VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 31.07.2018 - 3 A 94/16 MD - asyl.net: M26440
https://www.asyl.net/rsdb/M26440
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für 51-jährige psychisch erkrankte Frau aus Armenien:

Zwar gibt es in Armenien eine kostenlose medizinische (auch psychologische) Versorgung, jedoch ist eine Behandlung wegen der dort herrschenden Korruption für Personen ohne ausreichendes Einkommen nicht verfügbar. Eine ausreichende medizinische Versorgung in Armenien ist daher im Einzelfall nicht gewährleistet, wenn das zu erwartende Einkommen zu gering ist, um inoffizielle Zuzahlungen zu leisten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Armenien, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2, AufenthG § 60a Abs. 2c
Auszüge:

[…]

In Anwendung dieser Grundsätze geht das Gericht von einer erheblichen konkreten Gefahr für die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen im Fall ihrer Abschiebung nach Armenien aus.

Dass die Klägerin seit Jahren an einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer mittelgradigen depressiven Störung leidet, ergibt sich aus dem ausführlichen, den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG entsprechenden 67-seitigen psychologisch-psychotraumatologischen Gutachten des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagements aus Köln vom 2014 und wird auch vom Bundesamt letztlich nicht in Zweifel gezogen. Die psychischen Erkrankungen bestehen bei der Klägerin auch im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung fort. Dies bestätigt das von der Ausländerbehörde eingeholte amtsärztliche Gutachten vom 2018 zur Feststellung der Flug- und Reisefähigkeit der Klägerin.

Entgegen der Auffassung des Bundesamtes droht der Klägerin bei einer Rückkehr nach Armenien auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine in den dortigen Verhältnissen begründete wesentliche Verschlechterung ihres psychischen Gesundheitszustandes bis hin zur Entwicklung einer drohenden Gefahr für ihr Leben aufgrund eintretender akuter Suizidalität. In dem Gutachten vom 30. Juni 2014 werden zwar drei traumaauslösende Ereignisse dargestellt, wobei sich nur das erste - Beschuss des Elternhauses während des Besuchs der Klägerin mit ihren Kindern - in Armenien ereignet hat. Die Klägerin hat aber geschildert, das Miterleben des Beschusses des Elternhauses in Armenien sei das schlimmste Lebensereignis gewesen. Sie hätten sich alle auf den Boden werfen müssen. Ihr komme diese Szene immer wieder vor Augen. Sie habe große Angst gehabt, dass ihre Kinder getötet worden seien. Die dabei erlebten Todesängste um sich und insbesondere ihre Söhne stehen nach den Ausführungen des Gutachters im Vordergrund der begutachteten PTBS. Die traumatischen Erlebnisse in Russland (Zeugenschaft bei einer Messerstecherei mit Tötung des Cousins ihres Ehemanns) und in Deutschland (Zeugenschaft bei einem tödlichen Unfall) haben danach die posttraumatischen Beschwerden nochmals deutlich verschlimmert bzw. die früher erlittenen traumatischen Erfahrungen reaktiviert. Hiervon ausgehend kann gerade nicht angenommen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Armenien keine mit diesem Land und dem dort Erlebten zusammenhängende Retraumatisierung und damit verbundene wesentliche Verschlechterung ihres psychischen Zustandes erfährt. Mögen die weiteren Ereignisse zu einer Aktualisierung und nochmaligen Verschlimmerung des psychischen Zustandes der Klägerin beigetragen haben, bleibt doch die Wesentlichkeit des ersten traumatischen Erlebnisses bestehen, welches sich gerade in Armenien als Zielstaat der angedrohten Abschiebung der Klägerin ereignet hat. Es kann daher auch nicht angenommen werden, dass sich die beschriebene Gefahr für den Gesundheitszustand der Klägerin allein -- also zielstaatsneutral - aus dem Umstand ergibt, dass die Klägerin die Bundesrepublik Deutschland verlassen müsste. Dies findet nicht zuletzt Bestätigung in den Ausführungen des Gutachtens vom 30. Juni 2014, wonach die Klägerin immer wieder auch suizidale Gedanken besessen habe, wenn sie an die Szene in ihrem Elternhaus habe denken müssen.

Für die Klägerin ist in Armenien die für die Vermeidung des Eintritts einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes bis hin zu einer akuten Suizidgefahr notwendige medizinische (Grund-)Versorgung aufgrund von Umständen nicht erreichbar, die in ihrer Person liegen. Zwar soll die Behandlung von PTBS und Depressionen nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 21. Juni 2017 (S. 19) auf gutem Standard gewährleistet sein und kostenlos erfolgen. Zugleich wird aber auf Korruption als Grundproblem der staatlichen medizinischen Fürsorge und die schlechte Bezahlung des medizinischen Personals hingewiesen, was dazu führe, dass die Qualität der medizinischen Leistungen des öffentlichen Gesundheitswesens in weiten Bereichen unzureichend sei (S. 18). In seinem Lagebericht vom 24. April 2015 hat das Auswärtige Amt in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass es oft von der Durchsetzungsfähigkeit und Eigeninitiative der Patienten abhänge, ob es gelinge, ihr Recht auf kostenlose Behandlung durchzusetzen (S. 18, ebenso Länderinformation Armenien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23. November 2015, S. 50). Weiteren Erkenntnismitteln zufolge sind Zahlungen "unter der Hand" für die offiziell kostenlosen Gesundheitsleistungen auch im Bereich der psychiatrischen Erkrankungen üblich (vgl. Antwort von Prof. Dr. Savvidis an den Hess. VGH vom 12. Mai 2016, S. 9 und 10 f.). Ein großer Teil der Bevölkerung sei nicht in der Lage, die Gesundheitsdienste aus eigener Tasche zu bezahlen (vgl. Länderinformation Armenien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23. November 2015, S. 51). Hiervon ausgehend erscheint es als nahezu ausgeschlossen, dass die Klägerin in ihrem psychischen Zustand in der Lage sein wird, sich in Armenien zumindest um eine ausreichende Medikation zu kümmern, mit der wenigstens der Realisierung der - wie dargestellt - bei einer Rückkehr zu erwartenden Suizidgefährdung entgegengewirkt werden könnte. Ausgehend von den vorliegenden fachpsychiatrischen Gutachten und Befunden ist anzunehmen, dass die Klägerin dringend auf familiäre Unterstützung angewiesen ist und sich ohne eine solche gar nicht um die medizinische Notversorgung bemühen kann. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die 51-jährige Klägerin Armenien eigenen Angaben zufolge mit 19 Jahren verlassen und anschließend in Russland gelebt hat, auch wenn sie zwischendurch immer wieder ihre damals noch in Armenien lebenden Eltern besucht hat. Gegenwärtig hat die Klägerin keine Angehörigen mehr in Armenien. Auch vor diesem Hintergrund erscheint höchst zweifelhaft, ob die aufgrund ihrer Erkrankung offenbar nicht erwerbsfähige Klägerin in einer Weise Fuß in Armenien fassen kann, dass zumindest eine Notversorgung ihrer Krankheit zur Verhinderung einer alsbald nach ihrer Ankunft in Armenien eintretenden wesentlichen Verschlechterung sichergestellt ist. […]