VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 17.09.2018 - 6 L 302.18 A - asyl.net: M26619
https://www.asyl.net/rsdb/M26619
Leitsatz:

Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung eines Asylfolgeantrags, da wegen Desertion von der pakistanischen Armee in Südwaziristan die Todesstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafe droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Abschiebungsverbot, Desertion, Militärdienst, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, lebenslange Freiheitsstrafe, Freiheitsstrafe, Todesstrafe, Asylfolgeantrag, Änderung der Sach- und Rechtslage,
Normen: VwGO § 123, VwGO 80 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

19 b) Es bestehen jedoch aus den vom Antragsteller in seiner Anhörung geltend gemachten Gründen ernstliche Zweifel, an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamtes, kein Abschiebungsverbot festzustellen.

20 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Abschiebung eines Ausländers ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) insbesondere dann mit der EMRK unvereinbar, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr ("real risk") der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR <GK>, Urteil vom 23. März 2016 – Nr. 43611/11, FG/Schweden –, Rn. 110 m.w.N.). Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann in erster Linie aus individuellen Umständen in der Person des Ausländers folgen.

21 Nach diesen Maßstäben ist nach der allein gebotenen, aber im Eilverfahren auch ausreichenden summarischen Prüfung hinreichend wahrscheinlich, dass eine ernsthafte Gefahr im oben genannten Sinne bei einer Rückkehr des Antragstellers nach Pakistan vorliegt. Der Antragsteller hat in seiner Anhörung glaubhaft angegeben, er sei aus der pakistanischen Armee desertiert, nachdem er für etwa dreieinhalb Monate in Südwaziristan eingesetzt worden sei.

22 Hierfür droht ihm nach den vorliegenden Erkenntnissen hinreichend wahrscheinlich in Pakistan die Todesstrafe oder eine lebenslange Inhaftierung. Im Militärstrafrecht Pakistans ist u.a. für Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind oder Hilfe zur Fahnenflucht die Todesstrafe vorgesehen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 20. Oktober 2017, S. 16, immer noch: Lagebericht vom 21. August 2018, S. 16). Die Todesstrafe wird in Pakistan auch vollstreckt. Human Rights Watch führt in einem Bericht aus, von den mindestens 44 vollstreckten Todesstrafen im Jahr 2017 hätten 37 ihre Grundlage in Verurteilungen durch Militärgerichte gehabt (vgl. HRW, World Report 2018 – Events 2017, Auszug zu Pakistan, S. 415). Der Antragsteller selbst schilderte beim Bundesamt, er befürchte, von einem Militärgericht zu lebenslanger oder 25 Jahren Haft verurteilt zu werden. Insbesondere bei lebenslanger Haft käme dies unterstellt ebenfalls eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Betracht. Es gehört zu den Voraussetzungen eines menschenwürdigen Strafvollzugs, dass dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten grundsätzlich eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance verbleibt, je wieder die Freiheit wiedergewinnen zu können (vgl. BVerfG, Urteil vom 21. Juni 1977 – 1 BvL 14/76 –, BVerfGE 45, 187-271, juris Rn. 146). Dies wird durch das Verbot des Art. 3 EMRK weiter konkretisiert. Eine lebenslange Freiheitsstrafe ist mit Art. 3 EMRK unvereinbar sein, wenn sie de jure und de facto nicht herabsetzbar ist (vgl. BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 4. Mai 2018 – 2 BvR 632/18 –, juris Rn. 54 m.w.N.).

23 Soweit Fälle von Fahnenflucht ausweislich des Lageberichts des Auswärtigen Amts aufgrund des Status der pakistanischen Armee als Freiwilligenarmee und des dort herrschenden Ehrenkodex extrem selten sein sollen, ist dies doch kein Beleg dafür, dass der Antragsteller nicht desertiert ist. Der Antragsteller hat die Umstände seiner Fahnenflucht bei der Anhörung nachvollziehbar und detailliert beschrieben und u.a. ausgeführt, er habe eine Straße kontrollieren müssen und dabei den Leichnam einer schwangeren Frau entdeckt. Dies habe ihm das Herz gebrochen und in ihm den Entschluss hervorgerufen, zu desertieren. Der Antragsteller hat weiter plausibel vorgetragen, er habe sich entschieden, nicht per Flugzeug auszureisen, da er am Flughafen wegen veröffentlichter Fahndungsfotos eine Verhaftung befürchtet habe. [...]