BGH

Merkliste
Zitieren als:
BGH, Beschluss vom 20.09.2018 - V ZB 102/16 - asyl.net: M26832
https://www.asyl.net/rsdb/M26832
Leitsatz:

Fehlerhafter Haftantrag sowie fehlerhafte Anordnung der Haftfortdauer:

1. Die allgemein gehaltene Angabe der Behörde im Haftantrag, dass die Haftdauer "erforderlich und angemessen" sei, genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen. Dieser Mangel kann jedoch durch  Entscheidung des Beschwerdegerichts für die Zukunft geheilt werden.

2. Entzieht sich die betroffene Person ihrer Abschiebung durch Ausreise in ein anderes Land und stellt bei unerlaubter Wiedereinreise in das Bundesgebiet einen erneuten Asylantrag unter Angabe anderer Personalien, ohne offenzulegen, dass es sich um einen Folgeantrag handelt, so können Anhaltspunkte nach § 2 Abs. 14 Nr. 2 (Identitätstäuschung) sowie Nr. 6 (Vorbereitungshandlungen zur Abschiebungsentziehung) AufenthG für eine bestehende Fluchtgefahr angenommen werden.

3. Die Beschaffung von Reisedokumenten aus Armenien dauert ungefähr zwei Monate.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Armenien, Haftdauer, Passbeschaffung, Rückübernahmeabkommen, Täuschung, Täuschung über Identität, Aliasnamen, falsche Angaben, Haftantrag, Asylfolgeantrag, Zweitantrag, Ausland,
Normen: AsylG § 71a, FamFG § 417 Abs. 2 S. 2 Nr. 4, AufenthG § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 2, FamFG § 26, AufenthG § 2 Abs. 14 Nr. 6, AsylG § 71, AufenthG § 62 Abs. 1 Satz 2, AufenthG § 62, FamFG § 426 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Haftanordnung des Amtsgerichts hat den Betroffenen bis zum 5. Juli 2016 in seinen Rechten verletzt, weil sie auf einem unzulässigen Haftantrag beruhte und dieser Mangel erst durch die Entscheidung des Beschwerdegerichts am 6. Juli 2016 geheilt worden ist. [...]

Die Behörde hatte in dem Haftantrag unter anderem die erforderliche Dauer der Freiheitsentziehung darzulegen (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 4 FamFG). Dazu heißt es in dem Haftantrag nur, die beantragte Dauer der Haft sei aus der Sicht der beteiligten Behörde "erforderlich und angemessen". Diese allgemein gehaltenen Ausführungen sind vor dem Hintergrund, dass die Haft auf die kürzest mögliche Dauer zu beschränken ist (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG), unzureichend (vgl. Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11, FGPrax 2012, 225 Rn. 10, vom 12. Oktober 2016 - V ZB 8/15, juris Rn. 7 und vom 20. September 2017 V ZB 74/17, juris Rn. 7). [...]

2. Das Beschwerdegericht durfte zwar die Fortdauer der Haft anordnen, jedoch nicht über den 31. Juli 2016 hinaus.

a) Bei der Entscheidung über die Beschwerde des Betroffenen lagen die Voraussetzungen für die Anordnung von Haft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Armenien bis zum 31. Juli 2016 vor. [...]

(1) Der Betroffene meint, der von dem Beschwerdegericht zugrunde gelegte konkrete Anhaltspunkt für das Vorliegen von Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG sei nicht, jedenfalls nicht entsprechend den Anforderungen des § 26 FamFG festgestellt. [...]

Das trifft nicht zu. Aus dem Ankunftsnachweis, den die Stadt Bielefeld dem Betroffenen nach seiner erneuten unerlaubten Einreise nach Deutschland am 13. April 2016 erteilt hat, ergibt sich, dass der Betroffenen die Personalien "..., geboren am ... in ..." verwendet hat. Die Annahme des Beschwerdegerichts, dass der Betroffene damit über seine Identität getäuscht hat, ist nicht zu beanstanden.[...] Ein Anhaltspunkt für Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Nr. 2 AufenthG liegt aber auch vor, wenn sich der Ausländer der Abschiebung in sein Heimatland durch Ausreise in einen anderen Staat entzieht, in dem er nach Zurückweisung seines Asylantrags kein Aufenthaltsrecht hat, und später nach Deutschland zurückkehrt und einen Asylantrag unter variierten Personalien stellt, ohne offenzulegen, dass es sich um einen Folgeantrag nach § 71 AsylG handelt. [...]

(2) Nicht zu beanstanden ist weiter, dass das Beschwerdegericht in dem Gesamtverhalten des Betroffenen nach der Bekanntgabe des Ablehnungsbescheids auch einen konkreten Anhaltspunkt für das Vorliegen von Fluchtgefahr nach § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG gesehen hat. Danach liegt ein solcher Anhaltspunkt vor, wenn der Ausländer, um sich der bevorstehenden Abschiebung zu entziehen, sonstige konkrete Vorbereitungshandlungen von vergleichbarem Gewicht vorgenommen hat, die nicht durch Anwendung unmittelbaren Zwangs überwunden werden können. [...] Diese Voraussetzungen sind auch erfüllt, wenn sich der Ausländer - wie der Betroffene hier - der Abschiebung in sein Heimatland durch Ausreise in einen anderen Staat entzieht, in dem er nach Zurückweisung seines Asylantrags kein Aufenthaltsrecht hat, und später nach Deutschland zurückkehrt und einen Asylantrag unter variierten Personalien stellt, ohne offenzulegen, dass es sich um einen Folgeantrag nach § 71 AsylG handelt. Der Ausländer erreicht so, dass er bei einem Registerabgleich nicht auffällt, als neuer Asylantragsteller behandelt und als Folge dessen - bis zur Entdeckung der Täuschung - nicht aufgrund des existierenden Ablehnungsbescheids abgeschoben wird. [...]

b) Das Beschwerdegericht hätte die Haft indessen bis zum 31. Juli 2016 begrenzen müssen.

aa) Die Haft ist, wie bereits ausgeführt, nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG auf den kürzest möglichen Zeitraum zu begrenzen. Stellt sich im Beschwerdeverfahren heraus, dass die Abschiebung, deren Sicherung die angeordnete Haft dient, in einem kürzeren Zeitraum als dem ursprünglich ermittelten zu erreichen ist, ist die Haft nach § 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG i.V.m. dem Rechtsgedanken von § 426 Abs. 1 FamFG von Amts wegen auf den nach dem Ergebnis der Feststellungen im Beschwerdeverfahren benötigten Zeitraum zu begrenzen und im Übrigen aufzuheben (Senat, Beschlüsse vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, NVwZ 2017, 733 [Ls.] = juris Rn. 13, vom 1. Juni 2017 - V ZB 39/17, InfAuslR 2017, 347 Rn. 8 und vom 29. Juni 2017 V ZB 40/16, InfAuslR 2017, 450 Rn. 24).

bb) Diesen Anforderungen ist das Beschwerdegericht hier nur teilweise gerecht geworden.

(1) Es ist zutreffend davon ausgegangen, dass das deutsche Rücknahmeersuchen der armenischen Botschaft spätestens am 24. Juni 2016, dem Datum der Antwort-E-Mail auf die Nachfrage der beteiligten Behörde bzw. der Clearingstelle vom 22. Juni 2016, vorgelegen haben muss. Unter Berücksichtigung der 12-Kalendertage-Regelung in Art. 11 Abs. 2 des Abkommens und eines Zeitraums für die Erteilung eines Reisedokuments für den Betroffenen und die Durchführung des Flugs nach Armenien ist es zu dem Zwischenergebnis gelangt, dass die Abschiebung des Betroffenen bis zum 20. Juli 2016 durchzuführen sein müsste. Das Beschwerdegericht durfte weiter berücksichtigen, dass die armenische Botschaft tatsächlich für ihre Prüfung bislang mehr als zwölf Kalendertage benötigt und diese Prüfung ungeachtet des Umstands fortgesetzt hatte, dass die Frist nach Art. 11 Abs. 2 des Abkommens an sich schon am 14. Juni 2016 abgelaufen war und dass sich deshalb weitere Verzögerungen ergeben konnten.

(2) Eine tatsächliche Grundlage dafür, die zu erwartenden Verzögerungen mit insgesamt etwa fünf Wochen anzusetzen, ergeben die Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht. Das Beschwerdegericht hat sich zulässigerweise (dazu Senat, Beschluss vom 30. Juni 2016 - V ZB 143/14, FGPrax 2016, 277 Rn. 7) an den Angaben in der Fallsammlung der Clearingstellen für Armenien orientiert. Danach nimmt die Beschaffung der Reisedokumente für die Abschiebung nach Armenien "ungefähr zwei Monate" in Anspruch. Auf dieser Grundlage und unter Berücksichtigung eines zeitlichen Puffers für allfällige Verzögerungen (dazu: Senat, Beschluss vom 20. Oktober 2016 - V ZB 167/14, NVwZ 2017, 733 [Ls.] = juris Rn. 13) konnte das Beschwerdegericht die Haft nur bis zum 31. Juli 2016 aufrechterhalten. Für den Zeitraum danach war sie entsprechend § 426 FamFG aufzuheben. Es war zwar nicht auszuschließen, dass sich weitere Verzögerungen ergaben. Dem durfte das Beschwerdegericht aber nicht mit einer Aufrechterhaltung der Haft Rechnung tragen, für die es keine tragfähige Tatsachengrundlage gab. Vielmehr ist die Haft in solchen Fällen auf den Zeitraum zu begrenzen, den der festgestellte Sachverhalt ergibt. Wenn sich später abzeichnet, dass wider Erwarten mehr Zeit benötigt wird, kann Verlängerung der Haft beantragt werden. [...]