VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 07.09.2018 - 13 K 4142/16.A - asyl.net: M26627
https://www.asyl.net/rsdb/M26627
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Spitzensportler aus Afghanistan:

1. Sportler, insbesondere Mitglieder der Nationalmannschaften, werden von den Taliban als verwestlichte Personen wahrgenommen. Aufgrund der dadurch unterstellten Regierungsnähe droht ihnen politische Verfolgung.

2. Schutz durch die afghanischen Sicherheitsbehörden ist in solchen Fällen in der Regel nicht möglich.

3. Auch ein Ausweichen auf andere Landesteile bietet für solche Personen keinen sicheren Schutz. Die Taliban können sie selbst in Gebieten, die nicht von ihnen beherrscht werden, aufspüren, da sie Denunzianten entlohnen

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Sport, Sportler, Berufsgruppe, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit, interner Schutz, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, westlicher Lebensstil,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3b, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

Das geschilderte Vorgehen der Taliban ist typisch. Das Auswärtige Amt kommt im aktuellen Lagebericht (Stand Mai 2018, S. 17) zu der Feststellung, dass u.a. Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte sowie die als Verbündete ausländischer Streitkräfte und Regierungsvertreter angesehenen Personen prioritäre Ziele der Aufständischen sind. Auch die Hauptstadt Kabul ist immer wieder Ziel von Anschlägen. Auch das den Überfällen auf seinen Vater und dann den Kläger vorausgehende Schreiben an seinen Vater, indem dieser zur Zusammenarbeit und Einflussnahme auf seinen Sohn, dass dieser den unislamischen Sport aufgibt, aufgefordert wurde, ist nachvollziehbar. Die Aufforderung zur Kooperation und damit dem Beweis der Loyalität, der die ansonsten drohende Verfolgung abwenden kann, kommt meist in Form eines Briefes, der spezifiziert, welche Forderungen die Taliban haben (vgl. Stahlmann, Gutachten Afghanistan vom 28. März 2018 für das Verwaltungsgericht Wiesbaden, S. 46). Familienangehörige von Mitgliedern der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte wurden wiederholt Opfer von Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötungen (UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfes afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, S. 47). Hinzu kommt, dass der Kläger selbst als regierungsnah in der Öffentlichkeit in Erscheinung getreten ist. Als Spitzensportler und Mitglied der Nationalmannschaft hat er sich im In- und Ausland an öffentlichen Wettkämpfen beteiligt. Dies ist aus Sicht der Taliban unislamisch. Während der Herrschaft der Taliban war der afghanischen Bevölkerung verboten, sportliche und kulturelle Aktivitäten öffentlich auszuüben (vgl. Bericht des Bundesmi-nisteriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Sport für die Entwicklung in Afghanistan, Januar 2017). Zwar sorgten zahlreiche ausländische Förderprogramme für das Wiederaufleben der Vereine nach dem generellen Sportverbot während der Talibanherrschaft (Frankfurter Allgemeine, Sport in Afghanistan, vom 29. Mai 2010). Sportler, insbesondere Mitglieder der Nationalmannschaften, werden von den Taliban aber als verwestlichte Personen wahrgenommen und verfolgt. So hat sich laut Meldung der dpa vom 6. September 2018 in einem Schiitenviertel in Kabul ein Selbstmordattentäter in einem Wrestling-Klub in die Luft gesprengt. Personen wie der Kläger sind aufgrund ihrer Prominenz bevorzugte Angriffsziele.

Vor diesem Hintergrund bestehen keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Behauptung des Klägers, er sei von den Taliban bedroht worden. Der Kläger wurde vorliegend auch wegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG in seinem Heimatland verfolgt. Bei den Taliban handelt es sich um nichtstaatliche Akteure im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylG, von denen Verfolgung ausgehen kann. Dem Kläger wurde nach Überzeugung des Gerichts von den Taliban eine gegen diese Organisation gerichtete abweichende Einstellung im Sinne von § 3b Abs. 2 AsylG zugeschrieben. Bei dieser abweichenden Einstellung handelt es sich um eine politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Die Taliban haben den Kläger verfolgt, weil er sich dem Sport verschrieben hat und international die derzeit herrschende Regierung Afghanistans vertritt. Es kann dahinstehen, ob dieses Verhalten des Klägers auf einer generellen Ablehnung der Herrschaft der Taliban beruhte oder primär dem Willen geschuldet war, sportliche Erfolge zu erreichen und sich seine eigene Freiheit zu erhalten. Er trägt keinen Vollbart und tritt in der Öffentlichkeit in einem Sportdress auf. Unabhängig von seiner Nähe zur Regierung hat der Kläger durch sein Verhalten jedenfalls aus Sicht der Ta-liban zum Ausdruck gebracht, dass er sich deren Herrschaftsanspruch und Regeln nicht unterwerfen will und deshalb als politischer Gegner anzusehen ist.

Unter Berücksichtigung der Vermutungsregel des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist auch gegenwärtig davon auszugehen, dass dem Kläger eine politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in seiner Heimatregion droht. Er betreibt weiterhin aktiv ...

Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser dort nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19. Oktober 2016, S. 4, 17; Lagebeurteilung vom 28. Juli 2017, Rn. 40 und Lagebericht vom 31. Mai 2018, S. 17 ff.). Dem Gericht ist aus einer Vielzahl von Erkenntnismitteln bekannt, dass die Taliban aufgrund ihrer Netzwerke in Kabul kontinuierlich dazu in der Lage sind, in dieser Stadt öffentlichkeitswirksame Anschläge mit Todesopfern und Verletzten zu verüben (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Sicherheitslage in der Stadt Kabul, Juni 2017, S. 3 ff. UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan, Dezember 2016, S. 7). Im Hinblick darauf, dass die afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte in Kabul nicht in der Lage sind, derartige Anschläge zu unterbinden, vermag das Gericht nicht davon auszugehen, dass sie einen gewöhnlichen einzelnen Mann wie den Kläger, der nicht damit rechnen kann, besonderen Personenschutz zu erhalten, vor einem Übergriff durch die Taliban schützen können. Zudem sprechen gegen die Fähigkeit der afghanischen Sicherheitsbehörden, Personen aus der Zivilbevölkerung in angemessener Weise vor Anschlägen der Taliban zu schützen, auch Berichte, wonach die Angehörigen der afghanischen Polizei schlecht ausgebildet und ausgerüstet sind, häufiger desertieren als Angehörige der afghanischen Armee, häufig in lokale Partei- sowie ethnische Streitigkeiten verwickelt sind, als korrupt gelten und bei der afghanischen Bevölkerung kaum über Vertrauen verfügen (vgl. allgemein UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, April 2016, S. 28-29; mit Blick auf Kabul: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Sicherheit in Kabul, Juli 2014, S. 8; EASO, Afghanistan: Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sha-rif, and Herat City, August 2017, S. 84).

Ebenso kann der Kläger auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e Abs. 1 AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2). Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 RL 2011/95/EU zu berücksichtigen (§ 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG).

Das Gericht geht – unter Berücksichtigung der Vermutungsregel des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU – davon aus, dass der aus Kabul stammende Kläger im vorliegenden Fall auch in keiner anderen größeren Stadt des Landes, in der zumindest ein gewisses Reservoire an Arbeitsplätzen vorhanden ist, internen Schutz erlangen kann, sondern auch dort schon aufgrund seiner Prominenz als die vorgetragene Verfolgungsgefahr zu befürchten hätte. Es sprechen keine stichhaltigen Gründe dagegen, dass der Kläger erneut von einer Verfolgung durch die Taliban bedroht wird.

Die Verfolgung von Gegnern dient der Abschreckung, Einschüchterung und als Druck zur Kooperation. Die Taliban würden weitgehend ihre Macht verlieren, wenn man ihr alleine durch einen Wechsel der Provinz entkommen könnte. Stattdessen stellt die Flucht selbst einen Akt des Widerstands dar. Dem Kläger ist darin zu folgen, dass, wenn es ihm in einer Stadt wie Kabul mit ca. 3,9 Millionen Einwohner (vgl. Wikipedia) nicht gelungen ist, in der Anonymität dieser Großstadt "unterzutauchen" und sich vor den Taliban versteckt halten zu können, dies auch nicht in anderen Städten in Afghanistan gelingen wird. Der Kläger ist auch in der Stadt Herat und Mazar-e-Sharif von einer Entdeckung und menschenrechtswidrigen Behandlung bis hin zur Tötung durch die Taliban bedroht. Die Kammer geht davon aus, dass auch in diesen und anderen Städten Afghanistans Netzwerke der Taliban bestehen, auch wenn die Orte nicht zu den Gebieten zählen, in denen die Taliban die Kontrolle ausüben. Hinzu kommt, dass auch in Herat und Mazar-e Sharif der Arbeits- und Wohnungsmarkt extrem angespannt ist, so dass der Kläger sich auch dort als Tagelöhner verdingen und in einer informellen Siedlung Zuflucht suchen müsste (vgl. EASO, Afghanistan: Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City, August 2017, S. 28 ff. u. 63 ff.). Der Kläger kann auch nicht auf die Möglichkeit verwiesen werden, internen Schutz außerhalb einer größeren Stadt in einem "sicheren" Gebiet – etwa in der Provinz Bamyan und Panjshir – zu suchen, in dem möglicherweise keine Netzwerke der Taliban bestehen. Den Kläger wird dort sein wirtschaftliches Existenzminimum nicht sichern können. Hinzu tritt die reale Gefahr, dass die Taliban durch Dritte über die Anwesenheit des Klägers in Kenntnis gesetzt werden. In Afghanistan sind Informationen über Fremde für das neue Lebensumfeld lukrativ, denn insbesondere größere Organisationen wie die Taliban sind bereit, Denunzianten zu entlohnen (vgl. Stahlmann, a.a.O., S. 47 f.). [...]