgrund seiner Homosexualität, Verfolgung durch die syrischen Machthaber droht. [...]

33 So liegt es im Falle Syriens, denn nach dem Wortlaut von Artikel 520 des syrischen Strafgesetzbuches von 1949 (das Strafgesetzbuch ist im Internet abrufbar unter www.wipo.int/wipolex/en/text.jsp) wird "jede wider(un-)natürliche sexuelle Tätigkeit mit bis zu die Jahren Gefängnis bestraft". Die syrische Rechtsprechung definiert widernatürlichen Geschlechtsverkehr“ als gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010).

34 Jedoch ist keine asylerheblichen Verfolgungshandlungen durch die syrischen Machthaber erkennbar. [...]

36 Nach Auswertung der Erkenntnismittel für Syrien kann der Einzelrichter nicht die sichere Überzeugung gewinnen, dass in Syrien Haftstrafen für homosexuelle Handlungen tatsächlich verhängt werden.

37 Es ist kein belastbarer Fall belegt, dass es aufgrund von Art. 520 syrisches Strafgesetzbuch tatsächlich zu einer Verurteilung gekommen ist (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 27.09.2010; Reisewarnung des Auswärtigen Amtes vom 10.07.2017 unter Hinweis auf das strafbewehrte Verbot gleichgeschlechtlicher Sexualbeziehungen, hier allerdings mit der Einschränkung, dass kein Fall bekannt sei, dass ein Europäer aufgrund dieser Vorschrift strafrechtlich verfolgt worden ist. In die gleiche Richtung gehen der Bericht des UNHCR 11/2017 und der Syria 2016 Human Rights Report des US Außenministeriums. In dem Bericht des UNHCR 11/2017 heißt es: "Allthough no prosecutions under Article 520 have been reported in recent years, courts have reportedly prosecuted gay men and lesbians in an discriminatory manner based on vague charges such as abusing social values; selling, buying or consuming illegal drugs; and organizing and promoting 'obscene' parties."

38 Zwar ist demgegenüber in den Medien vereinzelt von Haftstrafen oder gar Folter wegen Homosexualität berichtet worden (vgl. etwa www.Zeit.de/2014/18/homosexualitaet-bauchtaenzer-syrien oder www.Zeit.de/politik/ausland/2016-06/homosexualitaet-syrien-verfolgung). Der Einzelrichter sieht die dort wiedergegebenen Angaben jedoch als nicht ausreichend belastbar an, zumal teilweise von 5-jährigen Gefängnisstrafen berichtet wird, das syrische Strafgesetzbuch aber maximal nur 3 Jahre Freiheitsstrafe zulässt.

39 Im Falle des Klägers kommt außerdem hinzu, dass nicht ersichtlich ist, dass seine sexuelle Orientierung dem syrischen Regime überhaupt bekannt geworden ist oder er deswegen jemals im Fokus öffentlicher Stellen gestanden hat. Beides hat der Kläger ausdrücklich in Abrede gestellt, so dass auch unter diesem individuellen Gesichtspunkt eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht festgestellt werden kann.

40 Eine Verfolgung Klägers allein wegen seiner Homosexualität durch islamistische Extremisten ist ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. Zwar wird diesbezüglich über Folter und Exekution durch islamistische Extremisten in Syrien (ISIS, Jabhat Fatah All-Sham) allgemein berichtet (UNHCR-Bericht 11/2017; Syrien: Erneut Mann wegen angeblicher Homosexualität hingerichtet, http://www.queer.de/detail.php?article_id=23313). Jedoch hat der Kläger bis zu seiner Ausreise wegen seiner sexuellen Orientierung keinerlei Einschränkungen hinnehmen müssen. Es ist daher nicht ersichtlich, dass ihm im Falle einer (hypothetischen) Rückkehr gerade dann Verfolgung durch islamistische Extremisten bevorstehen soll. Die (hypothetische) Rückführung würde ohnehin nur über Flughäfen erfolgen, die unter Kontrolle der syrischen Machthaber – jedenfalls nicht der islamistischen Extremisten – stünden.

41 Es liegt keine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, dass dem Kläger allein aufgrund der Religionszugehörigkeit Verfolgung droht. Die Mehrheit der Bevölkerung ist sunnitischen Glaubens (vgl. hierzu www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/sy.html). Es sind keine zureichend konkreten Verfolgungsfälle, die an die Religionszugehörigkeit anknüpfen, für das syrische Regime bekannt, und nur in deren Gebiet könnte eine Rückführung erfolgen. Soweit im UNHCR-Bericht 4/2017 Sunniten, Alawiten, Ismailis, Zwölfer-Schiiten, Drusen, Christen, Jesiden als Risikogruppen benannt werden ist dies ohne Aussagekraft. Zum einen wird damit nahezu jede in Syrien vertreten Religion erfasst. Zum anderen werden auch Religionszugehörigkeiten erfasst, die im syrischen Machtapparat selbst vertreten sind, wie folgende Beispiele belegen: Syriens Staatsoberhaupt Bashar al-Assad hängt selbst der Glaubensgemeinschaft der Alawiten an. Der syrische General Zahreddine (mittlerweile verstorben, siehe de.newsfront. info/2017/10/20/syrischer-general-issam-zahreddine-wurde-in-as-suwaida-begraben-video/) gilt nach einer Wikipedia-Eintragung zu seiner Person als eines der bekanntesten und höchstrangigen Mitglieder der drusischen Volksgruppe; er steht aber als Druse ersichtlich auf Seiten der Täter, nicht der Opfer (OVG Lüneburg, Beschluss v. 29.09 2017, 2 LA 23). Nach Auskunft des Deutschen Orient Institutes vom 29.11.2017 entstammen viele Militärangehörige der Syrischen Republikanischen Garde der religiösen Minderheit der Alawiten, andere entstammen Minderheiten wie der der Drusen. Ferner – so das Deutsche Orientalische Institut – bestärke die zunehmende Konfessionalisierung des Konfliktes den Drang religiöser oder ethnischer Minderheiten, die Regierung Assads zu unterstützen. Die Religionszugehörigkeit ist daher für sich genommen im vorliegenden Fall kein geeignetes Kriterium, um eine Verfolgungswahrscheinlichkeit durch das syrische Regime zu begründen.

42 Konkret drohende Verfolgungshandlungen wegen der drusischen Religionszugehörigkeit durch regimefeindliche Rebellentruppen sind ebenfalls nicht ersichtlich.

43 Nach Auswertung der splitterhaften Erkenntnislage kann der Einzelrichter auch nicht die Überzeugung gewinnen, dass die syrischen Machthaber gezielt und systematisch den Plan verfolgen, die sunnitische Mehrheitsbevölkerung zu vernichten und insoweit Gruppenverfolgung betreiben.

44 Es liegt auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, dass dem Kläger allein wegen des Herkunftsorts Verfolgung droht. Da sich Bürgerkriegsflüchtlinge bei realitätsnaher Betrachtung gerade dem Konflikt entziehen wollen und daher keine Bedrohung für das syrische Regime darstellen, stellt der Herkunftsort an sich generell kein taugliches Anknüpfmerkmal für eine Verfolgung dar.

45 Es liegt auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit vor, dass dem Kläger aufgrund von Wehrdienstentziehung (unterstellt eine Einberufung liegt vor oder würde konkret drohen) Verfolgung droht. Das grundsätzliche Unterworfensein von syrischen Männern unter eine nicht verlässlich eingrenzbare Dienstpflicht ist flüchtlingsrechtlich nicht relevant. Sanktionen wegen Wehrdienstentziehung sind in der Staatenpraxis üblich. Selbst wenn darüber hinaus Verfolgungshandlungen erfolgen sollten, wären diese nicht an eine vermeintliche politische Haltung der sich der Wehrpflicht entziehenden Person geknüpft. Bei vernünftiger Betrachtung kann davon ausgegangen werden, dass auch den syrischen Machthabern bewusst ist, dass die mit einem Kriegseinsatz naturgemäß verbundenen Gefahren zwar einen erheblichen Fluchtanreiz bieten, der jedoch nicht politischen Ursprungs ist. Dass der etwaig zu leistende Militärdienst konkret Verbrechen, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit umfassen würde (vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG), ist nicht erkennbar. [...]