VG Trier

Merkliste
Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 16.11.2018 - 1 K 12434/17.TR - asyl.net: M26910
https://www.asyl.net/rsdb/M26910
Leitsatz:

Dauer der Überstellungsfrist nach Wiederauftauchen zuvor "flüchtiger" Personen:

1. Verlängert das Bundesamt gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Dublin III-VO die Überstellungsfrist wegen der "Flüchtigkeit" des Betroffenen auf achtzehn Monate, muss im Falle des Wiederauftauchens zum regulären, dann erneut sechsmonatigen, Fristenlauf des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO zurückgekehrt werden, sofern die achtzehnmonatige (Höchst-)Frist nicht zuvor ausläuft. Das Ermessen des Bundesamtes ist in diesen Fällen regelmäßig auf null reduziert.

2. Das übergeordnete Telos der Dublin III-VO ist neben der Bestimmung des zuständigen Unionsstaates vor allem auch die schnellstmögliche Erreichung dieses Zieles. Zu dessen Durchsetzung hat der Verordnungsgeber ein strenges Fristenregime etabliert, das von den Mitgliedsstaaten zu beachten ist. Bei einer Fristverlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO handelt es sich demnach um eine restriktiv zu handhabende Ausnahme, bei deren Anwendung dem Vorstehenden Telos Rechnung zu tragen ist. Rein praktische Erwägungen müssen außer Betracht bleiben.

3. Bei der Dublin III-VO handelt es sich um eine rein "technische" Verordnung zur Durchführung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), der jedweder Sanktionscharakter - bereits aus Kompetenzgründen - fremd ist.

4. Bei einer Entscheidung des Bundesamtes nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO handelt es sich um einen Verwaltungsakt (§ 35 Satz 1 VwVfG).

5. Erlässt eine Behörde einen Ermessens-Verwaltungsakt, muss sie diesen für die Dauer der von ihm ausgehenden Regelungswirkung fortlaufend und verfahrensbegleitend überprüfen und insbesondere das Gestaltungsermessen den sich ändernden Umständen anzupassen, sofern ermessensrelevante Änderungen (hier das Wiederauftauchen eines zuvor "flüchtigen" Asylsuchenden) eintreten.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Fristverlängerung, Wiederauftauchen, flüchtig, Beschleunigungsgebot, Sanktionscharakter, Zuständigkeit, Rücknahme eines Verwaltungsaktes, Widerruf eines Verwaltungsaktes, Verwaltungsakt, Rücknahme, Widerruf,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 2, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

28 2. Die Beklagte konnte an der auf achtzehn Monate verlängerten Höchstfrist jedenfalls nicht mehr festhalten, nachdem ihr der neue Aufenthaltsort des Klägers in ... – spätestens – am 27.04.2018 bekannt gewesen ist (vgl. Bl. 71, 73 d.A.).

29 Der Beklagten ist zunächst insoweit zuzustimmen, als die Dublin III-VO keine explizite Regelung für diejenigen Fälle trifft, in denen ein Asylsuchender nach einmal erfolgter Verlängerung der Überstellungsfrist (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Dublin III-VO) erneut seinen Aufenthaltsort bekannt gibt. Gleichwohl kann die Beklagte in diesen Fällen eine derartige Änderung der Sachlage nicht gänzlich ignorieren und die einmal verlängerte Überstellungsfrist ohne erneute Überprüfung einer weitergehenden Notwendigkeit der (erheblichen) Fristerstreckung "weiterlaufen" lassen, da sie ansonsten dem übergeordneten Verordnungstelos in rechtlich nicht zu rechtfertigender Weise zuwiderhandeln würde. Hierzu im Einzelnen:

30 a. Die Dublin III-VO verfolgt neben dem Zweck, die Zuständigkeit der Unionsstaaten im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) zur regeln, vor allem auch das Ziel, die Dauer dieser Zuständigkeitsprüfung auf das erforderliche Minimum zu reduzieren. Die betroffenen Asylsuchenden sollen einerseits möglichst schnell Gewissheit über den für sie zuständigen Mitgliedsstaat erhalten und andererseits auch möglichst schnell in diesen überstellt werden, um eine rasche Entscheidung über ihr materielles Asylgesuch herbeizuführen. Die Anzahl der sogenannten "refugees in orbit", also derjenigen Asylsuchenden, die sich zunächst ohne eine Entscheidung über ihren Schutzstatus erhalten zu haben auf dem Unionsgebiet aufhalten, soll möglichst gering gehalten werden (vgl. zu alldem u.a. die Vorbemerkung (5) zum Verordnungstext und EuGH, Urteil vom 26.07.2017, C-670/16 [Mengesteab], Celex-Nr. 62016CJ0670, juris Rn. 96).

31 Zur Durchsetzung dieses Ziels hat der Verordnungsgeber ein strenges Fristenregime etabliert, das den Mitgliedsstaaten zum einen auf der Ebene der Zuständigkeitsermittlung (vgl. etwa die Art. 21 Abs. 1; 23 Abs. 2; 22 Abs. 1 Dublin III-VO) und zum anderen auf der hier maßgeblichen Exekutivebene (Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO) lediglich sehr begrenzte Zeiträume zugesteht. Wird eine entsprechende Frist versäumt, wird grds. der ersuchende Mitgliedsstaat für die materielle Prüfung des jeweiligen Schutzersuchens zuständig. 32 So bestimmt auch Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO, dass eine Überstellung regelmäßig innerhalb von sechs Monaten nach der Feststellung des zuständigen Unionsstaates (entweder nach dessen (konkludenter) Zustimmung oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf) zu erfolgen hat. Der Verordnungsgeber sieht es damit als erforderlich, aber auch als ausreichend an, wenn dem ersuchenden Staat jeweils ein zusammenhängender Zeitraum von sechs Monaten zur Organisation und Durchführung der Überstellung zur Verfügung steht (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15/15 –, Rn. 11, juris unter Bezugnahme auf: EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 [Petrosian] –, Rn. 43 ff., juris). Die Möglichkeit, die Überstellungsfrist im Einzelfall auf bis zu achtzehn Monate zu verlängern (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Dublin III-VO) muss daher als restriktiv zu handhabende Ausnahme angesehen und angewandt werden.

33 b. Dies vorweggeschickt hätte die Beklagte zum Zeitpunkt der Kenntniserlangung vom neuen Wohnsitz des Klägers ihre seinerzeit getroffene Entscheidung zur Verlängerung der Überstellungsfrist revidieren und zum regulären, sechsmonatigen Fristenlauf zurückkehren müssen.

34 aa. Bei einer Entscheidung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO handelt es sich zunächst um einen Verwaltungsakt der Beklagten nach § 35 Satz 1 VwVfG und nicht um eine bloß zwischenstaatliche Klärung von Verfahrensfragen. Sie entfaltet gegenüber dem Kläger insbesondere eine unmittelbare Regelungswirkung dergestalt, dass seine Überstellung nach Italien nunmehr bis zum Ablauf der (erheblich) verlängerten Frist möglich ist, wodurch zugleich auch die Frage des für ihn zuständigen Unionsstaates in zeitlicher Hinsicht geregelt wird. Diese Regelungswirkung tritt auch unmittelbar bei dem Kläger als einer außerhalb der Verwaltung stehenden Person ein, ist also nicht auf den Binnenrechtskreis der beteiligten Behörden in der Bundesrepublik und Italien beschränkt. Auch aus diesem Grunde kann der Kläger eine Verletzung subjektiver Rechte ins Felde Führen und hiergegen in Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung des EuGHs im Kontext des Art. 27 Dublin III-VO die Gewährung effektiven Rechtsschutzes einfordern (vgl. auch: Funke-Kaiser in: GK-AsylG, Stand April 2017, § 29 Rn. 253).

35 bb. Hat die Beklagte einmal einen entsprechenden Verwaltungsakt in Ausübung des ihr durch Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 Dublin III-VO eröffneten Ermessens ("kann (...) höchstens") erlassen, trifft sie freilich auch die Pflicht, diesen Verwaltungsakt für die Dauer der von ihm ausgehenden Regelungswirkung fortlaufend und verfahrensbegleitend zu überprüfen und demnach insbesondere ihr Gestaltungsermessen den sich ggf. ändernden Umständen anzupassen, zumal das Gericht in seiner Entscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidungsfindung abzustellen hat (§ 77 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG - vgl. zur analogen Frage der verfahrensbegleitenden Ermessensüberprüfung im Kontext des § 11 AufenthG: BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 27/16 –, BVerwGE 157, 356-366, Rn. 23, juris). Selbst im Falle der Bestandskraft einer etwaigen Entscheidung würde sich diese Pflicht zur fortlaufenden Kontrolle der Ermessensfehlerhaftigkeit bzw. Rechtmäßigkeit i.Ü. aus den §§ 48; 49 VwVfG ergeben.

36 cc. Im zu entscheidenden Fall wurde der Beklagten (spätestens) mit elektronischer Post vom 27.04.2018 durch das Gericht mitgeteilt, dass der Kläger nunmehr in ... wohnhaft ist und daher an der genannten Adresse auch für aufenthaltsbeendende Maßnahmen durch die zuständige Ausländerbehörde erreichbar ist (Bl. 73 d.A.). Diese erhebliche Änderung der Sachlage hätte die Beklagte unmittelbar dazu veranlassen müssen, ihr Gestaltungsermessen im Hinblick auf die achtzehnmonatige Überstellungsfrist zu überprüfen und im Ergebnis zu revidieren. Die Passivität der Beklagten führt folglich zum Vorliegen eines i.S.d. § 114 Satz 1 VwGO beachtlichen Ermessensfehlers in der Gestalt des Ermessensausfalls, zumindest jedoch in der Gestalt eines Ermessensfehlgebrauchs.

37 Darüber hinaus ist das Gestaltungsermessen der Beklagten durch das bereits skizzierte Verordnungstelos auch derart verdichtet, dass kein anderes Ergebnis als die Rückkehr zu einer erneut sechsmonatigen Überstellungsfrist ermessensfehlerfrei gewesen wäre. Das Ermessen der Beklagten ist m.a.W. in diesen Fällen "auf null" reduziert und konnte daher nur noch in der benannten Weise ermessensfehlerfrei ausgeübt werden, welche dem Verordnungszweck zur maximalen Wirksamkeit verhilft. Die daher nochmals auf sechs Monate zu bemessende Überstellungsfrist wäre demnach mit Ablauf des 27.10.2018 (vgl. Art. 42 lit. b) und c) Dublin III-VO) ausgelaufen, was gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO zum Zuständigkeitsübergang auf die Beklagte geführt hat. Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger zwischenzeitlich erneut flüchtig oder sonst für die Ausländerbehörde unerreichbar gewesen wäre, sind weder vorgetragen, noch sonst ersichtlich. Es wäre also durchaus möglich gewesen, den Kläger innerhalb der nochmals voll zur Verfügung stehenden Sechsmonatsfrist nach Italien zu überstellen.

38 Soweit die Beklagte hiergegen anführt, dass eine Revision der einmal verlängerten Überstellungsfrist zu einer "Rechtsunsicherheit" führen würde, welche der Verordnungsgeber gerade habe vermeiden wollen, vermag das Gericht dieses Argument nicht nachzuvollziehen, da die Beklagte in Fällen wie dem hier zu entscheidenden durch eine erneute Entscheidung zum Ablauf der Überstellungsfrist abermals ein klar bestimmbares Fristende bestimmen würde. Auch lässt sich der Beginn des Fristenlaufs eindeutig auf dasjenige Datum bestimmen, zu dem die Beklagte positiv Kenntnis von einem "Wiederauftauchen" des Asylsuchenden erlangt hat (vgl. zu einer ähnlichen Problematik bereits: EuGH, Urteil vom 26.07.2017, C-670/16 [Mengesteab], Celex-Nr. 62016CJ0670, Rn. 103, juris).

39 Dem Gericht ist bewusst, dass der damit einhergehende Verwaltungsaufwand eine zusätzliche Belastung für die Beklagte bedeutet, diese ausschließlich praktischen Erwägungen sind jedoch nicht geeignet, das hinreichend skizzierte Telos der Dublin III-VO derart infrage zu stellen, dass man unbesehen, gewissermaßen aus Gründen der Praktikabilität, an einer einmal verlängerten Überstellungsfrist festhalten könnte.

40 Der Dublin III-VO lässt sich darüber hinaus auch kein wie auch immer gearteter Sanktionscharakter dergestalt entnehmen, dass ein einmal flüchtig gewesener Asylsuchender auch im Falle seines Wiederauftauchens bis zum Ablauf der auf achtzehn Monate verlängerten Überstellungsfrist abgeschoben werden könnte. Die Dublin III-VO erfüllt unter dem Dach des GEAS nämlich – nochmals – einzig und allein den Zweck, im Verordnungswege die Fragen der unionsstaatlichen Zuständigkeit und der Überstellung in diese Staaten zu regeln. Es handelt sich um eine rein "technische" Verordnung zur Regelung ausschließlich damit zusammenhängender Fragen, der eine mit spezial- oder generalpräventiver Absicht strafende oder sonst sanktionierende Regelung schon aus Kompetenzgründen fremd ist (vgl. hierzu neben den Vorbemerkungen zur Dublin III-VO auch Art. 1 Dublin III-VO und im Übrigen Art. 3 Abs. 2 EUV, sowie Art. 78 AEUV). Die Schaffung eines damit zusammenhängenden (Neben-)Strafrechts oder die Schaffung von Ordnungswidrigkeitstatbeständen obliegt auch nach wie vor ausschließlich den Nationalstaaten. Die Kompetenz der Union beschränkt sich in diesem Bereich auf besonders schwere Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension (vgl. Art. 83 Abs. 1 AEUV); sie kann allenfalls im Wege der Richtlinie eine Harmonisierung von strafrechtlichen Vorschriften vorantreiben, soweit dies unerlässlich für die wirksame Strafverfolgung in einem europarechtlich harmonisierten Bereich ist (Art. 83 Abs. 2 AEUV). [...]