VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 19.06.2018 - 10 K 3952/16.A - asyl.net: M26519
https://www.asyl.net/rsdb/M26519
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für homosexuelle Person aus Guinea:

1. Homosexuelle bilden in Guinea eine soziale Gruppe mit deutlich abgrenzbarer Identität i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

2. Für homosexuelle Personen besteht eine landesweite Verfolgungsgefahr in Guinea. Sie sind gezwungen, ihre Homosexualität zu verbergen, da sie andernfalls schwerwiegende Übergriffe und Diskriminierung durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure zu befürchten haben.

3. Eine innerstaatliche Schutzalternative besteht nicht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Guinea, homosexuell, Strafbarkeit, soziale Gruppe, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft, Vorverfolgung, Flüchtlingsanerkennung, interner Schutz, interne Fluchtalternative, Diskriminierung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die sexuelle Orientierung des Klägers führt zu einer landesweiten Verfolgungsgefahr in Guinea. Nach der Überzeugung des Gerichts sind Homosexuelle in Guinea gezwungen, ihre Homosexualität zu verbergen, da sie andernfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure zu befürchten haben. [...]

Homosexuelle bilden in Guinea eine soziale Gruppe mit deutlich abgrenzbarer Identität i.S. des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG (vgl. VG Düsseldorf, Urteil vom 21. Januar 2015 - 13 K 5723/13.A juris Rn. 34). Das ergibt sich schon daraus, dass homosexuelle Handlungen in Guinea strafbar sind. Sie werden mit Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe geahndet. Dabei beschränkt sich die Strafandrohung nicht allein auf den sexuellen Akt im engeren Sinne, sondern kann angesichts der weiten Formulierung der Straftatbestände auch solche Handlungen erfassen, die herkömmlicherweise dem sozialen Leben zugeordnet werden (vgl. The Commissioner General for Refugees and Stateless Persons (CGRS), Guinee, L'homosexualité, 28. November 2017, Ziffer 1.1.1; Immigration and Refugee Board of Canada (IRB), Guinea: The situation of sexual minorities, including legislation, the treatment of sexual minorities by society and the authorities, State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffer 2; Auswärtiges Amt (AA), Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea, Stand April 2017, 21. Juni 2017, S. 9; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Guinea, 8. März 2017, S. 16).

Hinzu kommt, dass tiefe religiöse und kulturelle Tabus gegen einvernehmliches gleichgeschlechtliches Sexualverhalten existieren. Einer in den Jahren 2014 bis 2015 zur Toleranz in Afrika durchgeführten Studie zufolge, gehört Guinea zu den intolerantesten Ländern gegenüber Homosexuellen aller konsultierten Länder. In dieser Umfrage, die durch persönliche Interviews mit Befragten durchgeführt worden ist, haben 94 Prozent der befragten Guineer geantwortet, dass sie Homosexuelle "stark hassen", und nur 3 Prozent von ihnen haben angegeben, dass sie homosexuelle Nachbarn "mögen" (vgl. CGRS, Guinee, L'homosexualité, 28. November 2017, Ziffer 2.1.1; IRB, Guinea: The situation of sexual minorities, including legislation, the treatment of sexual minorities by society and the authorities, State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffer 1; US Department of State (USDOS), Country Report on Human Rights Practices 2016 Guinea, 3. März 2017, S. 13).

Die Internationale Vereinigung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intersexuelle (LGBTI) hat festgestellt, dass die guineische Regierung sexuellen Minderheiten keinen Schutz gewährt. Die Antidiskriminierungsgesetze in Guinea gelten nicht für Angehörige sexueller Minderheiten (vgl. CGRS, Guinee, L'homosexualité, 28. November 2017, Ziffer 1.1.2.; IRB, Guinea: The situation of sexual minorities, including legislation, the treatment of sexual minorities by society and the authorities, State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffer 2.1; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Guinea, 8. März 2017, S. 16).

Aktive LGBTI-Organisationen gibt es in Guinea nicht (vgl. IRB, Guinea: The situation of sexual minorities; including legislation; the treatment of sexual minorities by society and the authorities; State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffer 3; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2016 - Guinea, 3. März 2017).

Es ist auch davon auszugehen, dass die Strafandrohung tatsächlich in der Praxis umgesetzt wird. Zwar liegen kaum Erkenntnisse über entsprechende Strafverfolgungsmaßnahmen vor. [...]

Dies rechtfertigt jedoch nicht den Schluss, dass die entsprechenden Strafvorschriften nur auf dem Papier stehen und Homosexualität in der Gesellschaft toleriert wird (a.M. OVG NRW, Beschluss vom 5. Januar 2016 - 11 A 324/14.A -, juris Rn. 20 ff.; VG Düsseldorf, Urteile vom 21. Januar 2015 - 13 K 5723/13.A -, juris Rn. 50 ff., und vom 13. Dezember 2013 - 13 K 3683/13.A -, juris Rn. 45; AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea, Stand April 2017, 21. Juni 2017, S. 19, und Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Guinea, Stand November 2015, 21. November 2015, wonach Homosexualität stillschweigend toleriert werde).

Auch wenn es in Conakry einzelne Bars, Diskotheken und Restaurants gibt, die von Homosexuellen frequentiert werden (vgl. IRB, Guinea: The situation of sexual minorities, including legislation, the treatment of sexual minorities by society and the authorities, State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffer 1; AA, Auskunft an das Verwaltungsgericht Düsseldorf, zu Frage 4, 10. Januar 2012), so ist doch zu berücksichtigen, dass Homophobie und Heterosexismus die sexuelle Minderheit zwingen, ihre sexuelle Orientierung zu verbergen und dass die Stigmatisierung der Gesellschaft wahrscheinlich verhindert, dass Opfer einen Missbrauch oder Belästigungen melden (vgl. CGRS, Guinee, L'homosexualité, 28. November 2017, Ziffer 1.2.2.; IRB, Guinea: The situation of sexual minorities, including legislation, the treatment of sexual minorities by society and the authorities, State protection and support services available to victims (2014-September 2017), 21. September 2017, Ziffern 1 und 2.1; USDOS, Country Report on Human Rights Practices 2016 Guinea, 3. März 2017, S. 13).

In diesem Sinne berichten Betroffene, dass es notwendig sei, diskret zu bleiben, da sie sonst Gewalttaten und Misshandlungen durch ihre Umgebung oder der Polizei ausgesetzt wären (vgl. CGRS, Guinee, L'homosexualité, 28. November 2017, Ziffern 1.3.1 und 2.21). […]

b. Dem Kläger droht Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch den Staat (§ 3c Nr. 1 AsylG) und durch nichtstaatliche Akteure, ohne dass der guineische Staat wirksamen Schutz hiervor bietet (§§ 3c, 3d AsylG). Da Homosexualität per Gesetz kriminalisiert ist, werden sich Opfer von homosexueller Gewalt nicht an die Behörden wenden können.

c. Wegen des fehlenden Schutzwillens staatlicher Institutionen kann der Kläger keinen internen Schutz vor der ihm drohenden Verfolgung in Guinea erlangen. Das allein probate Mittel der Diskretion kann - wie dargelegt - nach Überzeugung der erkennenden Einzelrichterin nicht von ihm verlangt werden, da das öffentliche Bekenntnis zu seiner Homosexualität mittlerweile zu einem unverzichtbaren Bestandteil seines Lebens geworden ist. [...]