OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 10.10.2018 - 2 LB 67/18 - asyl.net: M26676
https://www.asyl.net/rsdb/M26676
Leitsatz:

Keine Flüchtlingsanerkennung für unverfolgt ausgereiste sunnitische Kurdin aus Syrien aus oppositionellem Gebiet:

1. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage ist nicht davon auszugehen, dass das syrische Regime alle Rückkehrenden pauschal unter den Generalverdacht einer oppositionellen Gesinnung stellt, sofern keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen.

2. Weder die Zugehörigkeit zum sunnitischen Glauben noch die kurdische Volkszugehörigkeit stellen für sich genommen risikoerhöhende Faktoren dar.

3. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass aus dem Ausland nach Syrien Zurückkehrenden allein aufgrund ihrer Herkunft aus einer Region, die unter Kontrolle oppositioneller Truppen steht, Verfolgung wegen zugeschriebener oppositioneller Gesinnung droht.

4. Allein die pauschale Bezugnahme auf eines oder mehrere der vom UNHCR formulierten Risikoprofile reicht nicht aus, um eine drohende Verfolgung zu begründen; vielmehr ist eine Einzelfallbetrachtung vorzunehmen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Sunniten, Kurden, Nordwestsyrien, Gruppenverfolgung, Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Aufstockungsklage, Vorverfolgung, Upgrade-Klage, Amuda, Damaskus, UNHCR, Risikoprofil, Flüchtlingsanerkennung, subsidiärer Schutz, Rückkehr, beachtlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, Opposition, oppositionelle Gesinnung, Generalverdacht, gefahrerhöhende Umstände,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, so dass das Urteil zu ändern war. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG. [...]

27 Zu bewerten ist allein eine Verfolgung durch den syrischen Staat. Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist der tatsächliche Zielort des Ausländers bei seiner Rückkehr. Das ist in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 – 10 C 15.12 – juris, Rn. 13 ff. m.w.N.). Dies ist Damaskus, da die Klägerin nach ihren eigenen Angaben dort zuletzt gelebt hat. [...]

28 2. Die Klägerin ist nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist. [...]

31 3. Eine Flüchtlingsanerkennung der Klägerin kommt nicht wegen Ereignissen und einer damit einhergehenden Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG in Betracht, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat (vgl. § 28 Abs. 1a AsylG, sog. Nachfluchttatbestände). Die Klägerin kann sich zur Begründung der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht auf die illegale Ausreise und/ oder den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland und eine dort erfolgte Asylantragstellung berufen (a). Bei ihr liegen auch weder im Hinblick auf ihre Glaubenszugehörigkeit noch wegen ihrer regionalen Herkunft, risikoerhöhende Umstände vor (b). Selbst wenn man alle Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung gemeinsam betrachtet, ergibt sich nichts Abweichendes (c).

32 a) Die Begründung des Verwaltungsgerichts, dass allein der Aufenthalt der Klägerin im westlichen Ausland und die Asylantragstellung in der Bundesrepublik vom syrischen Staat als Ausdruck einer regimefeindlichen Gesinnung angesehen werde und die Klägerin im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aus diesem Grund mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste, wird vom Senat angesichts der aktuellen Erkenntnislage und weiterer Erwägungen nicht geteilt und rechtfertigt daher die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht. [...]

34 Der Senat hat hierzu mit am 4. Mai 2018 verkündeten Urteilen (u.a. 2 LB 17/18, juris Rn. 36 ff.) unter Verweis auf das Urteil vom 23. November 2016 (3 LB 17/16, juris) ausgeführt, dass nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme besteht, dass der totalitäre Staat Syrien jeden Rückkehrer, auch solche, die ihr Land unverfolgt verlassen haben, pauschal unter eine Art Generalverdacht stellt, der Opposition anzugehören, sofern nicht besondere, individuell gefahrerhöhende Umstände vorliegen, die auf eine oppositionelle Einstellung hinweisen. Wegen der Begründung im Einzelnen, insbesondere der Bewertung der vorliegenden Erkenntnismittel wird auf das Urteil vom 4. Mai 2018 – 2 LB 17/18 – juris, Rn. 36 bis 75 verwiesen. Hieran hält der Senat fest. Neue Erkenntnisse haben sich seitdem nicht ergeben.

35 b) Im Falle der Klägerin liegen keine solchen besonderen, risikoerhöhenden Faktoren für die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungshandlung bzw. einer Verfolgung wegen einer vermeintlich oppositionellen Einstellung vor. [...]

36 aa) Die Zugehörigkeit zum sunnitischen Glauben allein stellt keinen risikoerhöhenden Faktor dar, aufgrund dessen der Klägerin bei einer Rückkehr nach Syrien beachtlich wahrscheinlich die Gefahr einer Verfolgung drohen würde, weil ihr deshalb eine regimefeindliche Haltung zugeschrieben werden würde. Der Senat hat zu diesem Aspekt im Urteil vom 4. Mai 2018 (Az. 2 LB 17/18, juris Rn. 77 bis 81) Folgendes ausgeführt:

37 Nach Berichten des UNHCR bestehe zwar die von der Regierung bekämpfte Opposition größtenteils aus sunnitischen Arabern (vgl. UNHCR vom November 2017, S. 54). Die Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Sunniten erhöhe daher die Gefahr, Opfer staatlicher Verfolgung zu werden (so bereits UNHCR vom April 2017, S. 5; SFH vom 21. März 2017, S. 11; siehe auch UNHCR vom November 2015, S. 26, wonach die Mitgliedschaft in religiösen Gruppen – darunter auch die Sunniten – ein gefahrerhöhendes Moment sein könne). Anderen Berichten zufolge seien alle Rückkehrer von Misshandlungen am Flughafen und Grenzübergängen bedroht. Ethnizität und Religion seien keine Aspekte, die sich auf die Gefährdung durch Misshandlung auswirkten (vgl. IRB vom 19. Januar 2016, S. 7).

38 Trotz des vor allem vom UNHCR definierten Risikoprofils kann eine generelle Gefährdung sunnitischer Syrer bereits deshalb nicht angenommen werden, weil 74 % der syrischen Bevölkerung der Glaubensgruppe der Sunniten angehören (Stand 2006, siehe m.bpb.de/nachschlagen/lexika/fischerweltalmanach/65805/syrien). Ferner sind Sunniten sowohl im Regime als auch in den Streitkräften – zum Teil in hohen Stellungen – vertreten (vgl. Gerlach, "Was in Syrien geschieht", Bundeszentrale für politische Bildung, vom 19. Februar 2016; vgl. auch OVG Münster, Urteil vom 21. Februar 2017, a.a.O., Rn. 83 f.; OVG Lüneburg, Urteil vom 27. Juni 2017, a.a.O., Rn. 68). [...]

41 bb) Eine der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung wegen einer ihr seitens des syrischen Regimes zugeschriebenen politischen Überzeugung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass sie ist.

42 Insoweit hat der Senat bereits mit Urteil vom 4. Mai 2018 – 2 LB 62/18 – juris, LS und Rn. 78 bis 87) entschieden, dass allein die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Kurden keinen risikoerhöhenden Faktor darstellt, aufgrund derer der Klägerin vom syrischen Regime eine politische Überzeugung zugeschrieben und ihr deshalb eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohen würde. [...]

43 cc) Eine der Klägerin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung wegen einer ihr seitens des syrischen Regimes zugeschriebenen politischen Überzeugung ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die aus Damaskus stammende Klägerin, zuletzt in ihren Geburtsort Amuda vor Bombardierungen geflohen ist, einer Stadt, die unter Kontrolle von oppositionellen Truppen gestanden hat bzw. steht. [...]

44 cc) Ungeachtet der voranstehenden Ausführungen genügt allein die pauschale Bezugnahme auf eines oder mehrere vom UNHCR definierten Risikoprofile nach Auffassung des Senats nicht, um die Annahme einer flüchtlingsrechtlich relevanten (politischen) Verfolgung durch das Assad-Regime begründen zu können. Es bedarf stets einer konkreten Einzelfallbetrachtung. [...]

46 c) Selbst wenn man bei der Klägerin alle vorgenannten Umstände – die illegale Ausreise und/oder den längeren Aufenthalt im westlichen Ausland und eine dort erfolgte Asylantragstellung, die Glaubens- und Volkszugehörigkeit sowie die regionale Herkunft – zusammen in die zu treffende Prognoseentscheidung einbezieht, ergibt sich daraus keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrechtlich relevante (politische) Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG. Bei der Klägerin liegen keine besonderen, individuell gefahrerhöhenden Umstände vor, weshalb ihr vom syrischen Regime eine oppositionelle Haltung unterstellt werden könnte und ihr deshalb Verfolgungsmaßnahmen drohten. [...]