VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 18.12.2018 - 11 S 2125/18 - asyl.net: M26895
https://www.asyl.net/rsdb/M26895
Leitsatz:

Unterschiedliche Prüfungskriterien in einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach Ablehnung als "offensichtlich unbegründet":

1. Bei der Prüfung, ob eine Rechtsstreitigkeit nach dem Asylgesetz vorliegt, ist darauf abzustellen, ob die begehrte Maßnahme oder Entscheidung ihre rechtliche Grundlage im Asylgesetz findet. Wird die Aussetzung der Abschiebung von der Ausländerbehörde begehrt, ist Rechtsgrundlage für den begehrten Anspruch § 60a Abs. 2 AufenthG, sodass die Beschwerde nicht gem. § 80 AsylG ausgeschlossen ist.

2. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach § 123 VwGO, welches den oben benannten Anspruch zum Gegenstand hat, sind der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht die Prüfung der Rechtmäßigkeit der erlassenen Abschiebungsandrohung einschließlich der Ausreisefristsetzung und mit ihr einhergehender Informationspflichten entzogen, selbst wenn diese sich nach den Maßstäben des EuGH als unionsrechtswidrig darstellen sollten (unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 Gnandi gg. Belgien - Asylmagazin 9/2018, S. 310 ff. - asyl.net: M26457). Denn die Frage der Rechtmäßigkeit der Ausreisefrist ist abschließend in dem Verfahren nach dem Asylgesetz zu klären, welches die ablehnende Asylentscheidung mit verbundener Rückkehrentscheidung zum Gegenstand hat.

3. Wird ein Asylantrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt, ist der betroffenen Person ein Bleiberecht nur bis zur gerichtlichen Entscheidung im Eilrechtsverfahren unionsrechtlich garantiert (unter Bezug auf EuGH, 05.07.2018, C-269/18 PPU).

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylgesetz, Unionsrecht, Asylverfahrensrichtlinie, Suspensiveffekt, offensichtlich unbegründet, wirksamer Rechtsbehelf, Abschiebungsandrohung, Ausreisefrist, Beschwerdeausschluss, Gnandi, Informationspflichten, Prüfungskompetenz, Rechtsschutz, effektiver Rückkehrentscheidung,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 1 Satz 6, AufenthG § 60a Abs. 2, AsylG § 36 Abs. 4, AsylG § 80, GG Art. 19 Abs. 4, RL 2008/115/EG Art. 3 Nr. 4, RL 2008/115/EG Art. 5, RL 2008/115/EG Art. 7, RL 2008/115/EG Art. 13, RL 2013/32/EU Art 32 Abs. 2, RL 2013/32/EU Art. 46 Abs. 8, VwGO § 123 Abs. 1, VwVfG § 46,
Auszüge:

[...]

In den Fällen, in denen die Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlassen wird (§§ 34, 35 AsylG), ist die Rechtmäßigkeit dieser Rückkehrentscheidung allein in dem Verfahren nach dem Asylgesetz gegen die Bundesrepublik Deutschland zu überprüfen. Das gleiche gilt in den Fällen, in denen der Klage gegen die Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung nicht kraft Gesetzes aufschiebende Wirkung zukommt (siehe § 75 AsylG), für die Frage der Vollziehbarkeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens. Hier ist vorläufiger Rechtsschutz gegenüber der Bundesrepublik Deutschland in einem Verfahren nach dem Asylgesetz zu suchen. Denn die Frage des Rechtsschutzes korrespondiert mit der Frage der Zuweisung der Zuständigkeiten für die zu treffenden Entscheidungen.

Hingegen sind Rechtsstreitigkeiten hinsichtlich der Vollstreckung der Ausreisepflicht und damit unionsrechtlich auch der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung, also der Abschiebung (vgl. Art. 8 Abs. 1 RFRL), gegenüber dem Rechtsträger der Behörde zu führen, die für die Durchführung der Abschiebung zuständig ist, hier also dem Antragsgegner als Rechtsträger des nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 AAZuVO landesweit zuständigen Regierungspräsidiums Karlsruhe. In diesem Verfahren kann die vorläufige Aussetzung der Abschiebung begehrt werden. Prüfungsgegenstand dieses Verfahrens ist damit das Vorliegen einer vollziehbaren Ausreisepflicht und eines Abschiebungsgrundes (§ 58 Abs. 1 und 3 AufenthG) sowie einer vollziehbaren Abschiebungsandrohung, die Frage, ob die Ausreisefrist, soweit sie erforderlich ist, abgelaufen ist und ob Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG oder Abschiebungshindernisse nach § 60a AufenthG festgestellt sind bzw. vorliegen. Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, ist der Ausländerbehörde die Abschiebung im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen und dem Antragsteller eine Duldung zu erteilen.

b) Ausgehend von diesen Maßstäben zieht das Beschwerdevorbringen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht erfolgreich in Zweifel.

aa) Der Vortrag, die in dem Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. Oktober 2017 gesetzte Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids stehe nicht im Einklang mit den Vorgaben der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, ist im Verfahren um die Aussetzung der Vollstreckung rechtlich nicht relevant. Vielmehr ist die Frage der Rechtmäßigkeit der Ausreisefrist - abschließend - in dem Verfahren nach dem Asylgesetz gegen die Bundesrepublik Deutschland zu klären, dort kann diese in der Hauptsache aufgehoben werden, falls sie sich als rechtswidrig erweisen sollte, und dort kann auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage angeordnet werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.08.2010 - 10 C 18.09 -, InfAuslR 2010, 464; zum Prüfungsgegenstand im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen eine nach dem Asylgesetz erlassenen Abschiebungsandrohung: Pietzsch, in: BeckOK AuslR, Stand 01.08.2018; § 36 AsylG Rn. 36). Der Ausländerbehörde und auch dem Verwaltungsgericht im Verfahren nach § 123 VwGO auf Aussetzung der Abschiebung ist eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausreisefristsetzung indes entzogen. Dies gilt auch dann, wenn sich die gesetzte Ausreisefrist als unionsrechtswidrig darstellen sollte, wofür spricht, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union die in Art. 7 RFRL vorgesehene Frist für die freiwillige Ausreise nicht zu laufen beginnen darf, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat (EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 - <Gnandi> NVwZ 2018, 1625 Rn. 61 f.). Diese Aussage zur Frist dürfte auch dann gelten, wenn der Antrag von der zuständigen Asylbehörde - so wie hier - als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist (vgl. EuGH, Beschluss vom 05.07.2018 - C-269/18 PPU - <C, J und S> ECLI:EU:C:2018:544; dort allerdings entschieden allein in Bezug auf die Inhaftnahme nach Art. 15 RFRL; siehe auch Wittkopp, ZAR 2018, 325 (328)).

Ebenfalls nichts anderes kann sich daraus ergeben, dass die Anwendung des Maßstabs aus § 36 Abs. 4 AsylG, den das Verwaltungsgericht im asylrechtlichen Eilrechtsschutzverfahren für einschlägig erachtet hat, unionsrechtlich jedenfalls bezogen auf die Rückkehrentscheidung bedenklich erscheint, da sich Hinweise auf die Zulässigkeit eines eingeschränkten gerichtlichen Prüfungsmaßstab in Art. 13 RFRL nicht wiederfinden. [...]

Es trifft nicht zu, dass es unionsrechtlich geboten sei, dass die Ausreisefrist im Fall einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet erst nach dem rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens ablaufen dürfe, so dass eine unionsrechtskonforme Auslegung der Ausreisefrist über das oben Dargestellte hinaus nicht in Betracht kommt. Damit steht für den Senat fest, dass die Ausreisefrist bei allen in Frage kommenden Betrachtungsweisen abgelaufen ist. Denn der Gerichtshof der Europäischen Union hat entschieden, dass bei einer Ablehnung eines Antrags als offensichtlich unbegründet im Einklang mit Art. 32 Abs. 2 RL 2013/32/EU dem Betroffenen ein Bleiberecht zunächst nur bis zu dem Zeitpunkt zusteht, bis ein angerufenes Gericht nach Art. 46 Abs. 8 RL 2013/32/EU über das weitere Bleiberecht im Verfahren entschieden hat (EuGH, Beschluss vom 05.07.2018 - C-269/18 PPU - <C, J und S> Rn. 52 - 54). Diese gerichtliche Entscheidung ist im nationalen Kontext diejenige des Verwaltungsgerichts im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gegen die Abschiebungsandrohung, so dass sich aus der Rückführungsrichtlinie und dem Grundsatz der Nicht-Zurückweisung keine über die hier dargestellten Folgen für die Ausreisefrist hinausgehenden Konsequenzen ziehen lassen (so aber Hruschka, Asylmagazin 2018, 290 (292) und ders. Voller Rechtsschutz! Abschiebungen sind auch nach verweigertem Eilrechtsschutz europarechtswidrig, VerfBlog, 2018/11/28, wobei der Autor die Erwägungen des EuGH im Beschluss vom 05.07.2018 - C-269/18 PPU - <C, J und S> Rn. 53 ausblendet).

bb) Aus den oben dargestellten Vorgaben des Gerichtshofs der Europäischen Union ergibt sich auch, dass die Rechtsauffassung des Antragstellers nicht zutrifft, dass seiner Klage gegen die Abschiebungsandrohung im asylrechtlichen Verfahren bis zum Eintritt der Rechtskraft - oder wenigstens bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens - aufschiebende Wirkung zukommen müsse. Denn ein Bleiberecht während des Rechtsbehelfsverfahrens ist im Falle der Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet eben nur bis zur gerichtlichen Entscheidung über das Recht auf Verbleib unionsrechtlich garantiert, Art. 46 Abs. 8 RL 2013/32/EU.

cc) Die angegriffene Entscheidung begegnet auch insoweit keinen durchgreifenden Zweifeln, als sie sich nicht mit der Frage der (Nicht-)Erfüllung von Informationspflichten beschäftigt hat.

Es trifft zwar zu, dass der Gerichtshof der Europäischen Union - nunmehr erstmals - entschieden hat, dass die Mitgliedstaaten zur Gewährleistung eines fairen und transparenten Rückkehrverfahrens dann, wenn die Rückkehrentscheidung zusammen mit der erstinstanzlichen Ablehnung des Antrags auf internationalen Schutz durch die zuständige Behörde in einer einzigen behördlichen Entscheidung ergeht, dafür Sorge zu tragen haben, dass die Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in transparenter Weise über die Einhaltung verschiedener Garantien informiert wird - nämlich: die Aussetzung aller Wirkungen der Rückkehrentscheidung, die Verhinderung des Laufs der Ausreisefrist, solange der Betroffene ein Bleiberecht hat, das Verbot der Abschiebungshaft in diesem Zeitraum, die Fortgeltung der Rechte aus der Aufnahmerichtlinie sowie die Möglichkeit, im gerichtlichen Verfahren neue Umstände geltend zu machen, die nach Art. 5 RFRL relevant sein können (EuGH, Urteil vom 19.06.2018 - C-181/16 - <Gnandi> NVwZ 2018, 1625 Rn. 65).

Ein möglicher Verstoß gegen diese Informationspflichten, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit der Bekanntgabe der ablehnenden Entscheidung über den Asylantrag zu erfüllen hat, ist im Verfahren nach dem Asylgesetz zu prüfen, da ein Verstoß möglicherweise auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung durchschlagen kann. Im dazugehörigen einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Abschiebungsandrohung kommt es daher in Betracht, die aufschiebende Wirkung anzuordnen, wenn die aus der Rückführungsrichtlinie folgenden Informationspflichten nicht oder nur unzureichend erfüllt worden sind. Ob ein etwaiger Verstoß gegen die Informationspflichten nach unionsrechtlichen Maßstäben überhaupt zur Aufhebung einer Rückkehrentscheidung führen darf, richtet sich unter anderem auch nach unionsrechtlichen Vorgaben zur praktischen Wirksamkeit der Rückführungsrichtlinie (vgl. EuGH, Urteil vom 10.09.2013 - C-383/13 PPU - <M.G. und NE> BeckRS 2013, 81783 Rn. 36 ff.) und ist in dem Verfahren nach dem Asylgesetz zu prüfen.

Sollte die Erfüllung der Informationspflichten sich allerdings auf die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung als Rückkehrentscheidung auswirken können, wäre es zu ihrer Durchsetzung nicht hinreichend effektiv, wenn die Pflichterfüllung erst durch die für die Abschiebung zuständige Ausländerbehörde - und in der Folge in einem gerichtlichen Verfahren nach § 123 VwGO gerichtet auf Aussetzung der Abschiebung - geprüft würde. Denn sähe man die Erfüllung der Informationspflichten (nur) als Zulässigkeitserfordernis für den Vollzug der Abschiebung an, würde über sie in einem Verfahren entschieden, an dem die zur Information verpflichtete Behörde - das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - nicht beteiligt ist und in dem also keine Bindungswirkung ihr gegenüber erreicht werden kann.

Da das Verwaltungsgericht Freiburg in seinem Beschluss vom 10. Mai 2018 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den ablehnenden Bundesamtsbescheid nicht angeordnet und es damit bei der Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung belassen hat, ist dem Verwaltungsgericht und auch dem beschließenden Senat daher eine Prüfung, ob den - ungeschriebenen - unionsrechtlichen Informationspflichten hier genügt wurde, entzogen. Diese Frage ist nach dem oben Dargestellten allein im Verfahren nach dem Asylgesetz zu prüfen, da sie die Vollziehbarkeit und Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung betrifft. [...]