OLG Oldenburg

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Zitieren als:
OLG Oldenburg, Beschluss vom 07.09.2018 - 5 AR 25/18 - asyl.net: M26661
https://www.asyl.net/rsdb/M26661
Leitsatz:

Zur örtlichen Zuständigkeit in Abschiebungshaftsachen:

1. Der Anwendungsbereich von § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG, wonach bei Haftverlängerung an das Gericht des Haftorts abgegeben werden kann, beschränkt sich nach BGH Rechtsprechung auf die Aussetzung oder Aufhebung der Abschiebungshaft (unter Bezug auf BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 - asyl.net: M24914).

2. Ein nach § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG im Abschiebungshaftverfahren ergangener Abgabebeschluss umfasst über den Wortlaut hinaus auch Beschwerdeverfahren gegen Ersthaftanordnungen. 

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, örtliche Zuständigkeit, Haftverlängerung, Haftantrag,
Normen: FamFG § 5, FamFG § 5 Abs. 1 Nr. 4, AufenthG § 106 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[…]

2. Zuständig für die Entscheidung über die Beschwerde des Verfahrensbevollmächtigten vom 23.08.2018 ist das Amtsgericht Hannover.

Dieses ist als zuständig zu bestimmen, denn es ist gemäß § 106 Abs. 2 S.2 AufenthG durch den bindenden und nicht offensichtlich willkürlichen Verfahrensabgabebeschluss des Amtsgerichts Meppen zuständig geworden und bleibt an die dadurch begründete Zuständigkeit gebunden.

Ein nach § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG ergangener Abgabebeschluss ist grundsätzlich bindend, was auch im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung zu beachten ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.06.2010 - 15 Sbd 2/10 -. juris m.w.N.). Etwas anderes kommt nur dann in Betracht, wenn die Entscheidung offensichtlich die gesetzlich eingeräumte Verweisungskompetenz überschreitet und deshalb der gesetzlichen Grundlage entbehrt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 01.06.2010 - 15 Sbd 2/10 -, juris m.w.N.).

Das ist vorliegend indes nicht der Fall.

§ 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG regelt, dass, wenn über die Fortdauer der Zurückweisungshaft oder der Abschiebungshaft zu entscheiden ist, das Amtsgericht das Verfahren durch unanfechtbaren Beschluss an das Gericht abgeben kann, in dessen Bezirk die Zurückweisungshaft oder Abschiebungshaft jeweils vollzogen wird, d.h. dass auch bei diesem Gericht insofern eine Zuständigkeit begründet ist. Erforderlich für die Zuständigkeit des Amtsgerichts des Haftorts ist dabei in jedem Fall eine ausdrückliche Verweisung durch das die Haft anordnende Gericht (vgl. Brinktrine in BeckOK, Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 01.05.2018, § 106 AufenthG Rn. 8; Winkelmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 106 AufenthG Rn. 4). Hierbei beschränkt sich der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG auf Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der angeordneten Haft zur Sicherung der Abschiebung (vgl. BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 -, juris). § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG gilt nach der Einführung von §§ 425 Abs. 3, 416 S. 2 FamFG nur noch für die Entscheidung über die Aussetzung oder Aufhebung der angeordneten Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-) Haft nach § 424 FamFG oder § 426 FamFG. § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG hat insoweit durch die Änderung der Zuständigkeitsregelung in § 425 Abs. 3 i.V.m. § 416 S. 2 FamFG nicht vollständig seine Bedeutung verloren. Das Gericht, das die ursprüngliche Haftanordnung erlassen hat, bleibt für die Entscheidung über die Aussetzung oder Aufhebung dieser Haft gemäß §§ 424 oder 426 FamFG zuständig, weil § 425 Abs. 3 FamFG eine gesonderte Zuständigkeitsregelung nur für die Verlängerung, nicht aber schlechthin für die Fortdauer der Haft bestimmt. Für die Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der ursprünglich angeordneten Haft bleibt deshalb das Gericht, das diese Haft angeordnet hat, gemäß § 416 S. 1, § 2 Abs. 2 FamFG zuständig. Ohne die Regelung in § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG könnte eine Abgabe an das Gericht des Haftortes nur unter den Voraussetzungen der - auch auf die Abschiebungs- (oder Rücküberstellungs-)Haft anwendbaren - Regelung in § 4 FamFG erreicht werden. Eine Abgabe durch unanfechtbaren Beschluss nach Maßgabe von § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG, der diese Fälle auch erfasst, ist aber regelmäßig der einfachere Weg. Für diese Fälle behält die Vorschrift des § 106 Abs. 2 S. 2 FamFG ihren Sinn (vgl. insgesamt BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 -, juris).

Vorliegend ist der Betroffene zur Freiheitsentziehung in der JVA Hannover aufgenommen worden.

Dass die Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der angeordneten Haft durch das Gericht am Haftort getroffen werden und nicht durch das für den Erstantrag zuständige Gericht, ist in aller Regel - so mangels entgegenstehender Umstände auch vorliegend - sachgerechter und zweckmäßiger. Die Zuständigkeit des Gerichts am Haftort entspricht auch der Regelzuständigkeit nach § 416 S. 2 FamFG, die kraft Gesetzes für den Verlängerungsantrag gilt (vgl. BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 -, juris). Nach § 416 S. 2 FamFG ist, wenn sich die Person bereits in Verwahrung einer abgeschlossenen Einrichtung befindet, das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt.

Der Gesetzgeber wollte erreichen, dass über den Verlängerungsantrag nach Möglichkeit das Gericht am Haftort entscheidet, weil dieses insbesondere die persönliche Anhörung des Betroffenen zu dem Verlängerungsantrag schneller und unkomplizierter würde durchführen können als das mit dem ursprünglichen Haftantrag befasste - unter Umständen weit entfernte - Gericht (vgl. BGH, Beschluss vom 02.03.2017 - V ZB 122/15 - juris unter Verweis auf BT-Drucks. 12/4984 S. 38). Ähnliche Erwägungen gelten für Entscheidungen über die Aussetzung oder Aufhebung der angeordneten Haft zur Sicherung der Abschiebung. Auch insofern ist es geboten, dass das Gericht am Haftort diese Entscheidung durchführt, mithin die mit Beschluss des Amtsgerichts Meppen vom 09.08.2018 erfolgte Abgabe des weiteren Verfahrens an das Amtsgericht Hannover als Gericht des Haftortes nicht zu beanstanden. [...]

Nach der (uneingeschränkten) Abgabe des Verfahrens durch das Amtsgericht Meppen mit Beschluss vom 09.08.2018 wechselt auch die Zuständigkeit für Entscheidungen über die eingelegte Beschwerde.

Die Wirkungen der wirksamen Abgabe sind umfassend; es wird eine umfassende Zuständigkeit für alle künftig erforderlich werdenden Entscheidungen begründet, so dass auch anhängige Beschwerdeverfahren gegen eine frühere Entscheidung an das dem aufnehmenden Gericht übergeordnete Beschwerdegericht übergehen (vgl. Brinktrine in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, Stand: 01.05.2018, § 106 AufenthG Rn. 12 unter Verweis u.a. auf OLG München Beschluss vom 30.06.2009 - 34 Wx 024/09 - juris m.w.N. und OLG Düsseldorf, Beschluss vom 27.04.2007 - 3 Sa 3/07 -, juris; a.A. Winkelmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 106 AufenthG Rn. 5 unter Verweis auf AG Eisenhüttenstadt, Beschluss vom 18.6.2014 - 23 XIV 43/14  -; Stahmann in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 106 AufenthG Rn. 18 m.w.N.). § 106 Abs. 2 S. 2 AufenthG beschreibt lediglich die Voraussetzungen, unter denen das Verfahren abgegeben werden kann; hingegen beschränkt die Bestimmung nicht die Abgabe inhaltlich auf einen Teil der noch zu treffenden Entscheidungen (vgl. OLG München, Beschluss vom 30.06.2009 - 34 Wx 024/09 -, juris m.w.N.). Nach einer (wie hier uneingeschränkten) Abgabe gemäß § 106 Abs 2 S. 2 AufenthG ist das Verfahren so anzusehen, als läge ein von Anfang an beim Amtsgericht Hannover anhängig gewesenes Verfahren vor. [...]